Tierschutzpolitik der EU: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral

Der weltweit gestiegene Konsum von „Tierprodukten“ bestimmt die landwirtschaftspolitische und tierschutzpolitische Marschrichtung der Europäischen Union

Die Tierschutzpolitik der EU lässt sich kaum treffender beschreiben als mit dem bekannten Satz „Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral.“ von Bertolt Brecht. Der weltweit gestiegene Konsum von „Tierprodukten“ bestimmt natürlich die landwirtschaftspolitische und tierschutzpolitische Marschrichtung der Europäischen Union. Gemäß dem allgegenwärtigen Credo „Wachstum und Beschäftigung“ sind die Sicherung von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft, in den weiterverarbeitenden Nahrungsmittelbetrieben und im Handel sowie die sprudelnden Gewinne und Steuereinnahmen aus diesen Wirtschaftssektoren in den EU-Mitgliedstaaten Brüssel wichtiger als Tierschutzvorschriften, welche die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Produzenten gefährden könnten. Dementsprechend dienen die meisten europäischen Tierschutzverordnungen und Richtlinien mehr der sogenannten Tiergesundheit, dem Verbraucherschutz, der Nahrungsmittelsicherung und der Harmonisierung des Binnenmarktes als den Milliarden von „Nutztieren“, die pro Jahr in der EU ihrem „Daseinszweck“ zugeführt werden.

Aber nicht nur das politische Establishment degradiert empfindungsfähige Lebewesen zu landwirtschaftlichen Produktionseinheiten und bewertet ihre massenhafte Tötung als legitim – auch der Großteil der Gesellschaft sieht darin weder ein moralisches noch ein politisches Versagen, was sowohl von der „politischen Elite“ als auch von der Agrar-Industrie so gewollt ist.

Wie konnte es zu solchen Fehlentwicklungen kommen? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick in die Vergangenheit notwendig. Der menschliche Fortschritt fand seit jeher auf dem Rücken der Tiere statt. Schon vor zehntausenden von Jahren waren unsere steinzeitlichen Vorfahren für das Aussterben vieler Tierarten verantwortlich. Als die ersten Menschen vor rund 45.000 Jahren Australien erreichten, war das Schicksal von 90 Prozent der dort lebenden Großtiere besiegelt. Der Homo sapiens hatte begonnen, das Ökosystem des Planeten zu verändern. Vor etwa 15.000 Jahren kolonisierten Menschen Amerika und löschten dabei etwa 75 Prozent seiner großen Säugetiere aus. Zahlreiche andere Arten sind aus Europa, Afrika und aus Eurasien verschwunden. Insgesamt hat unsere Spezies es zustande gebracht, etwa 50 Prozent aller großen Säugetierarten auszurotten, bevor der erste Acker mit Feldfrüchten bepflanzt wurde.

Die neolithische Revolution – der Prozess, in dem sich unsere Vorfahren von nomadischen Jägern und Sammlern in Bauern verwandelten – brachte erstmals domestizierte Tiere hervor. Im Laufe der Zeit wurden „Nutztiere“ zur Norm. Heute werden mehr als 90 Prozent aller Großtiere auf unserem Planeten als domestizierte Tiere für den menschlichen Konsum genutzt. Die Verwendung von Tieren als Nahrungsmittel oder Lieferanten für Leder und Wolle hat also eine sehr lange Tradition. Ein Hinterfragen dieser Tradition seitens der Gesellschaft hat erst vor wenigen Jahrzehnten begonnen.

Die Intensivtierhaltung ist ein relativ neues Phänomen. Sie wird in den meisten Mitgliedstaaten der EU erst seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts betrieben. Die Massentierhaltung wurde vor allem durch die Entdeckung des Penizillins und in Folge anderer Antibiotika möglich, aber auch durch den Import großer Mengen Futtermittel aus Regionen außerhalb Europas. Nun konnten „Nutztiere“ extremen Lebensbedingungen ausgesetzt werden. Mit Hilfe von Impfungen, dem Einsatz von Antibiotika und anderen Medikamenten, Parasitiziden, Hormonen, brutalen Verstümmelungen, zentralen Klimaanlagen, Futterautomaten oder computergesteuerten Melkstationen ist es möglich geworden, zehntausende von Tieren auf kleinster Fläche zu halten und Fleisch, Milch oder Eier mit beispielloser Effizienz zu produzieren.

Die Ernährungsgewohnheiten der Konsumenten wurden durch billige „Tierprodukte“ und gezielte Werbemaßnahmen der Erzeuger verändert – ganz im Sinne der Landwirtschaft, der Lebensmittelkonzerne und der Politik, die mit Agrarsubventionen diese Fehlentwicklung zwecks Marktstabilisierung sogar noch befeuerte. Mit dem Bild des idyllischen Bauernhofes mit glücklichen Tieren wurden und werden die Konsumenten verdummt. Aus Bauernhöfen wurden Tierfabriken, deren grausame Produktionsmethoden einzig und allein der Profitmaximierung dienen. Damit ist die Ausgangsfrage beantwortet: Zum einen ist das Mensch-Tier-Verhältnis unserer Zeit durch die traditionelle Nutzung des Tieres geprägt, zum anderen durch die Zielsetzungen der Landwirtschaftspolitik.

Was das Dasein der „Nutztiere“ besonders grausam macht, ist nicht nur die Art und Weise, wie sie sterben, sondern vor allem, wie sie leben.
Sie werden in winzigen Käfigen eingesperrt, Hörner und Schwänze verstümmelt, Mütter vom Nachwuchs getrennt, zahlreiche Krankheiten durch auf Ertragseffizienz getrimmte Züchtungen in Kauf genommen und ein Ausleben ihrer angeborenen Bedürfnisse gezielt verhindert. All dies ist im wahrsten Sinne des Wortes Tierquälerei. Es ist das schlimmste Verbrechen unserer Gesellschaft, die von sich behauptet, zivilisiert zu sein.
Dass immer mehr Menschen dies als Skandal empfinden, ist die Folge einer an sich höchst erfreulichen Wende der moralischen, rechtlichen und ethischen Bewertung des Tieres. Wir haben zunehmend gelernt, die Mensch-Tier-Verhältnisse nicht mehr primär aus den Interessen des Menschen, sondern aus der mutmaßlichen Perspektive des Tieres zu bewerten. Allerdings hat diese Entwicklung kaum Einfluss auf die Praktiken der industriellen Landwirtschaft gebracht, denn dies würde den Profit einiger Weniger minimieren … Selbst Enthüllungsdokumentationen im Fernsehen, in denen das Innere von Schweine-, Hühner-, Kaninchen- oder Putenställen gezeigt wurde, hatte keine politische Initiative erzeugt, um diese legale Tierquälerei zu beenden. Das Gegenteil scheint seitens der Großen Koalition der Fall zu sein.

Verschiedene Umfragen und Studien belegen, dass es den Konsumenten durchaus wichtig ist, wie das Tier gelebt hat, dessen Fleisch sie essen. Doch in den Institutionen der EU, im Bundestag und auch in der Agrarwissenschaft ist man von diesem gesellschaftlichen Wandel unbeeindruckt. Der Wille der tierfreundlichen Bürger interessiert einfach nicht.

Unzureichender Tierschutz in der Landwirtschaft ist heutzutage die Folge ökonomischen Drucks durch die Weltmarktorientierung des europäischen Agrarsektors. Steigende Standards bei der Fleisch- und Milchproduktion durch politische Vorgaben führen dazu, dass die europäischen Bauern am Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig sind. Da bei Überproduktion und gleichzeitig sinkender Bevölkerung in Europa der Export für die Branche von äußerster Bedeutung ist, wehrt sich die Agrarindustrie vehement und in der Regel sehr erfolgreich gegen höhere Tierschutzstandards. Alles wird für den Profit in Kauf genommen!

Der Einfluss der Lobbyisten der Landwirtschaftsverbände in Berlin und Brüssel ist immens, was zu einem Totalversagen der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) geführt hat. Auch bei der groß angekündigten Reform der GAP dürften die Landwirtschaftsverbände ihre Interessen wieder einmal durchgesetzt haben.

Die EU geht wie immer am Gängelband der europäischen Bauern und verdrängt im Zusammenhang mit der Fleisch- und Milchproduktion, dass in einer globalisierten Weltgemeinschaft das eigene Verhalten globale Auswirkungen hat – und zwar auf Mensch und Umwelt und auf andere Länder und Kontinente.  Der seelenlose Umgang des Menschen mit Natur und Tier zerstört unsere menschlichen Lebensgrundlagen: Angesichts von Massentierhaltung und einem Artensterben ungeahnten Ausmaßes stehen wir dringender denn je vor der Herausforderung, Tieren einen anderen Stellenwert einzuräumen. Tun wir das nicht, dann sägen wir am Ast, auf dem wir selbst sitzen. An dieser Stelle möchte ich erneut Bertolt Brecht zitieren: „Und sie sägten an den Ästen, auf denen sie saßen und schrien sich ihre Erfahrungen zu, wie man besser sägen könne. Und fuhren mit Krachen in die Tiefe. Und die ihnen zusahen beim Sägen schüttelten die Köpfe und sägten kräftig weiter.“

Der Konsum von „Tierprodukten“ ist keine reine Privatsache mehr. Daher sollten wir ihn in einen größeren Zusammenhang setzen und immer wieder neu entscheiden, wie wir leben wollen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten könnten durch gezielte Maßnahmen und Gesetze Einfluss auf die Produktionsmenge und die Produktionsweise von Fleisch, Milch und Eiern nehmen.  Sie ist jedoch noch meilenweit davon entfernt. Wenn es um Tiere geht, lautet das Credo der EU nach wie vor: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral!

Ein Artikel von Stefan Eck

Stefan Eck

Stefan Eck ist parteiloser Abgeordneter in der GUE/NGL-Fraktion des Europäischen Parlaments. Von September 2007 bis Ende 2014 war er Bundesvorsitzender der Tierschutzpartei. Im EU-Parlament ist er u.a. Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und stellvertendes Mitglied im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung.

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