Europas extreme Rechte sucht ein Parlamentsdach

Trotz aller Zwistigkeiten untereinander könnten die Rechtsparteien im EU-Parlament eine der stärksten Fraktionen bilden – wenn nicht gar die stärkste

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Ob Großbritannien noch vor den Wahlen den Brexit vollzieht oder ob es doch noch an den Europawahlen teilnimmt, macht für die Zusammensetzung und damit für die Arbeitsfähigkeit des künftigen Europäischen Parlaments einen erheblichen Unterschied. Die tiefe politische Krise in Großbritannien, die durch den Brexit sichtbar geworden ist, könnte im Falle einer Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl in einer Weise, mit der niemand bisher gerechnet hat, auf die EU ausstrahlen, wenn es gleichzeitig der (extremen) Rechten gelänge, sich zu einer gemeinsamen neuen Fraktion zu vereinigen.

Nigel Farage verfolgte mit seiner „United Kingdom Independent Party“ (UKIP) das Ziel, die EU zu zerstören. Dieses Ziel spiegelt sich auch in dem Namen der Fraktion, die Farage um UKIP herum im Europaparlament (EP) aufgebaut hat: „Europe of Freedom and Direct Democracy“ (EFDD = Europa der Freiheit und der direkten Demokratie). Von dieser Linie scheinen sich die anderen rechten Parteien innerhalb der EU nun rhetorisch zu verabschieden. Statt dessen wollen sie nun die Schaltzentralen der EU besetzen, um anschließend die EU nach ihren Vorstellungen umzubauen.

In diesem Sinne bemüht sich der italienische Innenminister, Parteichef der Lega und Populist Matteo Salvini, die (extrem) rechten Parteien im Europäischen Parlament möglichst zu einer Fraktion zu verschmelzen. Am 8. April 2019 lud Salvini Vertreter solcher Parteien nach Mailand ein. In Kooperation mit der deutschen AfD hat die italienische Lega zur Vorbereitung dieses Ziels die „Allianz der Europäischen Völker und Nationen“ gegründet.

Ob es aber gelingt, alle (extrem) rechten Parteien, die im Europäischen Parlament (EP) vertreten sind, unter diesem Dach zu vereinen und zur stärksten Fraktion im EP zu machen, ist eher fraglich. Die Resonanz auf die Einladung von Salvini war zumindest sehr zurückhaltend: Nur vier der extrem rechten Parteien waren der Einladung nach Mailand gefolgt.

Bisher verteilen sich die (extrem) rechten Parteien im EP auf drei Fraktionen: Die EKR (Europäische Konservative und Reformisten mit u.a. den Tories, der polnischen PiS-Partei, der niederländischen CU und der belgischen N-VA), die ENF (Europa der Nationen und der Freiheit mit u.a. dem französischen RN, der Lega, der niederländischen PVV, dem belgischen Vlaams Belang und der österreichischen FPÖ) und die EFDD (Europa der Freiheit und der direkten Demokratie mit u.a. UKIP, AfD und der neuen Partei von Nigel Farage „The Brexit Party“). Zusätzlich gibt es noch einige Vertreter*innen (extrem) rechter Parteien in der Gruppe der unabhängigen Abgeordneten, die sich aus verschiedenen Gründen keiner Fraktion anschließen wollen.

Die EKR ist unter diesen drei Fraktion die gemäßigtere. Ihr schwebt eher eine EU als Freihandelszone vor. Die Mitgliedsparteien der ENF teilen vor allem einen ausgeprägten Rassismus, während die Mitgliedsparteien der EFDD die EU als solche zur Disposition stellen.

Große Differenzen unter Parteien der extremen Rechten

Ob diese durchaus unterschiedlichen Programmatiken tatsächlich unter einem gemeinsamen Dach zusammengefasst werden können, ist zweifelhaft. Der Rassismus der ENF geht nur schwer zusammen mit einer Freihandelszone und ebenso wenig passt ein fragmentiertes Europa der EFDD zu einer Freihandelszone. Auch wenn die EKR eine politische Integration der EU ablehnt, erfordert die von ihr durchaus gewollte wirtschaftliche Zusammenarbeit ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt und auch ein Mindestmaß an wirtschaftlicher und politischer Vernetzung.

Kommt es tatsächlich zum Brexit (aktuell kann man sich da nicht mehr so sicher sein), dann sähe die Situation etwas anders aus. Die EFDD würde aufgrund des Ausscheidens von UKIP als eigenständige Fraktion voraussichtlich nicht weiter existieren können (nach der Geschäftsordnung des EP muss eine Fraktion mindestens 25 Mitglieder aus einem Viertel der EU-Mitgliedsländer haben). Der Charakter der EKR dürfte sich aufgrund des Ausscheidens der dominierenden Tories verändern, aber anders als die EFDD ist sie nicht in ihrer Existenz gefährdet. Die ENF bleibt mit nur vier britischen Abgeordneten vom Brexit weitgehend verschont. EKR und ENF liegen nach einer Umfrage vom 4. März 2019 [https://www.foederalist.eu/p/europawahl-umfragen.html] bei 58 (EKR) bzw. 59 (ENF) Sitzen. Aber auch diese Konstellation ist nicht frei von programmatischen Spannungen, die in einer gemeinsamen Fraktion einzuhegen wären.

Eine gemeinsame rechte EP-Fraktion hätte allerdings noch mit einem anderen Problem zurechtzukommen. In einer solchen Fraktion wären in einigen Fällen mehr als eine Partei aus einem Mitgliedsland vertreten. So etwa aus den Niederlanden die CU und die PVV, aus Belgien die N-VA und der Vlaams Belang, aus Frankreich RN und DLF, aus Großbritannien die Tories, UKIP und The Brexit Party (vorausgesetzt, Großbritannien nimmt an der nächsten Europawahl tatsächlich teil). In ihren Herkunftsländern stehen diese Parteien in teils scharfer scharfer Konkurrenz zueinander. Mit den daraus resultierenden Spannungen umzugehen, ist eine beachtliche Herausforderung. Nur wenn es gelänge, diese Spannungen zu kontrollieren und auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, könnte eine solche Fraktion das nötige Potential entwickeln, um einen richtungsweisenden Einfluss auf das EP auszuüben. Da im EP kein Fraktionszwang besteht und ein solcher auch kaum durchzusetzen wäre, könnten derartige Spannungen schnell dazu führen, dass die Parteien einer solchen Fraktion mit festem Blick auf ihre nationalen Wählerschaften und die Konkurrenzen untereinander sehr gesplittet abstimmen und ihren Einfluss damit verspielen. Bei der traditionellen Zersplitterung (extrem) rechter Parteien scheint es eher unwahrscheinlich, dass eine gemeinsame EP-Fraktion diese Spannung in den Griff bekäme.

Eine andere Frage ist die zahlenmäßige Entwicklung der (extrem) rechten Parteien im Europaparlament. Nimmt Großbritannien – wie zunächst als gesetzt erschien – aufgrund des Brexits nicht an der nächsten Europawahl teil, dann würden die Zuwächse extrem-rechter Parteien in anderen EU-Mitgliedsländer teilweise neutralisiert durch das Ausscheiden der derzeit 40 britischen Mitglieder in einer der drei Rechtsfraktionen (von insgesamt 73 britischen MdEP). Nähme Großbritannien aber doch an den Wahlen teil – danach sieht es derzeit aus – dann würde der Block (extrem) rechter Parteien deutlich größer werden.

Nach einer neuen Prognose des Europäischen Parlaments, die eine Teilnahme Großbritannien an den Europawahlen unterstellt, über die der Wiener „Standard“ am 18. April 2019 [https://derstandard.at/2000101689795/EU-Wahl-Prognose-EVP-auch-bei-Briten-Teilnahme-vor-SPE] berichtete, sähe die Zusammensetzung des EP so aus: EPP 180 Sitze, S&D 149 Sitze, ALDE 76 Sitze, Grüne/EFA 57 Sitze, GUE/NGL (Linke) 46 Sitze, EKR 66 Sitze, EFDD 45 Sitze, ENF 62 Sitze und Fraktionslose 70 Sitze. Gelänge der Plan von Salvini, die drei (extrem) rechten Parteien in einer Fraktion zu vereinigen, dann hätte diese Fraktion 173 Sitze (= 23,03 %) und wäre nach der EVP die zweitstärkste Fraktion im EP. Die Sozialdemokraten würden auf Platz drei zurückfallen.

Wohin geht Fidesz?

Noch dramatischer sähe es aus, sollte sich die ungarische Partei Fidesz (derzeit 12 Sitze, die aktuelle EP-Prognose geht von 13 Sitzen für Fidesz nach der EU-Wahl aus) infolge der Aussetzung ihrer Mitgliedschaft in der EVP einer der (extrem) rechten Fraktionen anschließen. Käme es tatsächlich zu einer gemeinsamen Fraktion à la Salvini, käme diese mit Fidesz sogar auf 186 (statt 173) Sitze (= 24,76 %). Gleichzeitig würde sich die Zahl der Sitze der EVP von 180 auf 167 reduzieren. Damit wäre dann die neue rechte Fraktion mit einigem Abstand die stärkste Fraktion im EP.

Angesichts dieser Möglichkeit ist das zögerliche Umgehen der EVP mit Fidesz nicht nur nachvollziehbar, sondern aus demokratischer Sicht auch als durchaus verantwortlich einzustufen. Denn die stärkste EP-Fraktion wird den Anspruch auf das Amt des Präsidenten der EU-Kommission und des Parlamentspräsidenten stellen und möglicherweise auch durchsetzen, wenngleich das ohne Unterstützung anderer Fraktionen schwierig werden dürfte. Wer also die EVP drängt, sich von Fidesz zu trennen, muss wissen, dass er derzeit damit den Rechten in die Hände spielt.

Unter der Annahme, dass Großbritannien nicht an der Wahl im Mai teilnimmt kommt die Umfrage vom 4. März 2019 derzeit auf 128 Sitze (von insgesamt 705) für EKR, AfD (derzeit keiner Fraktion zugeordnet) und ENF. Das wären 18,15 % der Sitze. Die Umfrage weist 10 Fraktionslose und 50 weitere aus, deren Zuordnung derzeit noch unklar ist. Dazu gehören Piraten, die 5-Sterne-Bewegung (18 Sitze) aus Italien, aber auch die neue rechte Partei aus Spanien, Vox (7 Sitze). Wohin sich die 5-Sterne-Bewegung, die derzeit auf mehrere Fraktionen aufsplittet, ist unklar. Unter dieser Konstellation dürfte der Anteil (extrem) rechter Parteien im neu gewählten EP um 20 % liegen.

Ob Großbritannien also noch vor den Wahlen den Brexit vollzieht oder ob es doch noch an den Europawahlen teilnimmt, macht für die Zusammensetzung und damit für die Arbeitsfähigkeit des künftigen Europäischen Parlaments einen erheblichen Unterschied. Die tiefe politische Krise in Großbritannien, die durch den Brexit sichtbar geworden ist, könnte im Falle einer Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl in einer Weise, mit der niemand bisher gerechnet hat, auf die EU ausstrahlen, wenn es gleichzeitig der (extremen) Rechten gelänge, sich zu einer gemeinsamen neuen Fraktion zu vereinigen.

Wie dramatisch die gegenwärtige Entwicklung ist, zeigt Einblick auf die zurückliegenden Wahlperioden des EP. In der 6. Wahlperiode (2004-2009) hatte das EP lediglich zwei kleine rechte Fraktionen: Die UEN (Union für das Europa der Nationen) und die Ind/Dem (Independence/Democracy Group = Fraktion Unabhängigkeit/Demokratie) mit zusammen 64 Sitzen (= 8,8 % von 732 Sitzen in 2004) bzw. 66 Sitzen (= 8,4 % von 785 Sitzen in 2009; die Größenunterschiede des EP zwischen 2004 und 2009 resultieren aus dem EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien in 2007).

In der 4. und 5. Wahlperioden lag der Anteil rechter Fraktionen im EP um 10 %. In der 2. und 3. Wahlperiode zwischen 3 % und 4 %. In der 1. Wahlperiode gab es überhaupt keine rechte Fraktion im EP. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Europäisches_Parlament)

In der 7. Wahlperiode des EP (2009-2014) stieg der Anteil (extrem) rechter Parteien auf 11,7 % der mittlerweile auf 751 Sitze festgelegten Größe des EP. Das entsprach 88 Sitzen, davon hielt die 2009 von der EVP abgespaltene EKR 57 Sitze und die 2009 gegründete EFD (Europa der Freiheit und der Demokratie) 31.

In der 8.Wahlperiode (2014-2019) stieg der Stimmenanteil der (extrem) rechten Parteien im EP auf 20,5 % an, was 154 Sitzen entspricht: 76 für die EKR, 41 EFDD (= die 2014 gegründete Nachfolgefraktion der EFD) und 37 für die 2014 gegründete ENF.

Woher kommt der Aufschwung der Rechtsparteien im Europaparlament?

Wie lässt sich diese rasante Entwicklung (extrem) rechter Parteien bzw. Fraktionen im EP erklären? Eine zentrale Rolle spielt die 2008/09 begonnene EU-Krise. Die Krise ist keineswegs – wie in Deutschland gerne unterstellt – durch Länder wie Griechenland, Portugal, Irland oder Zypern ausgelöst worden. Ausgelöst wurde die Krise vielmehr durch die vorläufige und fehlerhafte Konstruktion des Euroraums bzw. dadurch, dass die Behebung der Konstruktionsfehler nach der Einführung des Euro in den Folgejahren nicht angegangen wurden.

In der 7. Wahlperiode (2009-2014) kam es aufgrund der EU-Krise zu einer relativen strikten Re-Regulierung der EU-Finanzmärkte, die zu einer Zentralisierung der Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene geführt hat. Ihre sichtbarste Ausprägung hat diese Zentralisierung in dem 2012 neben den EU-Verträgen als zwischenstaatliche Regelung der EU-Mitgliedsländer eingerichteten Euro-Stabilitätspakt (bzw. Fiskalpakt) und in dem sogenannten „Europäischen Semester“ gefunden. Im Rahmen des „Europäischen Semesters“ müssen die EU-Mitgliedsländer jährlich ihre Haushalte der EU-Kommission vorlegen. Die nimmt dann länderspezifische Kommentierungen der Haushalte vor und schlägt korrigierende Maßnahmen für die Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedsländer vor, die anschließend vom EU-Rat beschlossen werden. Der Einfluss des EP auf diesen Prozess ist derzeit begrenzt, wenngleich das EP auch eingebunden ist in den Prozess.

Dieser aus währungspolitischer Sicht im Grundsatz richtigen und nötigen Politikkoordination ging aber kein Diskussionsprozess über eine Weiterentwicklung der Struktur der EU voraus. Gab es in den 1990er Jahren noch eine breite Debatte über ein Europa der Regionen, wurde nun ohne Debatte einfach eine wirtschaftspolitische Zentralisierung innerhalb der EU durchgesetzt. Eine kompensierende Sozialpolitik wurde dabei vernachlässigt. Gleichzeitig kam es infolge der Krise zu massiven sozialen Verwerfungen innerhalb vieler EU-Mitgliedsländer. An den Folgen dieser Krisenpolitik, die vor allem aus Berlin – mit Unterstützung einiger nordwesteuropäischer Mitgliedsländer – vorangetrieben wurde, krankt die EU bis heute.

Das zweite große ungelöste Thema ist die Migration. Bezogen auf die Gesamteinwohnerzahl und auf den gesamten Reichtum der EU ist die Migration keine nennenswerte politische Herausforderung für die EU. Die Verantwortung für die praktische Handhabung der Migration ist aber infolge des Dublin-Abkommens auf wenige EU-Mitgliedsländer konzentriert – insbesondere Italien und Griechenland –, die zudem ökonomisch stark unter Druck stehen. Allerdings geht es nicht nur um die Migration aus Drittländern in die EU sondern ebenso um die Binnenmigration innerhalb der EU.

Konservative und Sozialdemokraten mit politischen Leer-Stellen

Weder die EVP noch die europäischen Sozialdemokraten haben auf die Fragen, die sich aus den skizzierten Entwicklungen seit Beginn der Krise ergeben haben, eine schlüssige Antwort entwickelt. Unter der Dominanz der Bundesregierung hat sich der konservative Flügel auf‘ ein Durchwurschteln à la Merkel konzentriert. Und die Sozialdemokraten leiden europaweit unter Mutlosigkeit sowie unter Ratlosigkeit angesichts ihres voranschreitenden Bedeutungsverlustes im Zuge des Strukturwandels der Industriegesellschaften zu Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften.

Die politischen Leer-Stellen, die EVP und Sozialdemokraten produzieren, haben derweil rechte Populisten mit ihren Vorstellungen und Antworten gefüllt: Zurück zur Nation hinter hohen und massiven Grenzzäunen. Dass das – gerade auch angesichts der Digitalisierung und angesichts des Brexit-Chaos – keine tragfähigen Antworten sind, interessiert verunsicherte Wähler*innen offensichtlich zunächst einmal wenig. Entscheidend ist, dass ihnen eine Orientierung angeboten wird.

Schaut man sich die europapolitischen Positionen und den Wahlkampf von CDU/CSU und SPD an, dann besteht keine allzu große Hoffnung, dass dieser politische Zustand sich schnell ändert. Reformvorschläge aus Paris werden regelmäßig in Berlin ausgebremst, ohne dass aus Berlin eigene weiterführende Vorschläge auf den Tisch gelegt werden. Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer hat kürzlich einer dringend erforderlichen europäischen Sozialpolitik eine klare Absage erteilt – obgleich die EU-Kommission sich seit 2015 in heftiger Auseinandersetzung mit den Mitgliedsländern mit dem Aufbau einer sozialen Säule der EU abmüht. Der zunächst vielversprechende Start der SPD in den Europawahlkampf mit Katharina Barley leidet mittlerweile unter dem Desaster ihrer Zustimmung als Justizministerin zur EU-Urheberrechtsrichtlinie trotz gegenteiliger Vereinbarungen im Koalitionsvertrag. Ebenso schwächt die Vorstellung der CDU, man könne in Deutschland Sonderregelungen bei der Umsetzung dieser Richtlinie treffen, um für Jungwähler*innen attraktiv zu bleiben, die EU weiter.

Aber auch die (gesellschaftliche) Linke hat ihren Anteil an dem Erstarken der Rechten in Europa. Zu lange hat sie sich an (De-)Legitimierungsdebatten über die EU beteiligt, statt sich auf eine demokratische und soziale Weiterentwicklung der EU zu konzentrieren. Auf dem Europa-Parteitag der Partei DIE LINKE Anfang 2019 waren die Debatten zwar deutlich moderater und konstruktiver als noch vor ein paar Jahren. Doch diese Entwicklung kommt zu spät und sie ist noch immer zu uneindeutig und zu widersprüchlich.

Dem Rechtsruck innerhalb der EU und damit der Gefahr eines Scheiterns der EU kann man nur mit einer klaren und überzeugenden Antwort auf die Frage entgegentreten, wozu die EU gut ist. Gute Gründe für die EU gibt es genug. Aber sie müssen für die Bürger*innen nachvollziehbar erklärt werden, so dass sie sich auch zukünftig auf die EU einlassen können und wollen.

Eine EU, die nur aus einer wirtschaftlichen Säule besteht, wird auf Dauer nicht überlebensfähig sein. Die EU braucht dringend eine gleich starke soziale Säule und auch eine starke kulturpolitische Säule.

Im Sinne eines demokratischen Fortschrittes ist es ebenso drängend, eine Debatte über die politische Struktur der EU zu führen: Welche und wie viele politische Handlungsebenen braucht die EU? Welche politischen Entscheidungskompetenzen werden auf welcher politischen Handlungsebene angesiedelt und wie arbeiten die Handlungsebenen zusammen? Folgt die EU den eher straffen Hierarchien eines klassischen Zentralstaates, wie z.B. dem klassischen französischen Modell, oder muss nicht im Zuge der Digitalisierung auch eine staatliche Struktur stärker netzwerkförmig organisiert sein mit durchlässigen Grenzen? Wie könnte eine solche netzwerkförmige staatliche Struktur aussehen? Wie ist in einer solchen Struktur das staatliche Machtmonopol – also die innere und äußere Sicherheit – demokratisch zu organisieren?

Solange sich die demokratischen Parteien diesen Themen und dem Dialog mit den Bürger*innen über diese Themen verweigern, überlassen sie den (extrem) rechten Parteien das Feld, arbeiten ihnen zu und gehen das Risiko ein, dass die EU über kurz oder lang scheitert.

Ein Artikel von Jürgen Klute

Jürgen Klute

Jürgen Klute ist Theologe und Europapolitiker. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des EU-Parlaments (Delegation DIE LINKE). Jürgen Klute betreibt die Internetseite europa.blog. Er publiziert insbesondere zu Themen wie linke Kräfte in Europa und zur Rechtsentwicklung in der EU. (Foto: © Uli Winkler)

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