Europa muss ambitionierter werden

Die EU braucht ein Umdenken in der Fiskalpolitik. Die wirtschaftliche Erholung nach der Krise  wird nicht durch einen Sparkurs befördert, sondern durch eine öffentliche Investitionsoffensive. Ein Gastbeitrag von Klaus Lederer

© imago images

Im Rahmen des 2011 eingeführten Europäischen Semesters sollen die Mitgliedstaaten ganzjährig ihre Wirtschaftspolitik koordinieren. Im Mittelpunkt dieser Koordinierung stehen seither Haushaltskonsolidierung und wettbewerbsförderliche Strukturen, die Konvergenz und Stabilität in der EU garantieren sollen.

Diese einseitige Betrachtung von rein ökonomische Größen wurde mit der Einbindung der Europäischen Säule sozialen Rechte in das Europäische Semester 2017 teilweise korrigiert. Dem Europäischen Semester wurden die Grundsätze und Ziele der Europäischen Säule sozialer Rechte als Bezugspunkt für die weitere Durchführung hinzugefügt und mit dem Social Scoreboard wurde das bislang konkreteste Instrument zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte geschaffen.

Das Social Scoreboard dient aber nicht nur als Referenzrahmen, sondern auch als Grundlage für ein umfassendes und plakativ nutzbares sozialpolitisches Ranking der Mitgliedstaaten, dessen Potenzial noch nicht ausgeschöpft wird.
Ohne Zweifel sind die Einbindung der Europäischen Säule sozialer Rechte und die Einführung des Social Scoreboards Meilensteine für die sozialpolitische Entwicklung der Europäischen Union, und dennoch reicht diese positive Entwicklung angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen nicht aus.

Es reicht nicht aus, lediglich die Abweichungen vom europäischen Durchschnitt zu beobachten, wenn die soziale Divergenz in Europa tatsächlich überwunden werden soll. Es braucht gemeinsame Ziele und vereinbarte Mindeststandards. Nicht zuletzt sollte Europa angesichts der aktuellen Herausforderung durch die weltweite Covid19-Pandemie seine Lehren aus der vergangenen Wirtschafts- und Finanzkrise ziehen.

Noch heute besteht dringender Handlungsbedarf bei der Bewältigung der sozialen Folgen der Krise 2008, denn mit der viel beschworene Austeritätspolitik der vergangenen Jahre wurde massiver sozialer Rückbau betrieben. Viele Menschen in Griechenland, Spanien und in anderen Mitgliedstaaten leiden noch heute unter den sozialen Folgen der Krise – und die aktuelle Pandemie trifft sie daher besonders hart.

Angesichts der zu erwartenden weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise darf nicht wieder zu einer deflatorischen Politik gegriffen werden. Für die Eurozone und für die Europäische Union in ihrer Gesamtheit zeichnete die Europäische Kommission bei der Vorlage der Frühjahrsprognose am 6. Mai in Brüssel das Bild einer schweren wirtschaftlichen Rezession. Danach geht sie in 2020 von einem Rückgang des BIP in der Eurozone um -7,5% und für die EU von – 6,25% aus. Und sie rechnet mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote für die Eurozone um 7,5% in der Eurozone in 2020 bzw. um 9,5% in 2021. Zahlen, die vor Augen führen, dass entschlossenes Handeln auf europäischer Ebene notwendig ist und dass Europa solide und robuste Gesundheits- und Sozialsysteme braucht, die die Menschen vor unverschuldeter Arbeitslosigkeit schützt und den Gesundheitsschutz für alle garantiert.

Um die mit der Pandemie verbundenen wirtschaftlichen und vor allem sozialen Folgen in der EU abzufedern, braucht es ein entschlossenes und umfassendes Maßnahmenpaket. Ein Schritt in die richtige Richtung war das umfangreiche vom Europäischen Rat am 23. April verabschiedete Hilfspaket im Umfang von 500 Mrd. EUR, das nicht allein finanzielle Hilfe für die besonders von der Pandemie betroffenen Mitgliedstaaten über den ESM bereithält, sondern auch Hilfe für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen.

Hervorzuheben ist hier das neue Instrument zur finanziellen Absicherung der Kurzarbeitersysteme in den Mitgliedstaaten namens SURE, das mindestens in den nächsten zweieinhalb Jahren den besonders bedürftigen Staaten bei der Finanzierung ihrer Kurzarbeitersysteme helfen wird und somit als automatischer Stabilisator fungiert.

Es bleibt zu hoffen, dass damit die Ankündigung der neuen Kommission unter Präsidentin von der Leyen bis Ende des Jahres einen Vorschlag für eine Arbeitslosenrückversicherung vorzulegen, nicht mit weniger Nachdruck verfolgt wird.

Aber es bedarf noch weiterer Schritte, um die Mitgliedstaaten wieder auf einen Pfad der wirtschaftlichen Erholung zu führen. Die Ankündigung der Kommission, ihren Vorschlag für den mehrjährigen Finanzrahmen ab 2021 zu überarbeiten und neu auszurichten und dies mit der Schaffung eines Wiederaufbaufonds für die EU zu verbinden, erachten wir daher als notwendig und folgerichtig.

Die Pandemie hat zwar alle Mitgliedstaaten gleichermaßen getroffen, aber der wirtschaftliche Aufschwung in den Mitgliedstaaten hängt auch von der Struktur der jeweiligen Volkswirtschaft und deren Fähigkeit mit stabilitätspolitischen Maßnahmen zu reagieren, ab. Und hier verfügen eben nicht alle Mitgliedstaaten über die gleichen Ressourcen um ihre Wirtschaft wiederzubeleben und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sozial abzusichern.

Der neue Vorschlag für den mehrjährigen Finanzrahmen und der Wiederaufbaufonds wird sich daher auch daran messen lassen müssen, inwieweit er dazu beiträgt, den Zusammenhalt des europäischen Binnenmarktes und vor allem der Wirtschafts- und Währungsunion sicherzustellen. Die Pandemie hat nämlich die bereits vorhandenen Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten weiter verstärkt.
Hierbei kann und muss eine mit ausreichenden Finanzmitteln ausgestattete Kohäsionspolitik – auch für die weiterentwickelten Regionen – eine bewährte und gute Rolle spielen, um die soziale und wirtschaftliche Kohäsion in der EU sicherzustellen.

Die Bekämpfung der Pandemie und die gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Folgen stellt Europa und stellt die Europäische Union vor die wohl größte Herausforderung seit Jahrzehnten. Damals wie heute gilt: Nationale Alleingänge schwächen den europäischen Zusammenhalt und die Handlungsmöglichkeiten der europäischen Ebene im Interesse Aller.
Es braucht ein gemeinsames Vorgehen, um den Wiederaufbau Europa nachhaltig und sozial voranzutreiben und die Auswirkungen der Pandemie und ihrer Krise wirksam zu bewältigen. Gerade in der Krise gilt es nationale Egoismen zu überwinden und perspektivisch mehr europäische Integration anzustreben, auch um für zukünftige Krisen gewappnet zu sein. Dazu gehört, die Folgen der Krise gesamteuropäisch solidarisch abzufedern und die Resilienz in krisenrelevanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche der Staaten zu stärken. Letzteres vor allem getragen von einer gesamteuropäischen Investitionsoffensive in die öffentlichen Bereiche. Die Pandemie zeigt, dass es hier insbesondere umfassende Investitionen in die Gesundheitssysteme der Länder insbesondere in den Öffentlichen Gesundheitsdienst braucht.

Die Pandemie offenbart, wie fatal Kürzungen in den Gesundheitsbereichen bis heute waren und noch immer sind. Daraus müssen wir lernen und uns diese Erfahrungen zu Nutze machen. Die gegenwärtige Situation gibt uns die Chance, den fiskalpolitischen Rahmen der EU auf den Prüfstand zu stellen.
Dieser hat die letzten Dekaden dazu beigetragen, die sozialen Ungleichheiten in der Europäischen Union zu befördern, hat Eingriffe in Gestalt von Kürzungen in den sozialen Sicherungs- und Gesundheitssysteme der Staaten und Privatisierung von öffentlichen Bereichen befördert – auch der Prozess des Europäischen Semesters hat dies seit 2011 maßgeblich begleitet.

Seit der Einführung des Europäischen Semesters forderte die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten zur Durchführung von zahlreichen Strukturreformen auf, gravierende Einschnitte in die öffentlichen Versorgungssysteme der Länder resultierten daraus. Dazu zählen neben Aufforderungen zur Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters (insgesamt 105 Mal) auch Kürzungen öffentlicher Ausgaben für Renten oder Altersvorsorge – und vor allem die Aufforderung an Regierungen, die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung massiv zu senken beziehungsweise Gesundheitsdienstleistungen zu privatisieren (insgesamt 63 Mal) oder Lohnwachstum zu unterdrücken (50 Mal).

Diese betroffenen Bereiche sind gerade in einer Krise, wie wir sie aktuell haben, wichtige Stützpfeiler einer solidarischen Gesellschaft.
Wir kennen die Bilder der Krise aus überfüllten Krankenhäusern. Wir kennen die Bilder des Pflegepersonals am Limit ihrer Kräfte, wir kennen vor allem die Bilder aus Bergamo in Italien. Diese Bilder zeigen einmal mehr, wie verheerend Kürzungen im öffentlichen Gesundheitsbereich waren und sind. Nun braucht es Investitionsstrategien für eben diese krisenrelevanten Bereiche und dazu brauchen die Mitgliedstaaten einen entsprechenden Gestaltungsspielraum.

Die gegenwärtigen fiskalpolitischen Regelungen dürfen die Möglichkeiten eines umfassenden öffentlichen Investitionsprogrammes nicht beschränken. Sie müssen langfristig und mit Blick auf die Bewältigung der Pandemie und ihrer sozialen und wirtschaftlichen Folgen angepasst und verändert werden.
Wir brauchen ein Umdenken in der europäischen Fiskalpolitik. Die wirtschaftliche Erholung nach der Krise und nachhaltiges Wirtschaftswachstum wird nicht durch einen Sparkurs in der Haushaltspolitik befördert, sondern durch eine öffentliche Investitionsoffensive.
Es bedarf daher einer Abkehr von der Austeritätspolitik früherer Jahre, und dafür mutiger und umfassender Investitionen in die öffentlichen Strukturen, die die Krisenresilienz unserer Gesellschaften nachhaltig stärken.
Angesichts der Bedeutung der sozialen Ziele in Kontext nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und öffentlicher Finanzen gilt es, die Dominanz der budgetären und wettbewerbsbezogenen Ziele im Europäischen Semester zurückzudrängen und durch die ernsthafte Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsdimensionen und dabei auch der sozialen Säule neu auszugestalten. Damit würde ein soziales und solidarisches Europa erlebbarer für seine Bürgerinnen und Bürger und die Demokratie stabiler werden.

(Der Gastbeitrag geht auf eine Rede des Senators im Bundesrat zur Mitteilung der EU-Kommission zum Europäischen Semester zurück.)

Ein Artikel von Klaus Lederer

Klaus Lederer

Klaus Lederer hat Rechtswissenschaften studiert und an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Er war u.a. Landesvorsitzender der LINKEN in Berlin und Mitglied des Abgeordnetenhauses. Seit Dezember 2016 ist Dr. Klaus Lederer Bürgermeister und Senator für Kultur und Europa in Berlin.

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