Eine Konferenz – viele Akteure

Auch wenn nicht mehr unter deutscher Ratspräsidentschaft: Die EU-Zukunftskonferenz soll stattfinden. Darüber sind sich die Beteiligten einig. Über Ziel und Themen gibt es jedoch unterschiedliche Ansichten. Von Jürgen Klute

Foto: © Sattler

Auch wenn es unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft – trotz anderslautender Ankündigungen – nichts mehr wird: Das Projekt der Europäischen Zukunftskonferenz, die letztlich aus mehreren Teilkonferenzen bestehen soll, bleibt trotz Corona auf der Tagesordnung. Zumindest darüber herrscht bei Europäischem Parlament, Europäischer Kommission und Europäischem Rat Einigkeit. Auch dazu, dass es ein – wie auch immer gestalteter – Dialog mit den Bürger*innen sein soll, gibt es bei den drei europäischen Institutionen keine Differenzen. Wie aber diese Konferenzen im Rahmen von CoFoE ablaufen sollen, welche Themen sie haben sollen und welches Ziel, darüber gibt es nach wie vor unterschiedliche Vorstellungen. Ein Überblick über die wichtigsten Positionen.

Die Europäische Kommission

„Ich will, dass die Bürgerinnen und Bürger bei einer Konferenz zur Zukunft Europas zu Wort kommen, die 2020 beginnen und zwei Jahre laufen soll“, sagte EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen bei der Vorstellung ihrer politischen Leitlinien (https://ec.europa.eu/germany/news/ursula-von-der-leyen-stellt-ihre-prioritäten-im-europäischen-parlament-vor_de) vor dem Europäischen Parlament am 16. Juli 2019 in Straßburg.

In ihrer Mitteilung vom 22. Januar 2020 (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip\_20\_89) skizziert die Kommission mit groben Strichen, wie sie sich die Zukunftskonferenzen vorstellt. Zwei Themenbereichen schlägt die Kommission vor: Zum einen soll es um inhaltliche Fragen gehen, um Klimawandel, Umweltprobleme, Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, Digitalisierung, die Förderung europäischer Werte, die Stärkung der Stimme der EU in der Welt sowie um die Festigung der demokratischen Grundlagen der Union . Zum anderen soll es um demokratische Prozesse und institutionelle Fragen gehen, insbesondere um das Spitzenkandidaten-System und die länderübergreifenden Listen für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Der Text der Mitteilung hebt diese Themen hervor, in dem er sie konkret benennt, sagt aber nicht, dass diese Aufzählung abschließend ist. Andererseits enthält die Kommissionsmitteilung keine Hinweise darauf, dass – und ggf. wie – weitere Themen von BürgerInnen in die Debatte eingebracht werden könnten.

Zum Ablauf der Konferenz und zur Frage der Beteiligung hat die Kommission bisher nur sehr vage Vorstellungen veröffentlicht. So heißt es in der Mitteilung vom 22. Januar: „Die Kommission betrachtet die Konferenz als Forum, dessen Ausgangs- und Orientierungspunkt die Bevölkerung ist, an dem also Bürgerinnen und Bürger aus allen Ecken der Union und nicht nur aus den Hauptstädten Europas teilnehmen können. Andere EU-Institutionen, die nationalen Parlamente, die Sozialpartner, regionale und lokale Behörden sowie die Zivilgesellschaft sind eingeladen, sich daran zu beteiligen. Eine mehrsprachige Online-Plattform wird die Transparenz der Debatte gewährleisten und eine breitere Beteiligung fördern. Die Kommission will, gemeinsam mit den anderen EU-Organen, so wirksam wie möglich dafür sorgen, dass die Ideen und Rückmeldungen der Bürgerinnen und Bürger in die Politikgestaltung der EU einfließen.“

Der Europäische Rat

Der Europäische Rat als Gremium der Regierungen hatte sich erstmals in seinen Schlussfolgerungen vom 12. Dezember 2019 (https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/12/12/european-council-conclusions-12-december-2019/) zur Zukunftskonferenz geäußert. Allerdings nur in drei kurzen Absätzen unter dem Tagesordnungspunkt „Sonstiges“. Der Rat „ersucht den kroatischen Ratsvorsitz, an der Festlegung eines Standpunkts des Rates zu Inhalt, Umfang, Zusammensetzung und Arbeitsweise einer solchen Konferenz zu arbeiten und sich auf dieser Grundlage mit dem Europäischen Parlament und der Kommission ins Benehmen zu setzen“, heißt es in dem Papier. Inhaltlich will der Rat die Zukunftskonferenz auf die von ihm im Juni 2019 festgelegte strategische Agenda 2019-2024 (https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/06/20/a-new-strategic-agenda-2019-2024/) festlegen. Aus Sicht des Rates sind damit sowohl institutionelle Fragen als auch von den BürgerInnen eingebrachte Themen unerwünscht.

Ansonsten ist dem Rat vor allem das interinstitutionelle Gleichgewicht wichtig und die Inklusion der EU-Mitgliedsländer. „Die EU-Organe und die Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Parlamente“, so heißt es wörtlich im Ratspapier, „sollten gemeinsam die Verantwortung tragen.“

Am 24. Juni 2020, also weit nach dem ursprünglich geplanten Starttermin der Zukunftskonferenz, wurde die unter der kroatischen Ratspräsidentschaft erarbeitete Position des EU-Rates verabschiedet. Das Positionspapier bekräftigt die am 12. Dezember 2020 formulierten Eckpunkte. Der Fokus bleibt auf der strategischen Agenda des Rates ausgerichtet. Nach Ansicht der Ratsposition bietet die strategische Agenda ausreichend Spielraum, damit Bürger*innen ihre Sichtweisen zum Ausdruck bringen können.

An mehreren Stellen betont der Rat die Wichtigkeit eines Dialogs mit Bürger*innen, aber von Mitbestimmung ist nicht die Rede. Gleichzeitig wird immer wieder die Rolle der EU-Institutionen betont. So heißt es in Absatz 9 unter der Rubrik „Organisation und Funktionsweise der Konferenz“: „Die Organisation der Konferenz sollte sich auf mehrere Schlüsselprinzipien stützen: 1) Gleichheit zwischen den Institutionen auf allen Ebenen, 2) Achtung der Befugnisse jeder Institution, 3) Effizienz und Vermeidung unnötiger Bürokratie, 4) effektive Einbeziehung der Bürger.“ Die Einbeziehung der Bürger*innen steht hier an vierter Stelle, während die Punkte eins bis drei sich mit der Rolle der Institutionen befassen. Immerhin akzeptiert der Rat aber eine Beteiligung des Ausschusses der Regionen und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses.

Eine Einbeziehung von Bürger*innen und Interessenvertreter soll nach Ratsvorstellung durch Debatten auf nationaler, regionaler Ebene und europäischer Ebene erfolgen. Dazu sollten mehrsprachige Internet-Plattformen und Bürgerpanels in den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden. Aber immerhin nennt das Ratspapier jetzt einige Schwerpunktthemen: 1. Nachhaltigkeit; 2. gesellschaftliche Herausforderungen; 3. Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und digitale Transformation; 4. Grundwerte, Rechte und Freiheiten; 5. internationale Rolle der EU.

Die Ergebnisse der Konferenz sollen 2022 in einem Bericht für den EU-Rat zusammengefasst werden.

Debatten über Änderungen an den Europäischen Verträgen will der Rat allerdings ausschließen. Dementsprechend lautet der Abschlusssatz der Ratsposition: „Die Konferenz fällt nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 48 EUV.“ Der Rat generiert sich damit vor allem als Besitzstandwahrer und nicht als Zukunftsgestalter.

Das Europäische Parlament

Obgleich die Initiative zum Projekt der Zukunftskonferenzen nicht vom Europäischen Parlament ausging, hat sich das EP am intensivsten mit diesem Projekt befasst. Bereits am 4. Dezember 2019 hat der Ausschusses für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments (AFCO) eine eintägige Anhörung mit Fachleuten und PolitikerInnen (https://europa.blog/zukunftskonferenzen-fur-europa-konnen-sie-die-probleme-der-eu-wirklich-losen/) zu den Zukunftskonferenzen durchgeführt.

Am 15. Januar 2020 hat das EP dann eine umfassende und detaillierte Entschließung „Standpunkt des Europäischen Parlaments zur Konferenz über die Zukunft Europas“ (https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2020-0010\_DE.html) angenommen. Diese intensive Befassung mit dem Projekt Zukunftskonferenz trägt der Rolle des Parlaments als direkt gewählter BürgerInnenkammer Rechnung.

Aus Sicht des Parlaments muss das Projekt Zukunftskonferenz als offener Prozess angelegt werden. Im Wortlaut heißt es in der Parlamentsentschließung:

4. [Das Europäische Parlament] ist der Ansicht, dass die Beteiligung der Bürger an der Konferenz so gestaltet werden sollte, dass die Vielfalt unserer Gesellschaften umfassend abgebildet wird; ist der Ansicht, dass Konsultationen unter Nutzung der effizientesten, innovativsten und geeignetsten Plattformen einschließlich Online-Instrumenten organisiert werden und alle Teile der EU erreichen sollten, damit jeder Bürger zu Wort kommen kann, solange die Konferenz läuft; ist der Ansicht, dass es ein wesentlicher Faktor für die langfristigen Auswirkungen der Konferenz sein wird, die Mitwirkung junger Menschen sicherzustellen;

5. betont, dass es sich bei der Konferenz um einen offenen und transparenten Prozess handeln sollte, bei dem gegenüber den Bürgern und Interessenträgern ein inklusiver, partizipativer und ausgewogener Ansatz verfolgt wird; betont, dass die Einbeziehung der Bürger, der organisierten Zivilgesellschaft und einer Reihe von Interessenträgern auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene das Schlüsselelement dieses innovativen und originellen Prozesses sein sollte;

Offener Prozess bedeute dabei auch, ergänzt Karas, dass am Ende des auf zwei Jahre angelegten Konferenzprozesses die Möglichkeit besteht, Schlussfolgerungen zu ziehen, die auch Änderungen und Reformen der EU-Verträge umfassen und die den Zukunftskongresse in einen anschließenden Verfassungskonvent münden lassen.

Das Europaparlament hat zwei Säulen für die Konferenz vorgeschlagen. Auf der einen Seite Bürgerforen (teils auch als Agora bezeichnet) sowie Jugendforen. In ihnen sollen Vertreter*innen aller EU-Mitgliedsstaaten eingebunden sein. Die Auswahl soll nach dem Vorschlag des Parlaments nach dem Zufallsprinzip erfolgen. „Die teilnehmenden Bürger [sollen] unter allen EU-Bürgern von unabhängigen Einrichtungen in den Mitgliedstaaten nach dem Zufallsprinzip nach den oben genannten Kriterien ausgewählt werden“. Laut EP-Papier sollen die Bürgerforen tatsächlich Bürgerinnen und Bürgern vorbehalten sein. „Mandatsträger, hochrangige Regierungsvertreter und Vertreter beruflicher Interessen“ sollen demnach ausdrücklich von den Bürgerforen ausgeschlossen sein.

Auf der anderen Seite sieht der Parlamentsvorschlag eine Plenarversammlung vor, in der Vertreter des EP, der Kommission, des Rate, der nationalen Parlamente und Sozialpartner sitzen sollen. Die Plenarversammlung soll zweimal pro Halbjahr tagen und am Ende des Prozesses die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Zukunftskonferenz zusammenfassen und veröffentlichen.

Die Parlamentsentschließung enthält weiterhin Empfehlungen für die Häufigkeit und Anzahl von Foren (einschließlich Vorschläge zur Erstattung von Kosten für die Teilnehmenden). In einem Zeitraum von zwei Jahren lässt sich allerdings nur eine begrenzte Zahl von Foren auf europäischer Ebene organisieren. Die Reichweite der Zukunftskonferenz bleibt damit – trotz vorgesehener ergänzender Internetplattformen – recht begrenzt.

Ausschuss der Regionen bei der EU (AdR)

Mittlerweile hat sich auch der Ausschuss der Regionen mit einer Stellungnahme in die Debatte eingebracht. Der AdR fordert vor allem auch Debatten über die Zukunft der EU in Stadt- und Gemeinderäten und regionalen Parlamenten unter Einbeziehung bestehender Elemente der partizipativen Demokratie (Bürgerräte, Bürgerdialoge, etc.). Der NRW-Landtag hat in diesem Sinne am 08.09.2020 eine Resolution unter dem Titel „Die Rolle der Regionen in Europa stärken“ verabschiedet. Außerdem fordert der AdR die Einrichtung eines permanenten Bürgerdialogs innerhalb der EU. Referenzmodell dafür ist der Bürgerdialog der Deutschsprachigen Gemeinde Belgiens, der 2019 eingeführt wurde. Zudem will der AdR im Lenkungsausschuss der EU-Zukunftskonferenz vertreten sein.

Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Verschiedene NGOs haben sich mittlerweile ebenfalls in die Debatte um die EU-Zukunftskonferenz eingebracht. z. B. „Bürgerrat Demokratie e.V.“, „Democracy International“, „Mehr Demokratie e.V.“ oder “Citizens take over Europe“. Letztere hat am 9. Mai 2020, dem ursprünglich vorgesehenen Startdatum, aus eigener Initiative eine Online-EU-Zukunftskonferenz gestartet. Im Juni hat die NOG die deutsche Ratspräsidentschaft in einem offenen Brief aufgefordert, während ihrer Amtszeit in der zweiten Hälfte 2020 unbedingt mit dem Projekt der Zukunftskonferenz zu beginnen. Inhaltlich fordert “Citizens take over Europe”, die Zukunftskonferenz nach dem Modell einer durch Losverfahren zusammengesetzten irischen Citizens Assembly zu organisieren.

Fazit

Ein weitgehend unbedachtes Problem der EU liegt darin, dass ihre Legitimation sich aus der Konfliktgeschichte der sechs Gründungsmitglieder ableitet. Das ist nicht falsch, aber es ist eine Einengung. Für süd- und südosteuropäische Mitgliedsländer hat diese Legitimation nur eine sehr begrenzte Bedeutung, da deren Konfliktgeschichte aus dieser Legitimationserzählung ausgeblendet ist. Die EU-Zukunftskonferenz sollte auch ein Ort sein, die unterschiedlichen (Konflikt-)Geschichten der mittel-, ost- und südeuropäischen EU-Mitgliedsländer in die EU-Erzählung einzubinden und so die Perspektive von den Gründungsländern auf die heutigen Mitgliedsländer der EU auszuweiten.

Ein Artikel von Jürgen Klute

Jürgen Klute

Jürgen Klute ist Theologe und Europapolitiker. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des EU-Parlaments (Delegation DIE LINKE). Jürgen Klute betreibt die Internetseite europa.blog. Er publiziert insbesondere zu Themen wie linke Kräfte in Europa und zur Rechtsentwicklung in der EU. (Foto: © Uli Winkler)

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