Berlin will EU zurück auf neoliberalen Pfad führen

Angesichts von Corona und den Herausforderungen des Klimawandels müssen die EU-Fiskalregeln auf den Prüfstand. Das könnte abermals an Berlin scheitern. Ein Kommentar von Alexander Ulrich

Foto: © Sattler

Mit ihrem sturen Bekenntnis zur deutschen Schuldenbremse und den Defizitregeln der EU verweigert die künftige Bundesregierung der wirtschaftlichen Realität die Anerkennung und stellt den Kampf gegen den Klimawandel unter Finanzierungsvorbehalt. Laut Koalitionsvertrag soll der Stabilitäts- und Wachstumspakt gar zur »Grundlage« für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen gemacht werden. Mit einem Finanzminister Linder und einem Bundeskanzler Scholz war nichts anderes zu erwarten. Nun droht eine sehr unverantwortliche Finanzpolitik – unverantwortlich gegenüber dem europäischen Zusammenhalt, unverantwortlich gegenüber dem Planeten und künftigen Generationen.

Die hohen Schuldenstände der EU-Mitgliedstaaten sind Folge der Coronakrise. Durch umfassende Investitionen ist es gelungen, schlimmere wirtschaftliche und soziale Verwerfungen zu verhindern und die Volkswirtschaften zurück auf einen Wachstumskurs zu bringen. Wo clever investiert wurde, wurden die Mittel zudem genutzt, klimafreundliche Technologien und die digitale Transformation voranzubringen. Hierzulande war das eher nicht der Fall. Vor allem große Konzerne wie die Lufthansa wurden großzügig unterstützt – ohne dass die Staatsmilliarden an Auflagen zum Erhalt von Arbeitsplätzen und Einkommen geknüpft worden wären. Kleine Unternehmen, Solo-Selbständige und abhängig Beschäftigte wurden hingegen mit kompliziert zu beantragenden Einmalzahlungen, Krediten oder einem im internationalen Vergleich sehr bescheidenen Kurzarbeitergeld abgespeist. Eine Strategie war nicht zu erkennen.

Nun stellt sich die Frage, wie man mit den Maastricht-Kriterien und dem Fiskalpakt umgeht, die schlicht nicht mehr mit der Realität in Einklang zu bringen sind. In der Eurozone kann lediglich das Finanzparadies Luxemburg mit einer Schuldenquote unterhalb der 60-Prozent-Grenze aufwarten. Zwischen den Euroländern belaufen sich die Unterschiede in den Schuldenständen auf bis zu 100 Prozentpunkte. Wenn die ausgesetzten Regeln, wie derzeit geplant, 2023 wieder eingesetzt werden, entstünde in fast allen EU-Ländern ein extremer Kürzungsdruck, insbesondere in den von der Pandemie hart gebeutelten südeuropäischen Staaten wie Italien und Spanien. Ohnehin marode Gesundheitssysteme würden weiter zusammengestrichen, Investitionen in Klimaschutz, Bildung und digitale Infrastruktur zurückgefahren werden. Auch die sozialen Sicherungssysteme gerieten unter erheblichen Druck.

Angesichts dieser Situation ist eine Debatte um realitätskonforme Regeländerungen ausgebrochen. Frankreich will flexiblere Konsolidierungspläne, die EU-Kommission will Zukunftsinvestitionen aus dem Defizit rausrechnen, der ESM will die Schulden-Obergrenze auf 100 Prozent anheben etc. Entscheidungen sollen in der ersten Jahreshälfte 2022 fallen. Doch jegliche Annäherung an die Realität droht am Widerstand aus Berlin zu scheitern. Dabei dürfte niemand unter den angehenden Koalitionären ernsthaft glauben, dass eine Einhaltung der Regeln im Gros der Mitgliedstaaten machbar sein wird. Es geht darum, Ausgabenkürzungen und eine zunehmende Anpassung an das deutsche Exportmodell zu erzwingen. Mit einer Wiedereinführung von Regeln, die aufgrund chronischer Krisenuntauglichkeit ausgesetzt wurden, soll die EU-Integration rasch zurück auf den neoliberalen Pfad geführt werden.

Mit dieser Haltung hatte Deutschland schon in der Finanzkrise zur erheblichen Verschärfung der Lage in der Eurozone beigetragen und einen Zerfall provoziert. Um der europäischen Integration keinen weiteren Schaden zuzufügen, muss die künftige Regierung von ihrer sturen Haltung abrücken und darf eine Anpassung der Schuldenregeln nicht blockieren. Was wir brauchen, ist eine Fiskalpolitik, die auf Vollbeschäftigung ausgerichtet ist, statt darauf, Investitionen zu verhindern. Das gilt umso mehr in Zeiten eines großen wirtschaftlichen Umbruchs, den es demokratisch zu gestalten gilt. Nicht nur Ausgaben für Klimaschutz und Digitalisierung sollten ausgenommen werden, sondern auch solche für Bildung und Gesundheit. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss um eine solche »goldene Regel« ergänzt werden.

Ein Artikel von Alexander Ulrich

Alexander Ulrich

Alexander Ulrich ist Mitglied des deutschen Bundestages, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion und unter anderem Mitglied im Europaausschuss sowie industriepolitischer Sprecher der Fraktion.

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