Zwischen Zentrifugaltendenzen und imperialen Ambitionen

Ein Jahr vor der EU-Wahl sind die europapolitischen Fragestellungen aus linker Sicht nicht einfacher geworden

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Als Begründung zur Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union führte das Nobelpreiskomitee den „erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens“ an. Die Teilung zwischen Ost und West auf dem europäischen Kontinent sei „in weiten Teilen beendet“. Die EU stelle eine „Verbrüderung von Nationen dar“, was von Alfred Nobel als Kriterium für einen solchen Preis genannt wurde.

Wenige Jahre später legt die Europäische Kommission einen Haushaltsentwurf für die Jahre 2021 bis 2027 vor, der neben einem neu einzurichtenden „Europäischen Verteidigungsfond“ alleine 6,5 Milliarden Euro an Infrastrukturmaßnahmen für panzerfähige Straßen und Brücken vorsieht. Es geht um die schnelle Verlegefähigkeit entsprechenden militärischen Materials an die russische Grenze. Parallel wird mit PESCO eine politisch verbindliche Struktur auf Basis der EU-Verträge entwickelt, die die EU-Mitgliedsstaaten zur permanenten militärischen Aufrüstung verpflichtet. Auf der anderen Seite sind entsprechende Kürzungen bei den Kohäsionsfonds angekündigt, die die Ungleichheiten zwischen den Regionen reduzieren sollen.

Diese Ambitionen militärisch schlagkräftiger zu sein, werden ausgerechnet in einer Zeit dominant, in der die Krisenhaftigkeit der aktuellen Form der europäischen Integration und die entsprechenden Zentrifugaltendenzen immer deutlicher werden. Die schon vor mehr als zehn Jahren im Lissabonvertrag verankerten Aufrüstungsbestimmungen schlummerten bis zum Brexit-Referendum, um dann vor allem von Berlin und Paris mit aller Macht in politische Praxis überführt zu werden. Der Kommissionspräsident sprach von der „schlafenden Schönheit“ des Lissabonvertrags, die endlich erwacht sei. Eine relevante Diskussion nach dem Ausscheiden Großbritanniens etwa die Finanztransaktionssteuer einzuführen, die von den Briten genauso blockiert wurde, wie die eigenständige EU-Aufrüstung, gab es nicht.

Die schon in der Struktur des Euro-Systems angelegten ökonomischen Widersprüche, auf die vor allem der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz eindringlich hinweist, sind durch die Art und Weise der vor allem von Deutschland durchgesetzten Krisenbewältigung in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 dramatisch zugespitzt worden: Vertraglich verordnete Austeritätspolitik, Zwang zur weiteren Privatisierung und Deregulierung der Arbeitsmärkte waren die Maßnahmen, die auch gegen heftigen Widerstand durchgesetzt wurden. Die zwischenzeitlich auch teilweise in bürgerlichen Kreisen diskutierte Entmachtung des Finanz- und Bankensektors, der schließlich die Krise ausgelöst hatte, verschwand aus den Diskussionen, nachdem es gelungen war, die Finanz- und Wirtschaftkrise zu einer Staatsschuldenkrise umzudeuten.

Die durch die Austeritätspolitik im Interesse vor allem der deutschen Exportindustrie vertiefte Eurokrise war nie überwunden, sie wurde lediglich durch die Unterwerfung der griechischen Regierung aus den Schlagzeilen verbannt und später von der Flüchtlingskrise überlagert. Die Niedrigzinspolitik der EZB führte zudem vorübergehend zu einer gewissen Linderung, ohne die strukturellen Probleme anzugehen. Vor allem in Italien, aber auch in Spanien und Frankreich, schwelt die Krise weiter. Stagnation, Deindustrialisierung, hohe Jugendarbeitslosigkeit und Braindrain sind die Folge. Politisch so unterschiedliche Phänomene, wie der Aufstieg der EU-kritischen Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, der Beinahe-Sieg von Le Pen in Frankreich und auch die Zuspitzung des Konflikts um Katalonien sind ohne den Hintergrund der Eurokrise und der durchgesetzten Austeritätspolitik nicht vollständig erklärbar.

In Deutschland werden in völliger ökonomischer Besoffenheit die durch die Niedriglohnpolitik exorbitant angewachsenen Leistungsbilanzüberschüsse gefeiert, als hätte man gerade die Fußball-WM gewonnen. Als Lösung wird den anderen Euro-Ländern nahe gelegt, so zu werden wie wir. Dabei wird völlig ignoriert, dass das Verhältnis Export zu Import ein relatives Verhältnis ist, die Überschüsse des Einen sind die Defizite des Anderen. Stabilitätsvereinbarungen, dieses Verhältnis auf maximal 6 % zu begrenzen werden alljährlich mit zuletzt ca. 8 % verletzt und in der deutschen Öffentlichkeit kaum kommuniziert. Der Ausweg – höhere Löhne hierzulande und stärkere Investitionen in die Binnenwirtschaft – käme zwar den meisten Menschen in Deutschland und den Volkswirtschaften insbesondere in Südeuropa zugute, bedroht aber das Geschäftsmodell einiger Sektoren der Exportindustrie.

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO oder englisch ILO) kam jüngst zu der Feststellung, dass die bis dahin sich entwickelnde Konvergenz innerhalb der EU in Bezug auf Sozial- und Arbeitsindikatoren seit 2007 ‚stark ansteigend‘ auseinander driftet. Galt die Kohäsionspolitik, also die Schaffung zumindest tendenziell gleicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse innerhalb der EU seit der ‚Einheitlichen Europäischen Akte‘ von 1986 als ein zentrales Ziel der EU, so ist diese Zielstellung fast vollständig aus dem europapolitischen Diskurs verschwunden. Vor diesem Hintergrund sind die geplanten Kürzungen der Kohäsionsfonds in der Tat alarmierend und markieren einen Paradigmenwechsel.

An die Stelle der wünschenswerten Annäherung der Lebensverhältnisse innerhalb der EU tritt zunehmend die Betonung der politischen und militärischen Stärke. Neben der unberechenbaren Politik des US-Präsidenten Trump dienen insbesondere die zahlreichen Krisen rund um die EU als Katalysatoren, obwohl die EU hier oftmals starken Anteil am Zustandekommen dieser Krisen hatte. Dies ist besonders in der Ostpolitik offensichtlich, war doch das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen Auslöser des blutigen Umsturzes 2014 in Kiew und in der Folge der Abspaltung der Krim und des Kriegs im Donbass. Auf meine Frage nach möglichen Fehlern bei der Verhandlung des Abkommens antwortete mir Kommissionspräsident Juncker vor zwei Jahren wörtlich und auf Deutsch: „Wir haben in maßloser Verblendung geglaubt, nicht mit Russland reden zu müssen“. Dennoch dient die russische Reaktion auf die mit dem Umsturz und der EU-Assoziierung einhergehende Befürchtung der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als Legitimationsfolie für die Sanktionen und die militärische Aufrüstung.

Dieser vor allem von den USA befeuerte Kurs ist allerdings nicht unumstritten. Zahlreiche EU-Länder, darunter erfreulicherweise auch Griechenland, verweigerten die Beteiligung an der irren Ausweisung russischer Diplomaten als Reaktion auf die nach wie vor ungeklärte Skripal-Affäre. Eine politische Unterstützung der Straf-Bombardierungen Syriens durch Trump, May und Macron stieß auf den heftigen Widerstand einiger EU-Länder. Auch die Stimmen, die Sanktionen auf dem Ratsgipfel Ende Juni nicht verlängern zu wollen werden lauter. Hinzu kommen der Bruch des Iran-Abkommens durch die USA und die Strafzölle gegen die EU, die den Gedanken einer besseren Kooperation etwa mit Russland nahe legen.

Ein Jahr vor der EU-Wahl sind die europapolitischen Fragestellungen aus linker Sicht nicht einfacher geworden. Dominierte in den Debatten 2009 die scheinbar unaufhaltbare neoliberale Integration (Lissabonvertrag) und 2014 die Austeritätspolitik (Griechenland), so ist zu erwarten, dass 2019 die Fragen von Krieg und Frieden, von Aufrüstung, von geopolitischer Ausrichtung, etwa dem Verhältnis zu Russland, von europäischer Sicherheitsarchitektur, und natürlich von Fluchtursachen und dem Umgang mit Geflüchteten, eine erheblich stärkere Rolle spielen werden. Darauf gilt es sich vorzubereiten. Dabei sollte DIE LINKE die sichtbare Kritik an der aktuellen Struktur und Politik der EU mit der grundsätzlich notwendigen und wünschenswerten europäischen und internationalen Kooperation verbinden.

Ein Artikel von Andrej Hunko

Andrej Hunko

Andrej Hunko ist Bundestagsabgeordneter der Partei DIE LINKE und u.a. Obmann im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.

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