„Wir lassen nicht zu, dass die Empfehlungen im Schreibtisch verschwinden“

Der Europaabgeordnete Helmut Scholz zu neuen Versuchen, der EU-Zukunftskonferenz die Spitze zu nehmen und zu europaolitischen Herausforderungen für die Linke

Foto: Conference on the Future of Europe, Plenarysession V, Migration © European Parliament

Ein Interview mit Helmut Scholz — das Gespräch führte Uwe Sattler

Helmut Scholz

Helmut Scholz ist Europaabgeordneter und Handelspolitischer Sprecher der Delegation DIE LINKE. im Europäischen Parlament. Er ist unter anderem Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel (INTA), im Ausschuss für Konstitutionelle Fragen (AFCO) und in den Delegationen für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu China.

Seit einem Jahr berät die Konferenz zur Zukunft Europas (COFE) über das künftige Aussehen der EU und ihrer Politik. Am 9. Mai, den Europatag, soll die von Europäischer Kommission, EU-Rat und Europaparlament organisierte multilaterale Konferenz mit der Vorlage eines gemeinsamen Papieres der Präsident*innen der drei EU-Institutionen feierlich abgeschlossen werden. Diese Schlussfolgerungen werden aus den Empfehlungen der Versammlungen von Bürger*innen sowohl auf EU-Ebene als auch in allen Mitgliedstaaten und den Plenarkonferenzen mit ihren Arbeitsgruppen (dem institutionellen Teil von COFE) zusammengeführt. Einfließen werden auch die Inhalte, die auf der interaktiven digitalen Plattform von COFE diskutiert wurden. Auf der Plattform wurden seit Ende 2021 allein 30 000 Beiträge und 10 000 Vorschläge zu Themen von Klimawandel über Rechtsstaatlichkeit bis Migration eingestellt.

In der vergangenen Woche ist eine Erklärung der schwedischen und anderer Regierungen von EU-Mitgliedstaaten bekannt geworden, in der sie ablehnen, die Ergebnisse der Zukunftskonferenz nach deren Abschluss verbindlich in europäisches Recht zu überführen. Waren damit über ein Jahr Debatten, Bürgerforen und Parlamentarierkonferenzen in allen 27 EU-Staaten umsonst?

Das ist so nicht ganz richtig. Es gibt ein Statement des schwedischen Europaministers, in dem er deutlich macht, dass man sich mit den Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger, die sie im Rahmen der COFE herausgearbeitet haben, als Ergebnis der Konferenz begnügen sollte. Damit wird jedoch negiert, dass die auf diesen Empfehlungen basierenden Schlussfolgerungen der Plenarkonferenz insgesamt nur der Start für einen Arbeitsprozess sein können, auch diese Empfehlungen in reale Politik umzusetzen. Dabei ist die Zukunftskonferenz der erste und bisher einzige real gemachte Ansatz, Bürger*innen aus allen 27 Mitgliedstaaten in einem transnationalen Dialog in die Debatte über Weiterentwicklung und Veränderungen europäischer Integration auf EU-Ebene einzubeziehen. Damit geht sie über den Konvent vor 20 Jahren hinaus, die letzte umfassende Beratung über die vertragliche Ausgestaltung der demokratischen Verfasstheit der EU.

Behalten nun die Kritiker*innen der Zukunftskonferenz recht, die darin ein Demokratie-Placebo gesehen haben, das zu keinen realen Veränderungen europäischer Politik führt?

Die Erklärung ist Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung im Rat – und sicherlich nicht nur dort -, die davon ausgeht, dass die Verträge ja funktionieren. Damit müsssten sie auch nicht geändert werden. Aber seien wir doch realistisch: Zum ersten Mal in der EU-Geschichte haben die drei europäischen Institutionen gemeinsam einen Konferenzmarathon aufgesetzt, der die Bürger*innen ebenso einbezieht wie die organisierte Zivilgesellschaft, Nichtregierungsorganisationen, die Umwelt- und Frauenbewegung und und und. Nun liegen Dutzende konkrete Empfehlungen vor, die sehr genau umreißen, wo aus Sicht des Souveräns, der Menschen in allen EU-Mitgliedstaaten, europäische Politik verändert werden kann und muss. Glauben die Regierungen ernsthaft, sie könnten das ignorieren? Und ganz klar: Wir, die Europaabgeordneten, über Parteigrenzen hinweg, waren es, die auf diesen Charakter der Zukunftskonferenz von Beginn an gedrängt haben. Und da stehen wir im Wort als direkt gewählte Volksvertreter*innen. Wir können und werden nicht zulassen, dass die Ergebnisse nach dem 9. Mai in Schreibtischschubladen verschwinden.

Das heißt aber noch lange nicht, dass der Lissabon-Vertrag ersetzt wird.

Die Konferenz an sich ist kein Entscheidungsgremium. Sie kann nur Schlussfolgerungen vorlegen, mit denen die drei Institutionen dann umgehen müssen. Und deshalb ist es richtig, dass das Parlament mehrheitlich eine Resolution anschieben wird, die die nächsten Schritte festlegt. Darüber haben die 108 Abgeordneten, die das Europaparlament in der COFE vertreten, gerade noch einmal beraten. Ich bin optimistisch, dass wir uns in dieser Resolution für die Einberufung eines neuerlichen Konvents aussprechen, um die in den neun Arbeitsgruppen der Konferenz und den Bürger*innen-Versammlungen erarbeiteten Vorschläge, beispielsweise zu solchen Aspekten wie Entscheidungsstrukturen, das Sozialprotokoll oder Klimaschutz, in EU-Recht umzusetzen.

Das letzte Wort haben dabei aber wieder die Regierungen, also der Rat. In dieser Hinsicht ist die Erklärung aus Stockholm kein gutes Signal.

A.: Ja, und es ist nicht nur Schweden, von dem Widerstand zu erwarten ist. Aber noch einmal: Der Rat muss sich zu den Positionen, die die Bürger*innen eingebracht haben, verhalten. Mehrheitsentscheidungen in einer ganzen Reihe von Politikfeldern, Klimaschutz als Zielbestimmung der EU, eine rechtsverbindliche Sozialpolitik – dazu brauchen wir Vertragsänderungen. Letzteres ist ein gutes Beispiel: Ohne Aufnahme des Sozial-Fortschrittsprotokolls ins EU-Recht wird es kein soziales Europa geben, das haben nicht nur wir Linke, sonder auch der Europäische Gewerkschaftsbund immer wieder betont. Und das wäre heute notwendiger denn je, denn mit massiv steigenden Energiekosten, mit wachsenden Lebensmittelpreisen, mit galoppierender Inflation rückt die soziale Frage ins Zentrum der EU-Politik. Mit dem Krieg Putins gegen die Ukraine sind aber auch die Außen und Sicherheitspolitik und die Anforderungen an eine solidarische Migrations- und Asylpolitik ganz aktuelle Themen, denen sich die verbleibenden drei Plenarkonferenzen der COFE stellen müssen.

Wie sehen Sie dabei die Haltung der Bundesregierung? Die hat schließlich der Zukunftskonferenz und der Reformierung der Europäischen Verträge den ersten Absatz des Europakapitels im Koalitionsvertrag gewidmet.

Wenn ich die deutschen Parlamentsvertreter*innen in der Plenarkonferen nehme, haben diese eine positive und unterstützende Position eingenommen. Auch von der Vertretung der Bundesregierung in der COFE habe ich in Bezug auf die demokratische Weiterführung der Konferenz positive Signale wahrgenommen. Ich kann also durchaus auf ein aktives und konstruktives Handeln der Bundesregierung in Bezug auf ernsthaftes Aufgreifen der Arbeit der Zukunftskonferenz hoffen. Und ich und andere deutsche MdEP werden dahingehend auch den Kontakt zu unseren Kolleg*innen im Bundestag oder den Landtagen weiter verstärken.

Und wie steht es um Ihre eigene Partei, Die LINKE.?

Ich glaube schon, dass die maßgeblichen Vertreter unserer Partei begriffen haben, dass diese Zukunftskonferenz ein Prozess ist, von dem man sich nicht fernhalten kann, in den man aktiv eingreifen muss. Und dass sie dies auch im Rahmen der Europäischen Linken deutlich gemacht haben. Ob die vielen Mitglieder sich die Mühe und das politische Vergnügen gemacht haben, mal auf die digitale Plattform zu schauen, reinzuhören in die spannenden Debatten, kann ich nicht beantworten. Aber ich habe selbst viele Mitglieder auch unserer Partei in den nationalen oder in den regionalen Bürgerforen erlebt, in denen sie mitgearbeitet haben, Veränderungsnotwendigkeiten in der EU-Politik nicht nur zu benennen, sondern auch Vorschläge auf den Tisch zu legen. Sicher hätte ich mir schon noch ein aktiveres Agieren meiner Partei gewünscht, stärker auch öffentlich wahrnehmbar. Denn machen wir uns nichts vor: Im Mai 2024 findet die nächste EU-Wahl statt, und deshalb muss sich Die Linke spätestens Ende 2022/Anfang 2023 bereits sehr konkret an die Formulierungen ihres Europawahlprogramms setzen. Die Zukunftskonferenz mit ihren vielen Facetten und vor allem die breite Teilnahme von jungen Menschen an ihrer Verschränkung von repräsentativer und partizipativer Demokratie sollten da eine gute Ausgangsbasis für die Bestimmung der europapolitischen Visionen und Forderungen der LINKE für eine soziale, solidarische und friedliche EU sein.

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

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