»Wir müssen die EU vom Kopf auf die Füße stellen«

Die Fraktionschefin der Linken im EU-Parlament plädiert für eine klare Position im Europawahlkampf: Die Integration kann nicht wieder zurückgefahren werden

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Ein Interview mit Gabi Zimmer — das Gespräch führte Uwe Sattler

Gabi Zimmer

Gabriele Zimmer (Jahrgang 1955) ist Europaabgeordnete der LINKEN und zugleich Vorsitzende der Linksfraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament. Vor ihrem Einzug ins EU-Parlament 2004 war sie unter anderem Vorsitzende der PDS.

Es ist nur noch ein knappes Jahr Zeit bis zur nächsten Europawahl. Sie bemängeln, dass es trotzdem zumindest bei Teilen der LINKEN ein gewisses Desinteresse an europäischen Themen gibt.
Das lässt sich mitunter aus unserer »Brüsseler Sicht« schnell vermuten. Ich weiß nicht, ob es Desinteresse ist. Ich glaube eher, es ist eine Reaktion darauf, dass derzeit in Deutschland sehr viele politische Probleme zu bewältigen sind und DIE LINKE sich selber auch noch wieder finden muss nach den Auseinandersetzungen, die es in jüngster Zeit gegeben hat. Und ja, wir erwarten jetzt, dass sich die gesamte Partei möglichst schnell auf den Europawahlkampf einstellt. Politische Prioritäten nur im nationalen Rahmen zu setzen, reicht für mich nicht aus, wenn man wirklich eine linke gesellschaftliche Strategie entwickeln und gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen will.

Der Europa-Parteitag der LINKEN wird im Februar nächsten Jahres beraten; die Wahlen sind drei Monate später – ist das nicht zu spät?
Es ist absolut spät. Aber das beruht noch auf der Tradition der letzten Wahlkämpfe. DIE LINKE hat immer als letzte Partei ihren Europawahlparteitag durchgeführt. Inzwischen ist aber der Wahltermin noch ein ganzes Stück nach vorne gerutscht. Ich hätte schon erwartet, dass wir spätesten Ende des Jahres über unsere Strategie zu den Europawahlen beraten. Andere Parteien fangen jetzt schon mit der Vorbereitung ihrer Parteitage an, die haben schon die Listen mit Kandidat*innen in der Diskussion und wir sind noch völlig am Anfang. Ich gehe davon aus, und das sind die Signale, die wir von den Parteivorsitzenden und auch vom Bundesgeschäftsführer zu Beginn dieses Jahres bekommen haben, dass die Brüsseler Delegation sich aktiv in die Erarbeitung des Wahlprogramms einbringen kann. Das ist ein Fortschritt, den ich ausdrücklich benennen möchte. Es war in der Vergangenheit ein Unding, von uns zu erwarten, dass wir nur über Änderungsanträge auf dem Parteitag noch in den Prozess der Ausarbeitung eines so wichtigen Dokuments wie des Europawahlprogramms einsteigen konnten.

Wulf Gallert sagte im Interview auf »die-zukunft.eu«, dass das Wählerpotenzial der Linken sehr proeuropäisch ist. Schätzen Sie das ähnlich ein? DIE LINKE und ihre Wählerschaft wird ja gern als europaskeptisch bezeichnet.
Sie wird eher als EU-kritisch bezeichnet. Wobei es immer darauf ankommt, was man unter kritisch versteht. Ich sehe, dass ein Großteil der Wähler*innen der Linken sich durchaus für eine konkrete Zusammenarbeit, konkrete Entwicklung auf europäischer Ebene ausspricht, aber auch deutlich für eine Veränderung der EU. Das müssen wir auch immer wieder in den Vordergrund stellen: Wir wollen die Europäische Union verändern. Wir müssen sie vom Kopf auf die Füße stellen, sie muss sozialer werden, sie muss demokratischer werden. Es reicht nicht, nur darüber zu sprechen, dass das Europaparlament mit mehr Rechten ausgestattet werden soll – nein, es muss generell um eine stärkere Beteiligung der Bürger*innen in der EU und bei der Gestaltung der EU gehen. Ich glaube, auf diesen Punkt kann man sich relativ schnell einigen. Allerdings stellt auch ein Teil der Linken zu Recht die Frage, ob es auf der Grundlage der bestehenden Verträge möglich ist, diese Änderungen zu erreichen.

Das heißt, die heftige Debatte, ob man die EU nicht generell abschaffen sollte, ist in der Partei vom Tisch?
Das weiß ich nicht. Vom Tisch ist sie garantiert nicht, weil wir ja auch innerhalb der europäischen Linken durchaus die Debatte haben, ob die Verträge abgeschafft werden sollen. Es gab vor kurzen eine Erklärung des Bündnisses von France insoumise, dem Bloco de Esquerda aus Portugal, von Podemos aus Spanien und weiteren links-grünen Parteien Skandinaviens, dass die Verträge weg müssen.

Der sogenannte Plan B.
Ja, das ist eine Plan B-Variante, und es gibt auf jeden Fall auch innerhalb der Linken in Deutschland – damit meine ich jetzt nicht nur die Partei, sondern generell die Linke in Deutschland – nach wie vor die Auffassung, dass im Rahmen der bestehenden EU und der Eurozone keine Veränderungen möglich sind. Es ist ja auch noch nicht bewiesen, dass wirklich gravierende Änderungen möglich sind. Insofern sprechen wir alle von hypothetischen Annahmen. Für mich steht aber immer die Frage: Mit wem will ich was verändern? Wir befinden uns als Linke momentan in der Defensive, europäisch gesehen, international gesehen, und das halte ich schon für einen erheblichen Nachteil, für eine Schwächung. Wenn man meint, die Verträge sollen weg, dann muss man ehrlich sein und sagen, was das wirklich bedeutet. Zum Beispiel, dass auch die Institutionen beseitigt werden müssten, die auf diesen Verträgen basieren. Also: Die EU insgesamt soll nicht weiterbestehen. Was kommt aber dann? Wie soll ein neues Europa entstehen? Wie verhindern wir, dass nicht Rechtsextreme und Nationalisten dieses andere Europa definieren? Da fehlt mir einfach die gemeinsame Diskussion darüber, was Menschen an Veränderungsbedarf generell sehen – Linke, Grüne, Kritiker*innen der EU und ihrer Politik generell. Dann muss aber auch über die Verantwortung der Mitgliedstaaten für diese EU Politik gesprochen werden und wie wir uns damit auseinandersetzen.

Wie wollen die Linken ohne diese Klärung Wahlkampf machen?
Wir müssen im Wahlkampf zunächst eine Prämisse deutlich machen: Die europäische Zusammenarbeit kann nicht wieder zurückgefahren werden. Wir dürfen Europa, die EU nicht den Rechtsextremen und Nationalisten überlassen. Wir wollen keine Trumpschen Verhältnisse, wir wollen weder Bannon, Le Pen, Gauland/Weidel/Höcke oder Salvini, Orban und Kurz/Strache die Definitionshoheit gestatten. Wir brauchen die europäische Integration, sie muss demokratisiert werden, sie muss auf eine soziale Basis gestellt werden, und wir müssen dazu beitragen, dass linke, progressive, alternative Kräfte wirklich miteinander kooperieren und gemeinsam Vorstellungen entwickeln, wie denn ein anderes Europa, eine andere EU aussehen sollte. Ich möchte weder jene vor den Kopf stoßen, die sagen, es geht nicht ohne EU, noch die, die meinen, innerhalb der EU ist gar nichts möglich. Aber man kann diese Diskussion ja mal beiseite lassen und gemeinsam ein Bild entwerfen, worin unsere Alternative besteht. Wenn das klar ist, ist es auch möglich, entsprechende Strategien zu erarbeiten.

Sind diese Fragen in der Linksfraktion im Europäischen Parlament Fraktion geklärt? Die GUE/NGL gilt wegen der sehr unterschiedlichen Positionen der dort vertretenen Parteien zur EU als gelinde gesagt etwas kompliziert.
Alles, was es in der Linken an unterschiedlichen Vorstellungen zu Europa gibt, ist bei uns in der Fraktion existent. Und es ist nicht immer einfach, dort wirklich die Balance zu finden und das in den Vordergrund zu stellen, was uns wirklich zusammenhält als linke Fraktion.

Was hält sie zusammen?
Uns hält zusammen die klare Position, dass die EU eine Friedens- und eine soziale Union werden muss. Wir brauchen soziale Mindeststandards innerhalb der Europäischen Union. Aber schon bei der Umsetzung, wie sie gestaltet werden sollen, gibt es Differenzen. Uns hält sehr zusammen – mehr als noch vor zwei, drei Jahren – die Frage, den Rechtsextremismus zu bekämpfen. Wir betrachten den Rechtsruck als wirkliche Gefahr. Rechtsextremismus und Antisemitismus, das sind im Moment sehr große Herausforderungen. Wir setzen uns gemeinsam für eine humanistische EU-Politik ein, eine europäische Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik, die eben verhindert, dass Menschen im Mittelmeer sterben müssen. Und dafür, dass Solidarität wieder in dem Sinne interpretiert wird, wie es der Begriff meint. Es ist eben keine Solidarität, wenn zum Beispiel Ungarn geholfen werden soll, seine Außengrenzen zu befestigen.

Und was trennt sie?
Konfliktpunkte sind unter anderem die Fragestellungen, wie europäisch sich die EU-Mitgliedsstaaten, die Wirtschaft und Gesellschaften aufstellen müssen. Wie viel Nationales braucht es in Europa, wie viel Europäisches, Internationales, Globales? Wie ist denn unser Verhältnis zur Globalisierung? Wie wichtig sind den jeweiligen Parteien, die natürlich auch ihre nationalen Bedingungen im Blick haben, die Entwicklungen in den anderen Regionen der Europäischen Union? Ist Demokratie tatsächlich nur auf nationaler Ebene möglich, wie einige von uns meinen? Brauchen wir nicht eine Balance zwischen den nationalen und der EU-Ebene? Ich unterstütze natürlich die Kritik, dass die nationalen Parlamente zu oft nachvollziehen müssen, was andere schon vorab auf europäischer Ebene entschieden haben. Aber wir brauchen beides. Mehr Macht den Parlamenten und mehr direkte Entscheidungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger.

Sie haben Anfang der Legislatur in der Fraktion versucht, sich bestimmte Arbeitsprinzipien zu geben, die so aussehen sollten, dass eine Minderheit nicht die Mehrheitsmeinung blockieren kann, und eine Minderheit nicht von der Mehrheit dominiert werden soll. Hat sich das bewährt?
Die GUE/NGL wird nur als konföderale Fraktion existieren können Wir haben wirklich alle eine völlig andere Geschichte und politische Erfahrungen. Das Scheitern des osteuropäischen Staatssozialismus steckt uns allen in den Knochen. Aber wir haben es eben auch unterschiedlich verarbeitet. Die Linken in Osteuropa – in dem Sinne zähle ich jetzt die ostdeutsche Linke mal dazu – hat ihre Erfahrungen gemacht, was der Untergang eines Systems bedeutet, was der mit sich bringt. Andere sind mit anderen Formen der gesellschaftlichen Transformation »aufgewachsen«. Schon allein deshalb beantworten Linke die Frage, wie mit notwendigen Veränderungen umgegangen werden kann, sehr verschieden. Also es gibt überhaupt keine Alternative zu dem Grundsatz, konföderal zu bleiben. Aber Konföderalität kann nicht bedeuten, dass jeder macht, was er will und letztendlich überhaupt keine Sichtbarkeit, keine Gemeinsamkeit zustande kommt. Wir haben uns zwar Arbeitsprinzipien gegeben, es aber nicht geschafft, diese mit konkreten Regeln zu untersetzen. Das heißt, die Arbeitsprinzipien stehen, aber sie können weit interpretiert werden. Also wenn ich sage, es darf zum Beispiel keine Mehrheit eine Minderheit einfach zur Seite schieben und andererseits darf es auch kein Vetorecht einer Partei geben, dann ist aber schnell eine andere Partei da, die sagt, ich sehe das genauso. Damit ist es kein Veto mehr. Es muss uns künftig besser gelingen, Blockaden zu überwinden und Kooperationsformen zu entwickeln, die wir brauchen, um uns auf das Gemeinsame konzentrieren zu können. Über solche und weitere Herausforderungen, vor denen die Fraktion in der neuen Legislatur stehen wird, wollen wir Ende des Jahres mit den Führungsspitzen aller in der GUE/NGL vertretenen Parteien in Brüssel beraten.

Angesichts dieser Differenzen: Was können Sie auf der Haben-Seite für Ihre Fraktion verbuchen?
Da gibt es einiges. Nur ein paar Beispiele: Wir haben sehr aktiv die wichtigsten Entscheidungen zum Datenschutz mit beeinflusst. Wir haben dafür gekämpft, im Europaparlament eine mehrheitliche Position durchzusetzen zur Reform von Dublin-Regelungen zur Asyl- und Migrationspolitik, für legale Wege in die EU und für eine solidarische Umverteilung der ankommenden Menschen zwischen den Mitgliedsländern. Ohne uns gäbe es heute keine Mehrheiten für die Einführung von sozialen Mindeststandards, Mindesteinkommen und eines Mindesteinkommensrahmen innerhalb der Europäischen Union. Die Brexit-Verhandlungen sehe ich auch auf der Haben-Seite sehen. Als Fraktion haben wir insbesondere die Position der EU-Verhandler zu Nordirland und zur Bewahrung des Karfreitagsabkommens beeinflusst und auch die Verteidigung der Rechte von EU-Bürger*innen in Großbritannien sowie von britischen Bürger*innen in der EU. Auch in der Auseinandersetzung um die internationalen Handelsverträge der EU sind wir immer wieder eine feste Adresse für all jene, die für mehr Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit für soziale und ökologische Standards kämpfen. Nicht zu vergessen, unser gemeinsames Auftreten gegen jede Form von Austeritätspolitik durch die EU-Institutionen. Da sind unsere Positionen als Linke deutlich erkennbar geworden.

Sie haben in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, dass die LINKE-Delegation in Brüssel für ihre Arbeit nicht die notwendige Unterstützung aus den Führungskreisen der Partei bekommt. Läuft die Zusammenarbeit besser?
Ich bin nach wie vor vorsichtig optimistisch. Die Zusage, die uns der damalige Bundesgeschäftsführer Harald Wolf im Januar bei seinem Besuch in der Delegation gegeben hat, gilt. Die Delegation DIE LINKE wird ihren Beitrag leisten. Wir werden jetzt natürlich auch mit Jörg Schindler, dem neuen Bundesgeschäftsführer, das Gespräch suchen. DIE LINKE in Deutschland trägt zweifellos auch eine große Verantwortung für die Zusammenarbeit der Linken in Europa, das betrifft unsere Fraktion und natürlich die Europäische Linkspartei. Allerdings bleibt sehr sehr wenig Zeit. Wir müssen ohne langfristiges Palavern sofort in die Arbeitsbeziehung einsteigen – und das darf sich nicht nur auf das Europawahlprogramm beziehen.

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

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