„Wir müssen aufhören, unsere eigenen Wählerinnen und Wähler zu demobilisieren“

Der LINKE-Politiker Wulf Gallert über die Europa-Politik seiner Partei und die Wahlen zum EU-Parlament 2019

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Ein Interview mit Wulf Gallert — das Gespräch führte Uwe Sattler

Wulf Gallert

Wulf Gallert ist Vizepräsident des Landtags von Sachsen-Anhalt. Der Politiker gehört dem Geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN an und ist stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Kommission. Er ist zudem und einer der beiden Koordinatoren der europapolitischen Sprecher der Partei.

Uwe Sattler: In einem Jahr sind Europawahlen, ist sich Ihre Partei dieser Tatsache bewusst?

Wulf Gallert: Mir wäre es lieber, sie wäre sich dessen etwas bewusster, als ich das bisher registriert habe. Wir haben üblicherweise vor den Wahlen eine höhere Diskussionsintensität, was die Zukunft Europas anbelangt. Allerdings gehen die Debatten vor dem Juni-Parteitag eher nicht in diese Richtung. Was ich persönlich bedaure, aber vor dem Hintergrund der Priorität von Personalentscheidungen auch ein bisschen verstehe. Meine Prognose ist: Spätestens nach dem Parteitag wird die LINKE, ob sie will oder nicht, sich mit dieser Diskussion wieder intensiver beschäftigen. Und es gibt auch noch einen zweiten Grund: Ich habe ein bisschen flapsig gesagt, selbst bei den letzten Europawahlen hat, zumindest in unserem Wahlauftritt, die Haltung zur EU keine zentrale Rolle gespielt. Das werden wir uns nicht noch einmal leisten können. Die europapolitische Diskussion hat inzwischen die Stammtische erreicht und ist weit weg davon, nur eine Akademikerdebatte zu sein. Wir müssen den europapolitischen Diskurs auf unseren Tisch ziehen, auch wenn es zu einigen Punkten Dissens gibt.

 

Das heißt?

Nicht erst seit heute, und ich prognostiziere das auch für die nächsten Jahre, hat die LINKE eine ziemliche Breite in der Positionierung zur europäischen Integration. Es gibt die klare Pro-Haltung von Katja Kipping oder von Gregor Gysi, es gab den Antrag für eine »Republik Europa«, auf dem letzten Bundesparteitag, dagegen die Standpunkte von Sahra Wagenknecht oder Fabio Di Masi. Es gibt die  Debatte um „Plan B“ oder die Frage, wie wir die Position von Jean-Luc Mélenchon und dessen Identifikation mit dem Nationalstaat als Alternative zur EU einschätzen. Ich befürchte, dass wir mit solch einem diffusen Erscheinungsbild die Wählerinnen und Wählern nicht abholen können.

 

Klingt wie eine Lizenz zum Scheitern.

Die Bemerkung ist berechtigt. Wir müssen uns fragen, was zumindest tendenziell mehrheitsfähig in dieser Partei ist. Und dann vor allem: Was sind die Erwartungen der potentiellen Wählerinnen und Wähler der eigenen Partei? Denn letztlich geht es um diese und nicht um „Flügel“ der LINKEN. Nimmt man Daten aus Umfragen der Jahre 2017/18, ergibt sich eines: Es existiert eine ganz deutliche Mehrheit, die das Ziel der europäischen Integration klar befürwortet. Nach dem Brexit sind 82 Prozent der WählerInnen der LINKEN für mehr europäische Integration, für die Abgabe weiterer Kompetenzen Richtung Europa. Nur 17 Prozent sagen dazu nein, wir wollen mehr nationalstaatliche Verantwortung. Das ist ein Bild, das sich in verschiedenen Umfragen wiederfindet. Kritischer wird aber das reale Wirken der EU gesehen. Da sagen 30 bis 45 Prozent der linken Wählerinnen und Wähler »Vor- und Nachteile halten sich die Waage«. Um die 50 Prozent sehen deutlich mehr Vorteile, etwa 10 Prozent mehr Nachteile durch die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU.

 

Gibt es dabei Differenzen zwischen Ost und West?

Die sind nicht erfasst. Aber natürlich gibt es eine Reihe von Studien, die besagen, dass Ältere, Arbeiter, Arbeitslose und im ländlichen Raum lebende Menschen tendenziell stärkere Angst vor der Globalisierung haben und damit auch stärkere Angst vor der europäischen Integration. Da dieser Anteil der linken Wählerschaft im Osten größer ist, muss man davon ausgehen, dass hier die Skepsis größer ist, ohne aber die Mehrheitsverhältnisse vollständig umzukehren.

 

Wenn sich LINKE-PolitikerInnen eher allgemein zu Europa äußern, können sie nichts falsch machen.

Wir haben in der Partei leider zu oft erlebt, dass wir angesichts von diesen oder jenen Wahlen gesagt haben, lasst uns den Streit, auch wenn er konstruktiv ist, lieber ein bisschen zurückstellen. Das ist aber ein Problem wenn es darum geht, eine offensive europapolitische Position zu vertreten. Zumal ich glaube, dass schon in den letzten Jahren das Interesse in der Bevölkerung an diesen  Fragen etwas höher war, als wir eingeschätzt haben. Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Mit Sicherheit wird bei der Europawahl 2019 Europa eine deutlich größere Rolle spielen als bei vorherigen. Europawahlen waren bislang vor allen Dingen nationale Testwahlen, bei denen unter nationalen Aspekten abgestimmt wurde. Angesichts von Griechenland-Krise, Brexit oder dem Aufschwung der Rechten ist bereits in anderen EU-Staaten erkennbar, dass sich das Verhältnis dreht. Die Frage »Wie hältst du es mit der Europäischen Union, wie hältst du es mit der europäischen Integration?« wird also eine deutlich größere Bedeutung für Wahlentscheidungen haben.

 

Das ist die Gretchenfrage.

Genau. Und dahinter wiederum steht die Frage, ist die Europäische Union reformierbar oder nicht.

 

Sie haben drei inhaltliche Richtungen innerhalb der Partei ausgemacht, die sich sehr unterschiedlich zu Europa aufstellen: Die „Republik Europa“, die soziale Standards und einheitliche Rechtsprechung will, die „radikalen Internationalisten“, die die EU als neuen, großen Nationalstaat sehen und ihn deshalb ablehnen, und die Anhänger eines „sozialen Nationalstaats“, die die EU vor allem als Gefahr für den Sozialstaat kennzeichnen.

Ja, das ist idealtypisch gedacht, heißt aber nicht, dass auch diejenigen, die an eine Reformierbarkeit der EU glauben, nicht deren radikalen Politikwechsel fordern. Tatsache ist ebenso, dass jede der Gruppierungen für sich keine Mehrheit in der Partei hat. Bei allem Verständnis für verschiedene Meinungen zur EU ist es jedoch aus meiner Sicht zum einen so, dass die europäische Integration nicht rückgängig zu machen ist. Eine Verlagerung der Probleme auf die nationale Ebene löst sie weder bei der Auseinandersetzung um soziale Errungenschaften, des Kampfes um legale Fluchtwege oder gegen Aufrüstung und Militarisierung. Zum anderen ist Europa inzwischen vor allem bei jungen Menschen, die das soziale und kulturelle Kapital dafür haben, europäisch zu leben, eben ein Lebensgefühl. Sie fühlen sich darum auch als Europäer und als Deutsche.

 

Also müsste ganz klar ein pro-europäischer Wahlkampf geführt werden mit dem Anspruch, die gegenwärtige EU zu verändern?

Ich denke schon. Und das ist auch möglich. Wir haben nicht das Problem, dass unsere potentielle Wählerschaft in zwei völlig konträre Gruppen auseinanderfällt. Nämlich die einen, die hundert Prozent Pro-Europa sind und den Nationalstaat überwinden wollen, und die andere, die die EU als neoliberales Teufelswerk  betrachtet und meint, beispielsweise Sozialpolitik ließe sich nur auf nationalstaatlicher Ebene organisieren. Die große Mehrheit ist aufgeschlossen gegenüber der europäischen Integration, auch wenn sie vollkommen zu Recht den Zustand der Europäischen Union kritisiert. Schauen Sie, die Wählerinnen und Wähler der LINKEN sind täglich auf der Straße mit grassierendem Nationalismus und Rassismus konfrontiert. Sie werden angegangen, wenn sie im Gemeinderat für die LINKE sitzen oder in einer Initiative für Flüchtlinge aktiv sind. Die europäische Integration ist für viele linksorientierte Menschen auch die Antwort auf Nationalismus, eine Positionierung gegen Rassismus und den Aufschwung der Rechten. Und gerade für den Osten Deutschlands gibt es noch einen anderen Zugang zur Europäischen Union: Wir haben mit den europäischen Strukturfonds seit zwanzig Jahren viele Milliarden Euro in die Sanierung der Regionen gesteckt. Wer erlebt hat,  dass zum Beispiel das Gemeindehaus mit Europamitteln saniert worden ist, oder die Schule, dass der Kindergarten mit EU-Mitteln gebaut worden ist und Weiterbildungsprogramme für Beschäftigte und Arbeitslose mit Geldern aus dem Europäischen Sozialfonds finanziert wurden, baut nicht ein solches  Angstpotenzial vor der Europäischen Union auf, wie es fataler Weise in der Migrationsfrage mobilisiert wurde. Schließlich waren gerade dabei, EU-Mittel in die Regionen zu holen, unsere Abgeordneten sehr engagiert. Das wissen die Leute dann auch am Wahltag.

 

Kritiker werden Ihnen vorwerfen, dass die Linken angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament nur wenig bewirken können.

Das ist so nicht richtig. Die Linksfraktion im Europäischen Parlament und nicht zuletzt unsere Abgeordneten in der GUE/NGL haben mehr erreicht, als beispielsweise im Deutschen Bundestag möglich wäre. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Vor wenigen Wochen gab es im Europaausschuss des Landtages von Sachsen-Anhalt eine Diskussion um die Positionierung des Deutschen Landkreistages zur EU. Interessanterweise hat der Vertreter der Landkreise festgestellt, dass der Druck der EU auf die Kommunen in Deutschland zur Privatisierung öffentlicher Güter deutlich abgenommen hat. Das kann man doch auch als Erfolg der LINKEN verbuchen. Oder nehmen Sie die Initiative gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, in der die Linken mit anderen Bewegungen gekämpft hat. Auch diese war erfolgreich. Aber natürlich gibt es von konservativer und neoliberaler Seite massive Versuche, solche Ergebnisse wieder rückgängig zu machen. Das müssen wir verhindern, vor allem damit, dass wir die Rahmenbedingungen für die europäische Integration verändern. Wir müssen aufhören, unsere eigenen Wählerinnen und Wähler  zu demobilisieren, indem wir ihnen erzählen, dass der politische Kampf um ein anderes Europa, eine andere Welt,  hoffnungslos wäre.

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

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