„Wir erleben seit Jahren in Europa eine Rechtsverschiebung“

Der Politikwissenschaftler Jan Rettig über die Europawahlen und den erwarteten Zuwachs für Rechtsaußenparteien

Vorbereitet auf die Wahl: Europaparlament in Brüssel © Sattler

Ein Interview mit Jan Rettig — das Gespräch führte Uwe Sattler

Jan Rettig

Jan Rettig ist Politikwissenschaftler und beobachtet extrem rechte Parteien auf europäischer Ebene und deren Zusammenarbeit. Er publiziert dazu unter anderem in »Der Rechte Rand« und auf antifascisteurope.org.

Nicht erst das Zerwürfnis zwischen Frankreichs Rechtsextremen unter Marine Le Pen und der deutschen AfD – und deren Ausschluss aus der Rechtsfraktion ID im Europaparlament – haben ein Thema in die Öffentlichkeit gebracht: Rechtsaußenparteien greifen nach den Schaltstellen in der EU.

Momentan ist viel davon die Rede, dass wir bei der Europawahl im Juni einen kräftigen Rechtsruck erleben werden. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?

Ich halte den Begriff Rechtsruck für etwas irreführend. Denn wir erleben seit Jahren in Europa eine kontinuierliche politische Rechtsverschiebung. Aber ja, es wird bei der Europawahl einen weiteren Zulauf für rechte und rechtsextreme Parteien geben. Die Parteien, die derzeit in der aktuellen extrem rechten Fraktion im Europaparlament, die sich »Identität und Demokratie« nennt, zusammenkommen, werden laut Prognosen auf über 80 Sitze kommen. So viel hatten sie noch nie. Wahrscheinlich werden die Rechtsaußenparteien die viertstärkste Fraktion im EU-Parlament bilden. Hinter der »Identität und Demokratie« werden die »Europäischen Konservativen und Reformer« – diese Fraktion vereint vor allem sogenannte rechtspopulistische und nationalkonservative Parteien wie die polnische PiS – mit etwa 70 plus Sitzen die fünft­stärkste Kraft. Es kann natürlich sein, dass sich da noch mal etwas verschiebt und sich die Reihenfolge verändert. Aber unterm Strich werden die extremen Rechten im Europaparlament so stark vertreten sein wie nie zuvor. Es ist deutlich mehr als eine Angstkampagne, wenn demokratische Kräfte auf diese Gefahr hinweisen.

Würde eine wachsende Zahl rechts­extre­mer Abgeordneter praktisch bedeuten, dass sich der gesamte politische Diskurs und die politische Entscheidungsfindung im Europaparlament Richtung rechts verlagern werden?

Viele Diskurse, allen voran der Antimigrationsdiskurs, sind ja schon ziemlich weit nach rechts verschoben. Das passiert unter dem Druck der extremen Rechten, aber exerziert wird es eben von Christdemokrat*innen, Konservativen, Sozialdemokrat*innen, Liberalen, auch von den Grünen. Es wird sich im Europaparlament nach den Wahlen aber nicht wahnsinnig viel ändern, weder in der Arbeitsweise, noch im Diskurs oder in den Entscheidungen.

Trotz des dann veränderten Kräfteverhältnisses?

Der Hintergrund dafür ist, dass das Europäische Parlament nicht wie die bürgerlichen nationalen Parlamente funktioniert. Den Europaabgeordneten steht keine Regierung gegenüber. Die rechten Abgeordneten nutzen zwar ausgiebig die ihnen zustehende Redezeit, um ihre demokratiefeindlichen Positionen vorzutragen. Aber die Erfahrung aus den vergangenen Legislaturen ist eben auch, dass sie in der eigentlichen Sacharbeit dann doch eher weniger präsent sind. Trotzdem bleibt es eine große Gefahr, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten das EU-Parlament als Bühne nutzen, um sowohl in die europäische als auch in ihre jeweilige nationale Öffentlichkeit zu wirken.

Im Europaparlament hat praktische jede Parteienfamilie ihre eigene Frak­tion. Aber es gibt gleich zwei Fraktionen am rechten Rand sowie einige fraktionslose Abgeordnete, die dem Rechtsaußenspektrum angehören. Ist die Rechte in Europa so fragmentiert, dass es keine strukturelle Zusammenarbeit gibt?

Das würde ich so nicht sagen. Sicher gibt es eine Fraktionierung, aber die Rechte in Europa hat nicht erst gestern zusammengefunden. Das spiegelt sich auch gut im Parlament wider: »Identität und Demokratie« hat einige Vorläufer und ist als Fraktion schon über zwei Legislaturperioden konstant. Auch, wenn einzelne Abgeordnete abgegangen sind. Die »Europäischen Konservativen und Reformer« gibt es mittlerweile seit drei Legislaturperioden. Da hält man schon zusammen, auch wenn es in einigen Fragen unterschiedliche Positionen gibt. Das ist aber im Europaparlament generell kein Problem; es ist in allen Fraktionen üblich, dass nicht zu hundert Prozent gleich abgestimmt wird, wie man das hierzulande aus der Fraktionsdisziplin im Bundestag kennt.

Jenseits des Parlaments kommt es auf europäischer Ebene immer wieder zu Versuchen der Zusammenarbeit, die sich aber meist auf öffentlichkeitswirksame »Gipfeltreffen« beschränkt. Was ist die Klammer der Rechten?

Die Klammer ist die rechte Ideologie: Es gibt die Rechte, die die EU massiv zurückbauen will. Es gibt die Rechte gegen Feminismus. Es gibt die Rechte gegen Immigration, es gibt die Rechte gegen den Green Deal. Aber klar, es gibt »die Rechte« nicht als Organisation. Aber mit ihren ideologischen Positionen finden die Parteien schon zusammen. Allein im April haben drei größere Veranstaltungen stattgefunden, quasi auf europäischer Ebene, wo sich Vertreter*innen aus genau diesen verschiedenen rechten Spektren, die ich jetzt jeweils benannt habe, zusammengefunden haben. Und an der auch rechte Abgeordnete aus dem Europaparlament teilgenommen haben. Erst dieser Tage gab es eine Konferenz in Bukarest, sinnigerweise unter dem Motto »Make Europe great again«. Im laufenden Wahlkampf beobachten wir sogar eine Zunahme solcher Treffen.

Und was spaltet die Rechte?

So anachronistisch das ist, aber es ist vor allem der Russland- und Nato-Bezug, der trennend durch die extreme Rechte geht. Daneben gibt es durchaus auch Differenzen hinsichtlich des Klimawandels. Da reichen die Positionen von dessen Leugnung bis zur Anerkennung, auch des menschlichen Anteils daran.

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

Sie wollen Kontakt zu uns aufnehmen?

die-zukunft.eu freut sich auf Ihre/auf Eure Vorschläge für Beiträge zur Debatte über ein anderes Europa. Bitte geben Sie Ihren Namen, die Organisation sowie eine Kontaktadresse an.