„Wir denken sehr stark in Kosten-Nutzen-Rechnungen der Wirtschaft“
Anna Lindorfer zu grünen Visionen und Green Washing, zum „Bruttonationalglück“ und den Brief der GreenDeal4Youth-Initiative an die EU-Kommissionschefin
Sie haben Ende November gemeinsam mit der GreenDeal4Youth Initiative einen offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Vizepräsident Frans Timmermans gesendet. Darin fordern Sie, als Jugendliche und junge Erwachsene besser in die Ausarbeitung des Green Deals der EU eingebunden zu werden. Haben Sie bereits eine Antwort erhalten?
Tatsächlich noch nicht, nein. Das einzige was gerade passiert, ist, dass der Green Deal bereits verhandelt wird und dass die Ambitionen darin nicht unseren Forderungen entsprechen. Nach der Veröffentlichung des Green Deals soll es eine Phase geben, in der Revidierungen zulässig sind. Dabei hoffen wir umso mehr, dass die Jugend endlich ein Mitspracherecht bekommt.
Den Green Deal hatte von der Leyen bereits in ihrer Antrittsrede angekündigt. Die neue Kommissionspräsidentin ist Mitglied einer konservativen Partei und ist bis dato nicht unbedingt als radikale Umweltpolitikerin aufgefallen – kaufen Sie ihr diese Ambitionen ab?
Grundsätzlich ist es positiv zu sehen, wenn es Politikerinnen und Politiker gibt, die Visionen haben. Die Frage ist, was ist Green Washing und was ist eine reale Vision. Sie spricht mit großen Worten, aber wenn man sich die Forderungen durchliest, sieht man sehr schnell, dass da keine ernsthafte Intention dahintersteckt. Beispielsweise ist in puncto Green Investments eher von Dingen die Rede, die die Wirtschaft weiter fördern, anstatt eine wirkliche Umstellung, eine wirkliche Transformation unserer Gesellschaft voranzutreiben.
Im Green Deal heißt es, Umwelt- und Klimaschutz kann es nur in Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum geben. Ihr fordert im Brief, anstatt dem BIP andere Wohlstandsindikatoren heranzuziehen – wie soll das aussehen?
Es gibt dazu unterschiedliche Formen. In Butan wird beispielsweise das „Bruttonationalglück“ gemessen. Das hört sich jetzt sehr nett an, aber konkret geht es darum, das Wohlergehen der Menschen zu messen. Das ist natürlich schwierig an einer Zahl festzumachen, aber vielleicht brauchen wir ja gar keine konkrete Zahl dafür. Es geht darum, das umfassender zu denken. Aktuell denken wir sehr stark in Kosten-Nutzen-Rechnungen der Wirtschaft. Laut diesen Rechnungen könnte sich auch eine Erwärmung von 3,5 Grad „auszahlen“. Davon müssen wir uns verabschieden. Wir müssen uns überlegen, was wirklich notwendig für das Wohlergehen der Menschen, der Umwelt und Natur ist.
Fridays for Future ist bekannt als junge, dynamische, lautstarke und bunte Bewegung – ungefähr das Gegenteil von dem, was das Image der EU-Institutionen prägt. Wieso adressiert ihr euer Plädoyer ausgerechnet dorthin?
Weil die EU für uns relevant ist. Die Klimakrise kann nur in die Hand genommen werden, wenn die Rahmenbedingungen angepasst werden. Wir versuchen, uns als Individuen klimaneutral zu verhalten und scheitern dabei schon, wenn wir bloß Einkaufen gehen. Wie kann ein Apfel aus Chile billiger sein als ein Bio-Apfel aus Österreich? Dabei geht’s natürlich auch um soziale Gerechtigkeit. Es kann nicht sein, dass ich dadurch, dass ich weniger verdiene, mich automatisch klimaschädlich verhalten muss. Dazu braucht es klare und starke Gesetze, auf EU-Ebene und auf nationaler Ebene.
Der Altersdurchschnitt im EU-Parlament ist 51 Jahre, es gibt kaum einen Abgeordneten jünger als 30. Hat diese Institution ein Verständnis für die Anliegen der Jugend?
Ich glaube, hier braucht es eine starke Verjüngung und eine andere Kultur. Momentan ist alles abhängig von bestimmten Interessen. Wir sehen, dass wir ganz schwer ankommen gegen die Öllobby oder Lobbys der fossilen Industrie. Jüngere Politikerinnen und Politiker sind meist noch nicht so in veraltete Systeme eingewoben, die aus dem fossilen vorherigen Jahrhundert entstammen.
Es kann sich ja jede und jeder Volljährige zu einer Wahl aufstellen lassen. Wieso ist diese Verjüngung nicht schon längst passiert?
Ich denke, das hängt mit dem Wahlsystem der EU zusammen. Wir wählen noch immer nationale statt transeuropäische Parteien. Sich da als junger Mensch zu engagieren, ist nicht nur sehr schwierig, wenn man keinen Parteienhintergrund hat, sondern auch sehr unattraktiv. Man überlegt sich schon, will man Teil von einem System sein, in dem ich nur überleben kann, wenn ich Teil der Lobby werde. Da braucht es auf jeden Fall einen change the debate. Wir müssen auf EU-Ebene neue Instrumente entwickeln. Die EU muss sich öffnen, muss sich auch für junge Menschen attraktiver gestalten, damit wir hier eine Zukunft sehen.
Aber in nationalen Parlamenten sieht es doch ähnlich aus, auch hier sind junge Menschen kaum vertreten …
Ich glaube, diese Neu- oder Weiterentwicklung der Demokratie ist genauso auf nationaler Ebene gefragt. Demokratie ist eine total tolle Form, wie man als Gemeinschaft zu Entscheidungen und Konsens kommt. Aber wir dürfen die Demokratie nicht als etwas Starres betrachten. Wir müssen uns trauen, zu sagen: Wir kommen zu keinen Lösungen, die uns alle befriedigen. Also müssen wir hier etwas Neues entwickeln. Wir brauchen mehr Mitsprache der jungen Bevölkerung, mehr Mitsprache von Bürgerinnen und Bürgern allgemein.
Vor einigen Jahren hieß es, die Jugend sei „politikverdrossen“, „demokratiemüde“ oder „desinteressiert“, heute würde das kaum noch jemand ernsthaft behaupten. Hätten Sie sich das vor zwei Jahren so vorstellen können?
Ich kann mich noch erinnern, als ich in meinem Matura-Jahr einen Aufsatz über Aristoteles geschrieben habe, der im alten Griechenland gesagt hat, die Jugend sei politikverdrossen und faul. Offensichtlich dürfte es über Jahrhunderte hinweg immer so gewesen sein, dass die ältere Generation über die Jüngere urteilte, diese sei faul und will nicht Teil unserer Gesellschaft sein. Ich denke, dass die Jugend heute vielleicht nicht viel anders ist, aber dass die Dringlichkeit eine andere ist, weil wir kurz vor einem Kollaps unseres ökologischen Systems stehen. Die Jugend sieht keine andere Möglichkeit mehr als aufzustehen und zu sagen „Stopp – jetzt brauchen wir sofort eine Veränderung!“. Dass Emissionen ab 2020 sinken, ist unsere einzige Möglichkeit unter 1,5 Grad zu bleiben. Das ist genau ein Jahr.
Gespräch: Johannes Greß
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