Wie hältst du es mit der EU, LINKE?
Die Diskussion über das Europawahlprogramm ist bitter nötig, weil der Entwurf einen zentralen Konflikt nicht löst, sondern zuspitzt.
Wenn wir den Realitäten und Erwartungen unserer Wählerinnen und Wähler wirklich gerecht werden wollen, muss die Einleitung des Wahlprogramms und die darauf aufbauende Tonalität unseres Wahlkampfs deutlich verändert werden.
Nun ist er da der Programmentwurf der LINKEN zur Europawahl.
Der erste Entwurf lag am 26.11.2018 vor. Dann hatte man noch eine Woche lang Zeit, Änderungsanträge für den Parteivorstandsbeschluss am 8. und 9. Dezember 2018 einzureichen. Faktisch war es also bisher nicht möglich, umfangreichere Änderungswünsche in die Debatte einzubringen, was die Diskussion letztlich auf den Bundesparteitag im Februar schieben wird. Und diese wird bitter nötig sein, weil der Programmentwurf einen zentralen Konflikt, der vor den Wahlen entschieden werden muss, nicht löst, sondern zuspitzt.
Trotzdem kann am Anfang festgestellt werden, dass der Programmentwurf eine wichtige Entscheidung trifft. Der auch in letzter Zeit noch spürbare Trend, nach der die zweifellos berechtigte Kritik an der EU in einem Zurück zur Nation münden müsse, ist im vorliegenden Papier ausgeschlossen. Diese eindeutige Position des Programmentwurfs darf durchaus als Fortschritt bezeichnet werden. Er ist nicht selbstverständlich, wenn wir uns die links verortete europäische Parteienlandschaft anschauen. Diese Positionierung des Programmentwurfs muss erhalten bleiben, denn jedwede Tonalität, die in die Richtung gehen würde „Wir sind gegen die EU und deshalb für ein stärkeres Deutschland“, würde nur der AfD in die Karten spielen, sowohl inhaltlich als auch im Wahlergebnis. Wer heute noch den Versuch unternimmt, soziale Sicherheit durch nationale Abschottung herstellen zu wollen, scheitert an den ökonomischen Realitäten und ethnisiert letztlich soziale Konflikte, etwas, was mit dem Grundverständnis einer linken Partei unvereinbar ist.
In einem anderen Punkt allerdings versagt der bisherige Programmentwurf. Und zwar in der Frage: Wie hältst du es mit der EU? Oder anders formuliert: Ist die EU unser Feld der politischen Auseinandersetzung oder ist sie unser Gegner? Diese zugegebenermaßen in der Linken strittige Frage führt dazu, dass der Programmentwurf faktisch in zwei sich ausschließende Teile zerfällt, die Einleitung und die sich anschließenden inhaltlichen Forderungen. Beide beantworten die oben gestellte Frage eindeutig, nur jeweils völlig gegensätzlich.
Schauen wir uns dazu einmal die Einleitung an: In diesem Textteil sind der Neoliberalismus und das Profitstreben in den (Europäischen) Verträgen irreversibel und dominant verankert. Die EU ist in den letzten zehn Jahren autoritärer und neoliberaler geworden. Wobei sich hier schon die Frage stellt, wie das überhaupt möglich war, wenn die EU ohnehin nichts anderes als ein neoliberales Kampfinstrument war und ist. Weiterhin führt die Einleitung aus, dass Demokratie, Frieden, soziale und ökologische Politik mit den Vertragsgrundlagen der EU nicht zu machen seien. Diese sind militaristisch, undemokratisch und neoliberal und müssten ersetzt werden. Aus der Sicht der Menschen ist die EU fern, sie bedroht soziale Sicherheit, ist die Ursache für Jugendarbeitslosigkeit und Steuerflucht der Konzerne, sie erzeugt Nationalismus. Unterm Strich, so könnte man zusammenfassen: Sie ist von Grund aus verdorben, also letztlich unser erklärter Gegner. Konsequenterweise spricht dann die Einleitung von der Notwendigkeit einer anderen EU, einer Alternative zur EU, was in dieser Logik voraussetzt, dass wir eigentlich alles daran setzen müssten, die EU zu zerstören, um eine andere aufbauen zu können. Dies übrigens nicht in weiter Ferne, sondern jetzt, schließlich reden wir hier über ein Wahlprogramm der nächsten fünf Jahre.
Diese Position ist falsch und sie ist gefährlich. Sie ist falsch, weil sie Gestaltungsmöglichkeiten, die Linke auch innerhalb der EU haben, in sträflicher Weise ignoriert. Sie ist falsch, weil sie eine politische Alternative suggeriert, die die Kräfteverhältnisse innerhalb Europas nicht beachtet und auch in den Augen der meisten linken Wählerinnen und Wähler nicht realistisch ist. Und sie ist gefährlich, weil die aggressive Anti-EU-Rhetorik letztlich nicht als Alternative, sondern als Verstärkung der nationalistischen Strategien wirken kann.
Darüber hinaus haben potenzielle Wählerinnen und Wähler der LINKEN in der Mehrheit eine sehr viel differenzierte Einschätzung gegenüber der EU, diese finden sich in unserer Analyse überhaupt nicht wieder und stellen sich wahrscheinlich nicht ganz unberechtigt die Frage, warum denn bei einer so global vernichtenden Einschätzung der EU eine Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament überhaupt sinnvoll ist.
Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die grundsätzliche Zustimmung zur EU auch und gerade unter Menschen mit linken Grundeinstellungen nach dem Brexit stark angewachsen ist und zwar ohne ein wirkliches Zutun der EU. Das heißt, dass für einen erheblichen Teil der linken Wählerschaft ein möglicher Verlust der EU mit der drohenden Alternative eines Siegeszuges des Nationalismus einhergeht und nicht zuerst mit der Befreiung von einem neoliberalen Instrumentarium. Dieser Teil der linken Wählerschaft findet sich in der Einleitung zum Wahlprogramm nicht wieder, oder um es genauer zu formulieren, er wird demobilisiert oder aufgefordert, doch besser die Grünen zu wählen.
Das inhaltliche Problem wird noch deutlicher, wenn wir uns einen Satz aus der dazu gehörigen Wahlstrategie herausnehmen, der da lautet: „Es sind die stattfindenden sozialen Kämpfe und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die die EU grundlegend infrage stellen.“ Bisher sind aber die Streikenden bei Ryanair und Amazon nicht mit der Forderung in der Öffentlichkeit aufgetreten, die EU aufzulösen, ganz im Gegensatz zu den Farages, Salvinis, Le Pens, Orbans, Kaczynskis, Wilders, Höckes und Straches. Diese stellen die EU grundlegend infrage. Und sie tun es mit wachsender Energie. Ein möglicher Erfolg dieser Kräfte dürfte für jeden Linken allerdings eine Schreckensvorstellung sein. Die Einleitung des vorliegenden Wahlprogramms überzieht den zweifellos berechtigten Ansatz, sich von neoliberalen EU-Befürwortern deutlich abzugrenzen, so stark, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, und die Differenzen zur Anti-EU-Rhetorik von rechts drohen undeutlich zu werden.
Allerdings werden schon in der Einleitung die Widersprüche zwischen EU-Realität und EU-Beurteilung im vorliegenden Programm deutlich. Da wird auf einmal von Geldern aus dem EU-Haushalt gesprochen, die mit dem Ziel eingesetzt wurden, ein soziales Europa zu schaffen und für den regionalen Ausgleich zu sorgen (etwa ein Drittel des EU-Haushaltes, ein weiteres Drittel wird für den Bereich Agrar- und Umweltausgaben ausgegeben) und nun für Aufrüstung ausgegeben werden sollen. Der interessierte Leser stellt sich jetzt verwundert die Frage, wieso diese von Grund auf neoliberale und undemokratische EU bisher überhaupt Geld für solche Dinge ausgegeben hat, die doch dem zuvor beschriebenen Charakter der EU völlig widersprechen. Und in der Realität dürfte es vor allem in Ostdeutschland schwerfallen zu begründen, warum der große Teil von öffentlichen Infrastrukturprojekten, Schulsanierungen, die Bezahlung von Schulsozialarbeiten, die Finanzierung von Austauschprogrammen aus EU-Mitteln Ausdruck des neoliberalen Grundcharakters der EU sein sollen. Hier klafft die Erfahrungswelt vor Ort und die Einschätzung der EU so meilenweit auseinander, dass sich unser potentieller Wähler verwundert die Augen reiben dürfte.
Allerdings würden diese es nicht mehr tun, wenn sie nach der Einleitung noch den Mut hätten, das Wahlprogramm weiter zu lesen. Denn schon in dem danach folgenden Abschnitt „Gute Arbeit“ wird deutlich, dass das dominante Problem der EU nicht die Gemeinschaft ist, sondern ihre Mitgliedsstaaten es sind.
Dort und in dem darauf folgenden Abschnitt zur Lohnentwicklung wird die Differenziertheit der realen Politik der EU gut nachvollziehbar dargestellt. Dort steht richtigerweise, dass Tarifverträge und Gewerkschaften durch politische Entscheidungen in der EU geschwächt wurden. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an Griechenland, in dem allerdings nicht durch Institutionen der EU, sondern durch die Eurogruppe die Mindestlöhne gesenkt wurden, oder an das EU-weite Verbot, Tarifverträge in den Vergabegesetzen zu verankern.
In diesem Abschnitt fordern wir aber auch eine solidarische Lohnpolitik in allen Mitgliedsstaaten der EU und treten völlig richtigerweise für eine verbindliche europäische Mindestlohnregelung ein. Letztlich soll die Problem-EU hier also die Lösung bringen. Wir können nur hoffen, dass der potentielle Wähler durch die vorhergehende globale Einschätzung der EU nicht so demotiviert wurde, dass er an den Erfolg eines Kampfes für diese Forderung noch glaubt. Danach allerdings spricht das Wahlprogramm sogar davon, dass die Gewerkschaften und linken Parteien Erfolge erzielt haben, unter anderem bei der Ausweitung der Entsenderichtlinien. Und wir fordern im Wahlprogramm zu Recht, dass diese EU-Gesetze in Deutschland konsequent kontrolliert und durchgesetzt werden müssen. Weiterhin führt der Programmentwurf an, dass in der EU eine Richtlinie existiert, nach der Leiharbeiter nicht schlechter bezahlt werden dürfen als Festangestellte und dass diese Richtlinie von Deutschland unterlaufen wird. Als nächstes können wir hier lesen, dass das neue EU-Vergaberecht Spielräume für vernünftige Kriterien eröffnet, übrigens auch für Tarifverträge. Danach wundert man sich auch gar nicht mehr, dass wir eine Institution dieser EU, nämlich die europäische Arbeitsbehörde, sogar ausdrücklich stärken wollen.
Nach dieser Lektüre stellt sich die Frage, warum das Wahlprogramm unter der Überschrift Gute Arbeit und Gute Löhne zu einer ausgewogenen Differenzierung in der Lage ist, bei der auch auf Erfolge linker Politik verwiesen wird, an der es in der Einleitung zuvor scheitert.
Dieses Problem wird auch an einer anderen Stelle deutlich, nämlich der Einschätzung des militaristischen Grundcharakters der EU, wie sie in der Einleitung festgeschrieben worden ist. Zweifellos werden wir gerade Zeuge des massiven Versuchs, die EU zu einer Militärmacht zu entwickeln. Dazu muss klar gesagt werden, dass es bei diesen Versuchen nicht um die Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen in Abgrenzung zur USA geht, sondern um eine globale Angriffsfähigkeit und eine Verschärfung des Klimas gegen Russland. Dazu hat die europäische Kommission einen entsprechenden Verordnungsentwurf vorgestellt. Demnach sollen 13 Milliarden Euro von 2021 – 2027 aus dem EU-Haushalt für Rüstungsausgaben bereitgestellt werden (etwa 1,3 % des Haushaltsvolumens). Richtig ist allerdings auch, dass die Mitglieder der LINKEN im EP, insbesondere Sabine Lösing, gegen diese Richtlinie klagen, denn der Lissabonner EU-Vertrag verbietet die Finanzierung militärischer Projekte aus dem EU-Haushalt. Und es gibt durchaus Chancen, diese Verordnung vor dem Europäischen Gerichtshof zu Fall zu bringen. Letztlich wird auch an diesem Beispiel deutlich, dass die Charakterisierung der EU als hoffnungsloser Fall in der Sache falsch, demotivierend und deshalb letztlich unpolitisch ist.
Wollen wir bei der Europawahl wirklich gewinnen, heißt es klar zu sagen, was an dieser EU falsch ist und was wir ändern wollen. Dazu gehört zweifellos auch die Änderungen der vertraglichen Grundlagen. Allerdings wäre es ein entscheidender Fehler, die maßgeblichen Spielräume, die auch ohne Veränderung der Verträge der EU möglich sind zu negieren und es wäre fatal, wenn wir nicht auf bisherige Erfolge linker Kräfte auf der Ebene der EU verweisen und daraus Chancen für die Zukunft aufzeigen. Eine solche Differenzierung bei der Beurteilung der EU findet sich auch in allen entsprechenden Umfragen unter potentiellen Wählerinnen und Wählern der Linken.
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