Von der Nicht-Beachtung zum Nicht-Retten

Menschen mit Behinderung sind überproportional von der Corona-Pandemie betroffen und wurden dennoch vergessen. Von Katrin Langensiepen

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Als Frau mit Behinderung und Europaabgeordnete, die für ein inklusives Europa kämpft, ist es keine neue Erkenntnis, dass unsere Belange oft unbeachtet bleiben. In den vergangenen Monaten der Corona-Pandemie entwickelte sich diese Nicht-Beachtung jedoch zu einem Nicht-Retten von Menschenleben. Denn auch wenn man von Anfang an wusste, dass viele Menschen mit Behinderung besonders gefährdet sind, wurden gerade sie und ihre Angehörigen im Stich gelassen. Covid-19 hat uns noch einmal schmerzlich die Folgen mangelnder Inklusion verdeutlicht. Das abgeschottete Leben in Einrichtungen hatte für viele verheerende – teils sogar tödliche – Konsequenzen.
So ereignete sich die Hälfte der Coronavirus-Todesfälle in Europa in Pflegeheimen. Dort erhielten die Bewohner*innen nicht immer medizinische Hilfe: In einer Einrichtung in Rumänien wurden 242 Menschen mit Behinderungen infiziert, jedoch nicht ins Krankenhaus gebracht. Ähnliches ereignete sich in Spanien, wo die Region Madrid Heimen verboten haben soll, Bewohner*innen mit schwerwiegenden Vorerkrankungen ins Krankenhaus zu transferieren.
Es ist beängstigend, wie schnell Menschenrechte in Krisensituationen in den Hintergrund rücken. Plötzlich wurde das Prinzip »jedes Leben ist gleich viel wert« (gerettet zu werden) in Frage gestellt. Das gruselige Wort »Triage« tauchte auf. Menschen wurden »sortiert« und priorisiert. Wer beatmet wurde und wer nicht, hing in Pandemie-Hochburgen wie Italien und Spanien vom Alter und der Lebenserwartung ab. Als Mensch mit Behinderung hatte man so schlechte Karten – eine furchtbare Vorstellung, im Krankenhaus abgewiesen oder gar nicht erst dorthin gebracht zu werden.
Auch wenn nicht alle Menschen mit Behinderung zur »Risikogruppe« gehören und Angst vor einem tödlichen Virusverlauf haben, so wurden sie während der verschiedenen Lockdowns und Corona-Maßnahmen auch in anderen Bereichen allein gelassen. Vor allem Pflege- und Unterstützungsdienste fielen aus. In den Niederlanden gaben 60 Prozent an, dass die von ihnen benötigte Pflege aufgehört oder sich verringert habe. Auf EU-Ebene meldeten 74 Prozent der Pflegedienste, nicht über ausreichend Schutzausrüstung zu verfügen. Pflegende Angehörige und Eltern, etwa von Kindern mit geistiger Behinderung, waren mit der Betreuung zu Hause überfordert und bekamen keine Unterstützung. Aber auch Informationen zur Pandemie waren oft nicht barrierefrei und wurden nicht in Gebärdensprache oder einfache Sprache übersetzt. Für Menschen in Werkstätten gab es kein Kurzarbeitergeld. Ihr »Taschengeld« fiel einfach aus.
All das darf nicht unbeachtet bleiben. Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention müssen aufgeklärt und die Politik in die Verantwortung gezogen werden. Vielmehr noch müssen wir von der Krise lernen: Eine Konsequenz muss sein, dass Menschen mit Behinderung von Anfang an in das Krisenmanagement involviert werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass jeder Fünfte in Europa eine Form von Behinderung hat. Das sind 120 Millionen Menschen.
Aber auch jetzt, wenn das Leben langsam zur Normalität zurückkehrt, bleibt die Angst von Menschen mit Behinderung, aus Arbeits- und Sozialleben ausgeschlossen zu werden. Wir bleiben doppelt isoliert: räumlich und sozial. Wenn wir in Einrichtungen nicht gerade zwangsisoliert werden, zwingt uns das rücksichtslose Verhalten anderer in die Isolation. Auf der anderen Seite steigt der soziale Druck, zurück ins öffentliche Leben zu kehren, mit dem Homeoffice aufzuhören und wieder am Arbeitsplatz präsent zu sein. Verhalten, das für Angehörige der Risikogruppe aber weiterhin gefährlich sein kann.
Selbst als Europaabgeordnete mit gesicherter Anstellung spüre ich diesen Druck. Nach der Sommerpause beginnen die Plenarsitzungen wieder » in live« und damit auch das Reisen nach Brüssel und Straßburg. Doch solange wir keinen Impfstoff haben, besteht auch die Gefahr, sich mit dem Virus zu infizieren. Davor sollten wir uns so gut es geht gegenseitig schützen. Diskussionen über die Abschaffung der Maskenpflicht kann ich daher nicht nachvollziehen. Was es braucht, ist mehr Verständnis, Rücksicht und politisches Handeln derer, die sich halbwegs sicher fühlen können – denn nicht jeder hat dieses Privileg.

Ein Artikel von Katrin Langensiepen

Katrin Langensiepen

Katrin Langensiepen ist Sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Greens/EFA im Europäischen Parlament und einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung. Die ausgebildete Fremdsprachenassistentin ist u.a. Vizevorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten.

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