Türkei: Keine faulen Kompromisse mit Erdoğan!

Die linke Europaabgeordnete Özlem Demirel analysiert „die unfairste Wahl seit Jahren« und das Verhalten der EU

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Mit einem Ergebnis von rund 52 Prozent hat Recep Tayyip Erdoğan bei der Stichwahl in der Türkei am vergangenen Wochenende seine Macht erhalten. Ein normaler Wahlsieg war das allerdings nicht. Zurecht bezeichnete sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu die Wahlen als »die unfairste Wahl seit Jahren«: Das Wahlsystem war ungerecht, es gab keine Chancengleichheit, dafür aber Repression und Manipulation.

So war Kılıçdaroğlu weder im Staatsfernsehen, noch in den privaten Sendern auch nur annähernd angemessen vertreten, während Erdoğan stark überrepräsentiert war. Alle administrativen, ökonomischen und finanziellen Mittel des Staates wurden für die Regierungspartei und Erdoğan mobilisiert. Systematische Desinformationen und hemmungslose Verleumdungen des Herausforderers fanden statt. Auch war im Land eine deutliche Angst zu spüren vor dem Chaos, in das Erdoğan die Türkei hätte stürzen können, um seinen Platz nicht zu räumen, sollte er die Wahlen wirklich verlieren. Diese Angst hat er systematisch im Wahlkampf geschürt.

Seinen eigenen Wahlkampf hat Erdoğan auf kulturell und ethnisch polarisierende Propaganda konzentriert. Die sozialen Verwerfungen im Land, Vetternwirtschaft und Korruption, die wirklichen Sorgen der arbeitenden Menschen traten so in den Hintergrund. Dadurch hat er viele, im Grunde unzufriedene Wählerinnen und Wähler noch einmal in seinem Lager halten können. Vor allem in den ländlichen Gebieten Anatoliens und im Ausland hat diese Propaganda gewirkt. Das Konzept Kılıçdaroğlus, durch ein Bündnis mit Parteien aus dem rechten Lager Stimmen in den ländlichen Gebieten zu gewinnen, war dagegen nicht erfolgreich.

Erdogan geht aber nicht gestärkt aus den Wahlen hervor. Diejenigen aus den unteren sozialen Schichten, die Erdoğan in dem Glauben noch einmal gewählt haben, dass nur er in der Lage sei, die gravierenden wirtschaftlichen Probleme und gesellschaftlichen Herausforderungen des Landes zu überwinden, werden sehr bald schmerzhaft feststellen, dass es keine gute Wahl ist, den Bock zum Gärtner zu machen. Alle Wirtschaftsprognosen sagen der Türkei schwere Zeiten voraus. Die Prognosen basieren auf der Tatsache, dass Erdogan mit künstlich niedrig gehaltenen Zinsen und einer expansiven Geldpolitik es geschafft hat, eine wirtschaftliche Belebung vorzutäuschen: Auf Pump wurde der Konsum gefördert, die Exportindustrie am Laufen gehalten und große Entlassungswellen in der Industrie vertagt. Diese auf die Wahlen zugeschnittene Wirtschaftspolitik wird ihren Tribut fordern.

Bezeichnend ist, dass man Erdoğan aus allen westlichen Staaten und der EU zum Wahlsieg gratuliert hat, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie dieses Wahlergebnis zustande gekommen ist. Kein Wort davon, dass er in der Wahlnacht verkündet hat, der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas bleibe im Gefängnis, solange er an der Macht ist.

Der absehbar noch aggressivere Kurs Erdoğans scheint für die EU-Mitgliedstaaten kein Problem zu sein. Man bleibt pragmatisch. Die geopolitisch wichtige Rolle der Türkei im Nahen und Mittleren Osten ist bekannt. Zudem ist man erleichtert, dass der unwürdige Flüchtlingsdeal mit der Türkei weitergeht. Denn über die eigene Verantwortung für einen Friedensprozess in Syrien oder gar gegenüber geflüchteten Menschen möchte Brüssel lieber schweigen.

Das sollten wir aber nicht durchgehen lassen. Ein wesentlicher Bestandteil unserer Solidarität sollte darin bestehen, faule Kompromisse mit dem undemokratischen Regime in der Türkei zu verhindern. Andernfalls zahlen die Menschen vor Ort den Preis. Sie erwartet nun wirtschaftlich wie politisch harte Zeiten. Es wird zu weiteren Einschränkungen der Freiheitsrechte kommen. Doch nichts ist in Stein gemeißelt, denn das Wahlergebnis hat auch gezeigt, dass sich fast die Hälfte der Gesellschaft eine demokratischere Türkei wünscht. Ihnen gehört unsere Solidarität.

Ein Artikel von Özlem Demirel

Özlem Demirel

Özlem Alev Demirel (LINKE) ist Mitglied des Europäischen Parlaments. Sie ist u.a. im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung sowie im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten tätig. Sie gehört zudem dem Ausschuss für Beschäftigung und Soziales an.

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