Soziales Europa für alle!

Das Thema Armut muss auf die politische Agenda gesetzt werden

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Der Bereich Sozialpolitik ist keine Kernkompetenz der Europäischen Union (EU). Sie wird stattdessen in den zuständigen Gremien der Mitgliedsstaaten (MS) gestaltet und entschieden. Trotzdem ist die EU indirekt involviert, denn in den Verträgen verpflichten sich die MS, die in der Sozialcharta des Europarates seit 1961 verankerten Standards und Rechte einzuhalten. In dieser Charta werden 19 Grundrechte aufgeführt, u. a. das Recht auf Arbeit, gerechte Arbeitsbedingungen und Entlohnung sowie das Recht auf soziale Sicherheit und auf gesetzlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie.

Allerdings hat der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte, der die Einhaltung der Sozialcharta überprüfen soll, nicht die Kompetenz Sanktionen bei Regelverstößen auszusprechen. Durch diesen strukturellen Schwachpunkt war es möglich, dass ausgelöst durch die Finanzkrise von 2008/09  sich die EU für Austeritätspolitik einsetzte, die zu fatalen sozialen Missständen in den betroffenen MS führte.

Auch während der zeitweise starken Flüchtlingszuwanderung wurde an vielen Reaktionen deutlich, dass derzeit kein soziales und verantwortungsbewusstes Europa existiert. Die Einzelstaaten verfolgten ihre eigenen Interessen anstatt gemeinsam Lösungen zu finden und Solidarität über die Grenzen hinweg zu organisieren.

Die nationale Armutskonferenz (nak) macht sich sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene für ein soziales Europa stark. Die EU muss sozialer und gerechter werden.

Mit dem Ziel das Thema Armut auf die politische Agenda zu setzen hat sich 1991 die nationale Armutskonferenz (nak) als deutsche Sektion des europäischen Anti-Armutsnetzwerkes (EAPN, European Anti-Poverty Network) gegründet.

Der Kampf für eine solidarische Gesellschaft, gegen Armut und Ausgrenzung geht weit über den deutschen Tellerrand hinaus, denn viele Probleme sind im nationalen Kontext nicht mehr zu lösen. Der Nationalstaat kann den Herausforderungen der Zukunft nicht angemessen begegnen. Deshalb muss eine umfassende transnationale Strategie zur Armutsbekämpfung geschaffen werden, um Armut und die vielen negativen Konsequenzen für die Betroffenen langfristig abzuschaffen.

Heute ist die EU eher ein Binnenmarkt und eine Wirtschafts- & Währungsunion, aber morgen muss sie zu einer Sozialunion werden. Erfolgreiche europäische Politikansätze in den Bereichen Antidiskriminierungs- und Arbeitsschutz werden überlagert durch massive soziale Verwerfungen, zunehmende Armut und wachsende Ungleichheit, die das Ergebnis von Ungleichgewichten in der Währungsunion, Wettbewerbsdruck und Konsolidierungserfordernissen in der Krise sind.

Sozialpolitik auf europäischer Ebene muss deshalb neu gestaltet werden, indem die materiellen Kompetenzen der EU in diesem Bereich ausgeweitet werden.

Ein solcher Politikwechsel ist dringend geboten, als erster Schritt muss die vorherrschende neoliberale Ideologie durchbrochen werden. Die nak will die Integration fördern und hat die Vision eines föderalen Europas, das stark ist, aber subsidiär bleibt. Damit ist eine Föderation gemeint, die den Kommunen, Regionen und Staaten maximalen Spielraum belässt, die aber Rahmen und Standards zur Bedingung macht und zwar mit Ziel alle Menschen in ganz Europa von diesem Integrationsprozess profitieren zu lassen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen weitere Impulse gegeben und wichtige Maßnahmen umgesetzt werden:

  1. Die nak und EAPN setzen sich für eine bürgernahe, partizipative und demokratische EU ein. Um dem näher zu kommen, müsste u. a. das Europäische Parlament gestärkt werden, indem ihm das Initiativrecht eingeräumt wird, Gesetzesvorschläge einzureichen. Ebenso sind die politischen Entscheidungen transparenter zu organisieren und die Menschen und die Zivilgesellschaft stärker am Meinungsbildungsprozess zu beteiligen.
  2. In Europa soll weiterhin Frieden herrschen, deshalb muss die Integration so gestaltet werden, dass in Zukunft auch alle Menschen von ihr profitieren. D. h. allen muss die Möglichkeit gegeben werden, vergleichbar gute Lebensstandards zu verwirklichen. Hierfür braucht es eine ausgewogene und verbindliche Sozialstrategie, die nachhaltig den Zusammenhalt zwischen den MS und den verschiedenen Regionen verfolgt. Um die unterschiedlichen Stärken und Schwächen der einzelnen Regionen Europas auszugleichen, braucht es einen kontinuierlichen innereuropäischen strukturellen und finanziellen Ausgleich der Regionen. Idealerweise wird die EU auf lange Sicht zur Tarifunion. Überdies gilt es auch die Schieflage bei der Einkommens- und Vermögensverteilung der Menschen aufzuheben, also Reichtum umzuverteilen.
  3. Um glaubhaft Armutsbekämpfungspolitik umzusetzen, müssen in der EU verbindliche gemeinsame Mindestniveaus an sozialen Standards eingeführt werden, dazu zählt die EU-weite Einführung nationaler Mindesteinkommen, die sich an den EU-Vorgaben zum Armutsniveau (= 60% des nationalen Median-Nettoäquivalenzeinkommens) orientieren sollen. Diese sozialen Mindeststandards ermöglichen es, Armut und soziale Ungleichheit zu beenden sowie gleichzeitig eine stabile Wirtschaft zu fördern.
  4. Angesichts der europäischen Werte, die die nak teilt und achtet, muss die durch die Personenfreizügigkeit ermöglichte Arbeitsmobilität gefördert werden. Das bedeutet zeitgleich, dass hierzu verbindliche Mindeststandards weiterzuentwickeln sind. Was wiederum heißt, dass MS u.a. keine Einschränkungen im Leistungsbezug für EU-Zugewanderte beschließen dürfen. Diese Forderung ist zentral, um u. a. die miserable Situation vieler – meist osteuropäischer – Wanderarbeiter*innen zu verbessern, die aufgrund der defizitären EU-Entsenderichtlinie häufig ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen bei einem Minimum an sozialer Sicherheit ausgesetzt sind; in Deutschland bspw. in der Fleischwirtschaft, im Bausektor, im Logistik- und im Pflegebereich.
  5. Die aktuell praktizierte europäische Asylpolitik ist abzulehnen. Wenn Menschen aufgrund von Verfolgung, Krieg, Armut und Gewalt aus ihren Heimatländern fliehen und Schutz in Europa suchen, braucht es eine solidarische und nachhaltige EU-Asylpolitik. Die muss zum einen die Bedarfe und Interessen der Geflüchteten berücksichtigen und zum anderen die Situation in den EU-Aufnahmeländern angemessen bedenken. Statt langjähriger Desintegration, muss die gesellschaftliche Teilhabe und von Geflüchteten und ein selbstbestimmtes Leben von Beginn an ermöglicht werden.
  6. Dem europäischen Sozialsektor kann im Zuge der genannten Maßnahmen eine große Bedeutung zugesprochen werden. Soziale Dienstleistungen sind enorm wichtig und müssen nicht nur erhalten bleiben, sondern noch mehr ausgebaut werden und gut finanziert sein. Die Erbringung gemeinnütziger und gemeinwohlorientierter sozialer Dienstleistungen muss in einem europaweiten gestärkten Sozialsektor gewährleistet werden. Hierzu gehört auch die Sicherstellung einer Interessenvertretung zu Fragen europäischer Sozialpolitik.
  7. Und abschließend ist festzuhalten, dass ein soziales Europa ein Europa ist, in dem es allen möglich wird, den europäischen Gedanke von klein zu erfahren und zu leben. Dies darf nicht länger nur privilegierten Gruppen vorbehalten sein. Europäischer Austausch, europäisches Lernen, europäisches Engagement und europäische Mobilität – all diese Erfahrungen – können zu einem besseren Miteinander und einem weiteren Zusammenwachsen in Europa beitragen. Dieser Kontakt kann den Blick für die sozialen Belange unserer europäischen Nachbarn öffnen und dazu verhelfen, die gesellschaftlichen Verhältnisse im eigenen Land neu zu betrachten. Deshalb müssen diese Aktivitäten und Möglichkeiten weiter gestärkt werden.

Ein Artikel von Sophie Schwab

Sophie Schwab

Sie ist Referentin für Sozialpolitik, Armuts- und Verteilungsfragen beim AWO Bundesverband e.V. und Stellvertretende Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz.

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