Ausgeblendet: Menschen mit Behinderung

“Diversity” ist der Trendbegriff unserer Zeit. Über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wird aber kaum gesprochen, meint MdEP Katrin Langensiepen

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Auf die LGBTIQ Pride im Juni folgt im Juli in den USA die Pride von Menschen mit Behinderungen. Auch in Europa fangen Menschen mit Behinderungen an, diesen Monat zu nutzen, um Sichtbarkeit zu zeigen und Rechte einzufordern.

Aber brauchen wir diesen Monat überhaupt? Das habe ich vor kurzem mit dem Autor Janis MC David diskutiert. Janis lebt seit seiner Geburt ohne Arme und Beine. Die Antwort ist: Ja, wir brauchen jede Art von Mobilisierung, denn behinderte Menschen sind nicht sichtbar genug.

“Diversity” ist der Trendbegriff unserer Zeit. Über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wird aber kaum gesprochen. Barrierefreiheit, Assistenz, selbstbestimmtes Leben klingen vielleicht nicht so sexy wie “free love”, aber am Ende geht es um das gleiche: Teilhabe und Menschenrechte. Die feministische, LGBTIQ- und Behindertenbewegung müssen sich zusammentun. Intersektionalität ist hier das Stichwort. Wir brauchen Mobilisierung und Verbündete, um auf unsere Rechte aufmerksam zu machen, aber wir brauchen auch politischen Willen, um diese umzusetzen. Ableismus muss mit strukturellem Wandel und harter Gesetzgebung angegangen werden.

Wenn wir über Ableismus in unserer Gesellschaft sprechen, meinen wir nicht Behindertenfeindlichkeit in dem Sinne, dass man mit dem Finger auf jemanden zeigt und sich lustig macht. Ableismus basiert auf der Annahme, dass Menschen Behinderungen anders sind und deshalb auch anders leben müssen. Ableismus ist der gesellschaftlich vorgegeben Weg eines Lebens in Schutzräumen, Sonderwelten, Institutionen; die Tatsache, dass man als Mensch mit Behinderung oft nicht frei ist, das machen zu können, was man möchte, sich auszuprobieren, zu scheitern wie andere auch, gleichwertig teilzuhaben. Inklusive Beschulung ist immer noch für viele Eltern ein Kampf, barrierefreier Wohnraum, Mobilität, kaum verfügbar und Flexibilität zwischen dem ersten und sogenannten zweiten Arbeitsmarkt nicht gegeben.

Als Europaabgeordnete mit Behinderung versuche ich auf meiner “The Future is Accessible” Tour durch alle EU-Mitgliedsländer zu reisen, um mit Menschen mit Behinderungen ins Gespräch zu kommen und ihre Belange ins Europaparlament zu bringen. Die Forderung ist immer die gleiche: selbstbestimmtes Leben. In Tschechien bekommt man vom Staat nur sechs Stunden Assistenz am Tag, ein Witz für eine Person, die 27/4 auf Hilfe angewiesen ist. In Deutschland arbeiten 320 000 Menschen mit Behinderungen ohne Arbeitnehmer*innenrechte, ohne Mindestlohn in Behindertenwerkstätten und trauen sich nicht, sich auf dem ersten Arbeitsmarkt auszuprobieren, weil sie dann ihre “Rentenpunkte” verlieren.

Auf EU-Ebene, zumindest im EU-Parlament, sind wir in unsere Denkweise schon fortschrittlicher. Die europäische EU-Behindertenstrategie forderte Deinstitutionalisierung. Dieses Jahr wird die EU-Kommission einen Vorschlag für einen EU-Behindertenausweis machen und erst kürzlich hat das EU-Parlament gefordert, Zwangssterilisation in der EU zu kriminalisieren. Denn ja, kaum zu glauben, aber in 13 EU-Mitgliedsländern ist die Zwangssterilisation von Frauen und Mädchen mit Behinderung immer noch erlaubt.

Es hakt bei der Umsetzung oft bei den Mitgliedstaaten. Seit über 15 Jahren blockiert unter anderem Deutschland die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie, die in der EU eine legale Basis und Klagemöglichkeit bei Diskriminierung in allen Lebensbereichen schaffen würde.

Um politisch mehr Druck zu schaffen, brauchen wir mehr Menschen mit Behinderungen in der Politik. Im Europaparlament sind wir aktuell sieben Abgeordnete mit Behinderung, sieben von 705. Das sind gerade mal ein Prozent, obwohl knapp jeder Fünfte in der EU eine Form von Behinderungen hat. Ich hatte Glück. Meine Partei, Bündnis90/Die Grünen, will mehr Diversität und unterstützt aktiv die Vielfalt.

Am 6. Juni im nächsten Jahr ist Europawahl. An Menschen mit Behinderungen sage ich: traut euch. An die politischen Parteien: Gestaltet Kommunikation und Partizipation barrierefrei. Denn: Nichts über uns ohne uns!

Ein Artikel von Katrin Langensiepen

Katrin Langensiepen

Katrin Langensiepen ist Sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Greens/EFA im Europäischen Parlament und einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung. Die ausgebildete Fremdsprachenassistentin ist u.a. Vizevorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten.

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