Linke Außenpolitik: Zurück zu Marx!
Ob Russland, China oder der Klimawandel: Die Linke steht international vor großen Herausforderungen. Entscheidend ist dabei der Blick auf die konkreten Verhältnisse. Von Wulf Gallert (Teil 2)
Im zweiten Teil seiner Analyse zur linken internationalen Politik widmet sich Wulf Gallert der Frage: Was sind die normativen Grundlagen der außenpolitischen Positionen der Linken?
Verfolgt man die Debatte der letzten Jahre in unserer Partei, ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt die Nato, die drohende Militarisierung der EU sowie die Ausrichtung der Bundeswehr auf eine Interventionsarmee. Bei der Debatte zum Bundestagswahlprogramm im Parteivorstand als auch in den entsprechenden Diskussionen vor dem Beschluss hat dieser Komplex etwa 90 Prozent der gesamten Redezeit zur Außenpolitik eingenommen. Ja, ohne Frieden ist alles nichts, aber die Gefahr von militärischen Auseinandersetzungen durch die Nato ist nicht alles, was auf der Welt gerade zum Problem wird und Kriege verursacht.
Einen umfassenderen Ansatz bietet der kategorische Imperativ von Karl Marx: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Nun wäre es illusorisch für unsere Partei, den Anspruch zu erheben, im globalen Maßstab all diese Verhältnisse umstürzen zu können. Was wir aber tun können, ist, unsere außenpolitischen Aktivitäten und Positionen daraufhin zu prüfen, inwiefern sie diesem kategorischen Imperativ entsprechen.
Die konkreten Verhältnisse sind entscheidend
Linker Internationalismus kann insofern nicht zuallererst Beziehungen von Staaten oder Machtblöcken als zentralen Bezugspunkt haben, sondern die Situationen und Verhältnisse in denen Menschen leben unabhängig von ihrer Nationalität oder Staatsangehörigkeit. In dieser Konsequenz ist die Orientierung an den Menschenrechten nicht die Übernahme einer eurozentrierten bürgerlichen Weltsicht, sondern Ausdruck linker Identität. Allerdings gibt es natürlich einen substantiellen Unterschied zwischen dem linken Menschenrechtsverständnis und der bürgerlichen Definition, egal ob grün oder schwarz eingefärbt, den untrennbaren Zusammenhang zwischen den sozialen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Teilnahme des Einzelnen und den klassischen liberalen Freiheitsrechten. Diese sehr abstrakt klingende Differenz hat sehr konkrete Auswirkungen auf unterschiedliche Ansätze, zum Beispiel in der Frage der Migrationspolitik oder auch bei der Beurteilung innenpolitischer Verhältnisse bestimmter Länder. Unter anderem deshalb diskutieren wir Linken nicht darüber, dass im Gegensatz zur Bedrohung durch politische Verfolgung die Flucht vor existentieller Bedrohung durch Hunger und Elend illegal wäre.
Bei der Beurteilung der innenpolitischen Situation einzelner Staaten wird es mit dem Marx‘schen Imperativ dann schon komplizierter. Völlig zu Recht verurteilen wir die Regime-Change-Politik von USA und EU im Nahen Osten, Lateinamerika oder Osteuropa, bleiben dann aber häufig dabei stehen und erwecken den Eindruck, kein Problem mit den Verhältnissen in vielen dieser Länder zu haben. Aber das Gegenteil eines Fehlers ist wie so häufig auch hier ein Fehler. Man kann die US-amerikanische Destabilisierungspolitik in Venezuela verurteilen und darf trotzdem nicht die Methoden Maduros akzeptieren. Man kann sehr wohl mit Kuba solidarisch sein, ohne jede oppositionelle Bewegung als US-amerikanische Konterrevolution zu brandmarken. Wir können und müssen zum Umgang Chinas mit der Opposition in Hongkong und den Uiguren in Xinjing nicht schweigen, ohne China zum neuen Hauptfeind in einem Kalten Krieg zu erklären.
Osteuropa-Debatte wird an Brisanz gewinnen
Vor allem die Osteuropa-Debatte wird unter den sich abzeichnenden politischen Schwerpunktsetzungen der neuen Bundesregierung mit einer Außenministerin der Grünen an Brisanz gewinnen. Dies ist für uns vor allem deshalb eine Herausforderung, weil hier die Renaissance der kalten Kriegslogik auf beiden Seiten besonders radikal zu Tage tritt. Putin ist bereit, den Diktator Lukaschenko zu unterstützen, weil er das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine von 2014 als drohendes Szenarium auch im Falle von Belarus vor sich sieht. Unsere Partei als auch die Vorgängerpartei PDS hat sich immer gegen die Ostausdehnung der Nato und für die Neuordnung Europas unter Einbeziehung Russlands ausgesprochen.
Allerdings haben wir damit in einigen osteuropäischen EU-Ländern ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem, weil unser Vorwurf, EU und Nato würden die Logik des Kalten Kriegs und die Blockkonfrontation weiter betreiben, genauso auch für die russische Seite zutrifft. Und zumindest an der Jahreswende 2021/2022 ist es müßig darüber zu reden, wer mit dem Drehen der Eskalationsschraube angefangen hat. Die Hinwendung Polens als auch der baltischen Staaten zur Nato und der USA sowie die faktische Aufspaltung zwischen der West- und Ostukraine hat mit dem massiven Bedrohungsgefühl eben nicht nur der Regierungen, sondern auch großer Teile der Bevölkerung dieser Länder gegenüber Russland zu tun. Und zweifellos ist es so, dass dieses Gefühl der Bedrohung mit der Besetzung der Krim und der militärischen Intervention Russlands in der Ostukraine einen praktischen Beleg erhalten hat. Genau deshalb ist das Bild eines einseitigen Nato-Aggressors gegenüber Russland genauso falsch wie das Feindbild Russland, mit dem die Grünen die CDU und SPD weit übertreffen. Und was vor dem Hintergrund der historischen Wurzeln dieser Partei nur sehr irritiert zur Kenntnis genommen werden kann und in unserer Partei häufig als Horrorszenario der eigenen Entwicklung befürchtet wird. Die zentrale Herausforderung in der Osteuropafrage für uns wird sein, in der zu erwartenden Verschärfung des Konfrontationskurses der Bundesregierung gegenüber Russland nicht wieder in die alten falschen Reflexe zu fallen und unsererseits eine unkritische Haltung gegenüber den innenpolitischen Realitäten und der regionalen Machtpolitik der Putin-Administration einzunehmen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Loslösung von der alten Blockkonfrontation hin zu den universellen geltenden Menschenrechten bei weitem nicht die Antwort auf alle Fragen ist, mit denen wir uns im Bereich der internationalen Beziehungen auseinanderzusetzen haben. Wie ich bereits am Anfang kurz erläutert habe, besteht eine der Hypotheken unserer außenpolitischen Debatte in der fehlenden Anwendung unserer Vorschläge in der politischen Realität. Internationale Konfliktlagen, unterschiedliche Interessen von sozialen Gruppen in unterschiedlichen Regionen dieser Welt lassen sich nicht mit einer einfachen schwarz-weiß Logik beantworten. Wir werden mit unseren Positionen in absehbarer Zeit in der Außenpolitik keine Kompromisse mit anderen Parteien schließen müssen. Mit den realen globalen Verhältnissen sollten wir das aber schon versuchen.
„Problemfall“ China
Wie schwierig das ist, hat uns eine innerparteiliche Debatte im Vorfeld des später wegen der Corona-Pandemie abgesagten EU-China-Gipfels in Leipzig 2020 gezeigt. Während einige Abgeordnete aus der Bundestagsfraktion, die ansonsten ausgesprochen EU-skeptisch waren, sich an dieser Stelle ausdrücklich für dieses Treffen und die Verbesserung der Beziehungen zwischen der EU und China stark gemacht haben, wurde vor Ort unter maßgeblicher Beteiligung von Strukturen der Partei zu Protesten gegen dieses Treffen aufgerufen. Wichtigste Begründung dafür war die massiven Verletzungen von Menschenrechten in China und der EU. Hätte es diesen Gipfel wirklich gegeben, wären Vertreter der Partei auf beiden Seiten „der Barrikaden“ anzutreffen geworden. Eine solche Situation gibt es bildlich gesprochen nicht nur in der China-Frage in der Partei.
Allerdings führt Blindheit bezüglich der staatskapitalistischen Realität beispielsweise in China genauso wie moralischer Rigorismus in der außenpolitischen Debatte in die Handlungsunfähigkeit. Ja, in China gibt es keine Bürgerrechte, Opposition wird nicht geduldet, politische Diskussionen gerade in letzter Zeit immer stärker unterdrückt. Und trotzdem wäre es ein Fehler, die Kontakte der Partei mit Vertretern der KP Chinas abzubrechen. Denn die gesellschaftliche Entwicklung in China ist eben nicht allein auf politische Unterdrückung zu reduzieren. Sie ist eben auch der größte Erfolg von Armutsbekämpfung im globalen Maßstab. Sie ist gekennzeichnet durch eine Wirtschaftspolitik, die sich immer stärker vom Exportmodell verabschiedet und die wirtschaftlichen Wachstumschancen der Zukunft in der Stärkung der Binnenkaufkraft sieht. Ja, die chinesische Führung verfolgt mit den Neue-Seidenstraßen-Initiativen das Ziel, globale Wertschöpfungsketten auf die Interessen der eigenen Volkswirtschaft auszurichten. Allerdings nicht durch den Einsatz von Militär, sondern durch Infrastrukturprojekte, deren Sinn oder Unsinn aus der Sicht der Menschen vor Ort sich von Fall zu Fall deutlich unterscheiden. China ist global der größte CO2-Emittent (allerdings nicht pro Kopf), aber gleichzeitig auch die Volkswirtschaft mit dem stärksten Ausbau erneuerbarer Energien und staatlichen Vorgaben zur Minderung von Kohlestromproduktion, für die auch Produktionsausfälle in Kauf genommen werden. So wie im Falle Chinas lassen sich außenpolitische Bewertungen nicht in ein Gut-Böse-Schema pressen. Die Erklärung uneingeschränkter Solidarität oder das Brandmarken von Feindbildern bedienen in der Parteidebatte altbekannte Emotionen, für die Erarbeitung außenpolitischer Strategien sind sie aber selten hilfreich.
Da es in diesem Beitrag ausdrücklich um Grundlagen einer linken Außenpolitik aus der Perspektive der Bundesrepublik Deutschland oder auch der EU geht, kommt eine neue Ebene der Differenzierung hinzu. Die Bewertung politischer Systeme oder Regierungen kann durchaus zu vernichtenden Urteilen unsererseits führen. Aber auch dann wird es vielen Fällen nötig sein, im Interesse humanitärer Ziele oder der Verhinderung kriegerischer Auseinandersetzungen politische Kommunikation und Verhandlungen aufrechtzuerhalten. Die aktuellen Verhältnisse in Afghanistan führen uns dies gerade vor Augen.
Ökologische Wende als zentrale Aufgabe
Neben dem Marxschen Imperativ und der Suche nach realistischen Handlungsoptionen braucht linke Außenpolitik noch einen weiteren zentralen Punkt: Die Verhinderung der sich anbahnenden globalen ökologischen Katastrophe und der mit ihr verbunden sozialen Folgen. Während in den letzten Jahrzehnten in Deutschland wie auch in anderen hochentwickelten Industrieländern die Vorstellung überwog, dass insbesondere der Klimawandel vor allem die ärmeren Länder trifft, haben die letzten Jahre, insbesondere in Deutschland, bewiesen, dass es in diesem Prozess keine Möglichkeit der Abschottung gibt. Die Destabilisierung ganzer Regionen in Afrika aufgrund des Klimawandels und damit verbundenen Migrationswellen, die deutlicher werdenden Auswirkungen des Klimawandels auch vor Ort, die globale Corona-Pandemie und die damit verbundenen Störungen der globalen Wirtschaftskreisläufe lassen die vorher vermeintlich weit entfernten Probleme nun als unsere eigenen bewusst werden. Trotzdem bewegen sich auch linke Akteure im Spannungsfeld zwischen globaler Gerechtigkeit und nationaler Besitzstandswahrung, die auch von den sozialen Gruppen eingefordert werden wird, die wirtschaftlich an den Rand gedrängt werden und als deren Interessenvertreter wir uns begreifen. Die Forderung nach globaler Gerechtigkeit bei der Bekämpfung des Klimawandels jenseits einer gönnerhaften Almosenverteilung an die Armen dieser Welt wird Verteilungskämpfe provozieren, die sich nicht allein mit klassischen linken Umverteilungsmechanismen innerhalb nationalstaatlicher oder europäischer Grenzen lösen lassen. Während die Forderung nach der Patentfreigabe von Corona-Impfstoffen im linken gesellschaftlichen Spektrum wohl weitestgehend konsensfähig ist, ist der vielfach geforderte noch schnellere Ausstieg aus den fossilen Energieträgern mit all seinen Folgen ein ausgesprochen dickes Brett. Diese Widersprüche und unterschiedlichen Interessenlagen sind einer der wesentlichen Gründe für den Aufstieg rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien in den entwickelten Industrieländern und auch im internationalen Maßstab, der von linken Kräften bisher nur eingeschränkt erfolgreich beantwortet wird. Nichtsdestotrotz ist die sozial gerechte Abwehr einer globalen ökologischen und Klimakatastrophe das kategorische Imperativ der Linken des 21. Jahrhunderts.
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