Letzte Generation: Von der Straße ins Parlament
Die Klimabewegung will bei den Wahlen zum EU-Parlament im Juni antreten
Am Mittwoch hat die Klimagruppe Letzte Generation bekannt gegeben, dass sie im Juni bei den Wahlen zum Europäischen Parlament antreten will.
Dass ehemalige Aktivist*innen sich früher oder später für eine Laufbahn in der Politik entscheiden, den Gang durch die Institutionen antreten, inklusive Lobbyismuskarriere und dabei nicht selten alte Überzeugungen über Bord werfen, ist keine Seltenheit. Die Geschichte der Grünen zeugt davon. So soll es bei der Letzten Generation aber nicht laufen. »Wir werden keine normale Partei. Uns geht es nicht darum, für ein neues Plastikgesetz abzustimmen. Wir leisten Widerstand«, betont Carla Hinrichs.
Sie ist Sprecherin und im Kernteam der Klimagruppe, die am Mittwoch bekannt gegeben hat, dass sie im Juni bei den Wahlen zum Europäischen Parlament antreten will. Der Schritt, der bei vielen für Überraschung sorgte, sei für Hinrichs nur folgerichtig gewesen: »Es ist nicht weit hergeholt, sich als politische Gruppe Gedanken zu machen, wie man Macht in die Hände der Bewegung legt.« Sie empfinde es eher als »Doppelmoral«, einerseits der Politik ihre Fehler vor Augen zu führen und gleichzeitig selbst eine etablierte Partei und damit immer nur »das kleinste Übel« zu wählen.
Die Überlegung, Bewegung ins Parlament zu bringen, ist tatsächlich nicht neu. Ähnliches hat sich die Kleinpartei Klimaliste in verschiedenen Bundesländern auf die Fahnen geschrieben. Zur EU-Wahl tritt für Die Linke die Aktivistin Carola Rackete an mit dem Ziel, soziale Bewegungen und Parlament zu vernetzen. Der Weg der Letzten Generation sei aber noch mal ein anderer und keine Konkurrenz zu Racketes Kandidatur. »Wir wollen das Parlament aufmischen«, sagt Hinrichs.
Genaueres verrät sie nicht, verweist aber auf den vergangene Woche angekündigten Strategiewechsel ihrer Bewegung, konkret auf das Vorbild der US-amerikanischen Gruppe Climate Defiance. Diese unterbricht immer wieder öffentliche Auftritte von Politiker*innen, um mit lauten Rufen und Bannern auf ihre Forderungen für mehr Klimagerechtigkeit aufmerksam zu machen. Dasselbe hat die Letzte Generation am Dienstag beim Neujahrsempfang der SPD in Konstanz während einer Rede der Europa-Abgeordneten Katarina Barley gemacht. Womöglich stehen die beiden Parteien sich zukünftig auf ähnliche Weise im EU-Parlament gegenüber.
Parallelen könnten am ehesten zur Satirepartei Die Partei gezogen werden. Natürlich nicht, was die Ziele angeht, sondern eher hinsichtlich der Strategie, das Parlament als Plattform zu nutzen. Letztlich gehe es darum, »den Widerstand in alle Teile der Gesellschaft zu bringen«, erklärt Hinrichs. So wie man es bereits auf der Straße, in Talkshows, Museen und Gerichtssälen getan habe, künftig eben auch im Parlament. Dennoch hat die Letzte Generation natürlich auch ein Programm, das sich an den bereits bekannten Forderungen der Gruppe orientiert: der Ausstieg aus fossilen Energien und die Einsetzung von Gesellschaftsräten.
Auch für diese Parlamentsstrategie hat die Letzte Generation Inspiration aus dem Ausland. Ihre schwedischen Schwesterbewegung Återställ Våtmarker (auf deutsch: »Moore wiederherstellen«) tritt in diesem Jahr schon das zweite Mal zur EU-Wahl an. Das erste Mal habe es zwar nicht geklappt, aber die Gruppe habe viel daraus gelernt und teile ihr Wissen nun auch mit den deutschen Aktivist*innen, so Hinrichs.
Nach einem internationalen Treffen der Bewegungen entschied sich die Letzte Generation relativ spontan zur Kandidatur. Nach nur zwei Monaten Vorbereitung gründete sie am Montag eine »sonstige politische Vereinigung«, das sei etwas einfacher als bei einer richtigen Partei. Die EU-Wahlen sind auch deshalb gut für einen derartigen Versuch geeignet, da nur an dieser solche Vereinigungen teilnehmen dürfen und weil es hier keine Sperrklausel gibt. Das heißt, ein halbes Prozent der Stimmen reicht, um einen Sitz im Parlament zu erobern.
Die Spitzenkandidierenden der Letzten Generation werden Lina Johnsen aus Leipzig und Theo Schnarr aus Greifswald. Damit sie antreten dürfen, muss die Letzte Generation 4000 Unterschriften sammeln, geplant sind mindestens 4500. Dafür werden aktuell 100 neue Unterstützer*innen gesucht, einerseits, um nicht diejenigen zusätzlich zu belasten, die ohnehin schon sehr engagiert sind, aber auch, um neue Menschen zu akquirieren, die in der Gruppe bislang keine Rolle für sich gesehen haben. Außerdem bat die Bewegung um 50 000 Euro Spenden – die sind innerhalb von sechs Stunden bereits eingegangen.
Mit Blick auf die Erfolgschancen sagt Carla Hinrichs: »Wenn wir es nicht versuchen, haben wir eh schon verloren.« Es gebe genug Menschen, die die Aktivitäten der Letzten Generation legitim finden, das größte Potenzial sehe sie bei jungen Leuten. Daher komme es ihnen zugute, dass das Mindestalter zur Teilnahme an der EU-Wahl bei 16 Jahren liegt – und vielleicht könne man ja auch Menschen zum Wählen motivieren, die sich in der bisherigen Parteienlandschaft nicht wiedergefunden haben.
An Stelle eines Wahlkampfs werde die Letzte Generation mit ihrem außerparlamentarischen Aktivismus weitermachen: Für den 16 März sind »ungehorsame Versammlungen« in zehn verschiedenen Städten in ganz Deutschland geplant.
(Der Beitrag erschien parallel in der Tageszeitung „nd.DerTag“.)
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