Jenseits von „Nawalny gegen Putin“

Linke in der EU suchen kaum nach Partnern in der linken Szene Russlands, um alternative EU- und Nato-Politik zu diskutieren. Dazu fehlt beiderseits der (selbst)kritische Blick auf Geschichte und Politik, meint Kerstin Kaiser.

© imago images

In Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen – Nawalny, Belarus, Kommunalwahlen – werde ich öfter gefragt, warum man von russischen Linken  so wenig hört, als es gäbe es sie gar nicht. Dann rutscht mir gelegentlich der Whataboutism raus, dass man in Russland von der deutschen Linken auch nichts hört. Aber wer sucht, der findet.

Anna Otschkina ist Dozentin an der Uni Pensa, Feministin und Regional-Chefin der Partei Gerechtes Russland (GR). Im Blog „Tagebuch einer Soziologin“ und als Kandidatin zur Regionalwahl letztes Wochenende setzt sie sich mit unsozialer Politik und dubiosen Machtmethoden in Pensa und Moskau auseinander. Sie zeigt, wie man sich Manipulation und politischem Druck widersetzen kann und warum jedes Prozent für die Opposition wichtig ist.

Oleg Scheijn aus Astrachan ist direkt gewählter Duma-Abgeordneter für GR und Vize-Chef der Gewerkschaft Konföderation der Arbeit. Nicht erst seit den Protesten gegen Renten- und Verfassungsreform oder dem Einsatz für medizinische Kräfte in der Covid19-Pandemie ist er sicht- und hörbar als Oppositioneller, der Aufklärung mit konkretem Einsatz für Arbeitende und sozial Benachteiligte verbindet, vor Ort so präsent wie in seinem Telegram-Kanal. Oder der Sozialpolitiker Oleg Smolin, parteilos für die KPRF direkt in die Duma gewählt in Omsk, Sibirien …

Alle drei gehören zur „systemischen Opposition“. Der Begriff soll sie – aus westlicher Sicht – zu „Marionetten des Kremls“ degradieren, dabei verstellt er nur den Blick auf linke Politiker*innen in Russland, die sich fernab Moskaus mit den Verhältnissen und der Zentralmacht herumschlagen. Sie stecken in ähnlichen Widersprüchen wie linke Politiker in der deutschen Provinz, leben aber weitaus gefährlicher. „Der Kreml“, nicht erpicht auf Pluralismus, Macht-Teilung oder Koalitionen, nutzt erbarmungslos „administrative Ressourcen“ und „schwarze PR“ gegen alle, die ihm „politisch unpassend“ Wählerstimmen wegschnappen.

Vor Chabarowsk („nd“ berichtete) war Irkutsk: Kein rechter Nationalliberaler, sondern der mehrfach gewählte populäre KPRF-Gouverneur Sergeij Lewtschenko wurde dort Ende 2019 aufgrund nicht geklärter Vorwürfe „zum Rücktritt gezwungen“. Dass er bedroht wurde, war offensichtlich. Seine Kritik an ökologischen und sozialen Folgen föderaler Wirtschaftspolitik in Sibirien fand Unterstützer. Lewtschenko und die Proteste gegen seine Behandlung schafften es nicht ins Öffentlich-Rechtliche. Genauso wenig Erfolg und Schicksal des parteilosen Kandidaten zur Präsidentschaftswahl 2018, Pawel Grudinin: Nominiert durch die KPRF fuhr er gegen Putin fast 12 Prozent ein. Einst erfolgreicher Manager eines wirtschaftlichen und sozialen Vorzeige-Städtchens bei Moskau, ist er heute politisch, finanziell und persönlich ruiniert. Im Westen – kein Interesse. Grudinins Wahlkampf hatte Sergeij Udalzow von der „Linksfront“ mit organisiert, der wiederum früher mit Alexej Nawalny gemeinsam die Bolotnaja-Proteste gegen Wahlfälschung angeführt hatte. Udalzow brachte das viereinhalb Jahre Lagerhaft ein. Er ist einer der Motoren und Köpfe für linke Bündnispolitik. Mikrofone und Kameras von ARD, ZDF oder Deutsche Welle fehlen, wenn er bei Protestaktionen regelmäßig festgenommen wird.

Die hier beispielhaft Genannten verstehen sich als Linke, als „patriotische“ Kräfte – nicht als Nationalisten. Auf demokratischem Weg suchen sie Alternativen zum oligarchischen Kapitalismus, wollen politische und soziale Rechte, wenden sich gegen Korruption, Wahlmanipulation und autoritäre Staatsgewalt. Einig sind sie auch darin, nicht die Musterschüler europäischer Wertepolitik zu geben. Kritisch gegenüber Soft-Power-Strategie, EU-Nachbarschafts- und Nato-Politik, sind sie gegen Militarisierung im eigenen Land, artikulieren aber dessen wirtschaftliche und Sicherheitsinteressen.

Relevante Marker, wie das Verhältnis zur sowjetischen Geschichte, zum Stalinismus, zu autoritärer Politik und russländischem Patriotismus, ziehen Trennlinien zwischen linken Parteien und Organisationen, Aktivist*innen und Politolog*innen Russlands. Verschieden sind Interesse und Kritik am Agieren linker Kräfte in Westeuropa, umstritten die geopolitische Rolle Russlands, das Staatsverständnis oder die Chancen für radikale Veränderung durch Wahlen. Deshalb sind sie oft uneinig, ja misstrauen einander.

Linke in der EU suchen kaum nach Partnern in der linken Szene Russlands, um alternative EU- und NATO-Politik zu diskutieren. Dazu fehlt beiderseits der (selbst)kritische Blick auf Geschichte und Politik. Die widersprüchlichen Ergebnisse der Regionalwahlen in Russland lohnten Analysen jenseits von „Nawalny gegen Putin“, gemeinsam und als Auftakt für mehr Kooperation und Verständnis bei den Duma- und Bundestagswahlen im nächsten Jahr.

Ein Artikel von Kerstin Kaiser

Kerstin Kaiser

Die Diplomslawistin leitet seit 2016 das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau. Zuvor war sie unter anderem in verschiedenen Funktionen und als Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke tätig.

Sie wollen Kontakt zu uns aufnehmen?

die-zukunft.eu freut sich auf Ihre/auf Eure Vorschläge für Beiträge zur Debatte über ein anderes Europa. Bitte geben Sie Ihren Namen, die Organisation sowie eine Kontaktadresse an.