»In jeder Krise wurde der Ruf nach Europa lauter«
Daniel Freund, Präsident der Spinelli Group, zum neuen, parteiübergreifenden Manifest von Ventotene, das am Wochenende vorgestellt werden soll
Was ist das Neue an der Neufassung des Manifestes von Ventotene?
Wir greifen die Grundidee des Föderalismus von Altiero Spinelli und seiner Mitstreiter auf und passen sie an die heutigen Gegebenheiten an. Es ist klar, dass wir die großen Fragen unserer Zeit nur gemeinsam in Europa meistern können. Aber einige der Umstände haben sich eben über die Jahrzehnte verändert. Wir haben nach langer Friedenszeit in Europa wieder Krieg. Wir haben eine Klimakrise, die uns durch die Dürre in Europa, durch Fluten, durch Waldbrände deutlich bewusster wird, als dies vielleicht in der Vergangenheit der Fall war. Wir haben aber natürlich auch eine Reihe sehr realer Krisen in den letzten 15 Jahren erlebt: Eurokrise, Migration, Brexit, die Pandemie. Auf all das wollten wir reagieren, nicht nur mit einer Bestandsaufnahme, sondern auch mit einer Vision, wie wir in Zukunft besser mit solchen Krisen umgehen könnten.
In den Krisen der Vergangenheit hat in der EU der Nationalstaat einen Aufschwung erlebt, auch, weil »Brüssel« oft nur reagiert statt agiert hat. Wie realistisch ist angesichts dessen der Ruf nach einem europäischen Föderalismus?
Ich bleibe bei meiner Eingangsthese: Keine der großen Krisen, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, konnte ein Nationalstaat allein lösen. Weder konnten die einzelnen Länder die Euro- und Finanzkrise lösen, noch kann ein Staat alleine mit der Migration umgehen. Bei der Pandemie wie auch beim Krieg in der Ukraine kann selbst der größte Mitgliedstaat Deutschland im Alleingang wenig erreichen. Ganz zu schweigen von solchen Fragen wie dem Klimawandel. Deshalb braucht es diese verstärkte Zusammenarbeit. Und wir haben doch gesehen, dass in jeder dieser Krisen trotz nationalstaatlichem Geplänkels der Ruf nach Europa lauter wurde. In der Pandemie haben wir gemeinsam Impfdosen beschafft. Jetzt koordiniert die EU Sanktionspakete gegen Russland. Aber ja: Es ist häufig eben in erster Linie die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten als ein wirklich europäischer Ansatz. Und das ist natürlich auch eine Demokratieproblem. Denn wir als Europäisches Parlament bleiben praktisch außen vor. Auf der anderen Seite können Regierungschefs wie ein Viktor Orbán die ganze EU erpressen oder blockieren. Daher brauchen wir Reformen, mehr Föderalismus, und den wollen wir mit der Neufassung des Manifests befördern.
Stichwort Russland. In der Ukraine-Krise wird oft kritisiert, die EU habe sich von Washington vor den Karren spannen lassen. Nun ist auch im neuen Ventotene-Manifest viel von der außenpolitischen Souveränität der Gemeinschaft die Rede. Bedeutet das eine Abkehr von den USA?
Die Vereinigten Staaten sind seit vielen Jahrzehnten unser engster Verbündeter. Aber wir alle haben ja gesehen, welche Unsicherheiten beispielsweise in Zeiten einer Trump-Regierung entstehen. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn jetzt in dem Moment des russischen Angriffskriegs ein Donald Trump in den USA an der Macht wäre. Wir sind nicht gegen die USA. Aber wir Europäer müssen schon gucken, dass wir unsere eigenen Interessen und unsere Werte in der Welt verteidigen. Und ja, wir sind durchaus der Meinung, dass man an diesen Souveränitätsfragen arbeiten muss, wenn wir uns nicht völlig abhängig machen wollen oder zum Spielball anderer großer Kräfte wie Russland, China oder den USA werden wollen.
In diesem Zusammenhang heißt es in dem Papier auch, dass Europa mehr Verantwortung in der Welt übernehmen müsse. Angesichts der sehr heterogen zusammengesetzte Gruppe könnten darunter sehr verschiedene Dinge verstanden werden, von der Konfliktdeeskalation bis zur massiven Interessendurchsetzung.
Natürlich gibt es ideologische Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Spinelli-Gruppe. Wir sind ja Konservative, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale, Linke. Aber das, was uns eint, ist, dass wir alle glauben, dass in mehr europäischer Zusammenarbeit eine größere Stärke liegt. Wir haben eben gerade in der Konferenz zur Zukunft der EU gesehen, dass auch die Bürgerinnen und Bürger in Europa in einer riesigen Mehrheit das wollen. Sie wollen diese Reformen, sie wollen die Abschaffung der Einstimmigkeit, sie wollen eine Stärkung der europäischen Demokratie und des Europäischen Parlaments, mehr gemeinsame Investitionen. Und darum geht es uns, hier etwas nach vorne zu bringen. In der detaillierten Ausgestaltung wird es dann sicherlich Debatten geben und im Zweifel auch Meinungsunterschiede. Aber die grobe Richtung, auf die können wir uns alle einigen.
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