Terry Reintke: Deutsche Moderator*innenrolle reicht nicht

Die Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament über den Kampf gegen Klimawandel, feministische Europapolitik und ihre Wünsche an die deutsche Ampel-Regierung

© European Parliament

Ein Interview mit Terry Reintke — das Gespräch führte Uwe Sattler

Terry Reintke

Terry Reintke (Bündnis90/Die Grünen) ist seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. Sie arbeitet unter anderem im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten sowie für Frauenrechte und Geschlechtergleichheit. Seit 2022 steht Reintke gemeinsam mit Philippe Lamberts (Belgien) der Fraktion Grüne/Freie Europäische Allianz vor. (Foto: Cornelis Gollhardt)

Im nächsten Jahr wird das EU-Parlament neu gewählt, das genaue Datum soll in der kommenden Woche festgelegt werden. Die Ko-Vorsitzende der Grünen im Europaparlament, Terry Reintke, erläutert, was ihre Fraktion in den vergangenen vier Jahren der Legislatur erreicht hat und was in dem verbleibenden noch zu tun ist.

Frau Reintke, hat Ihnen heute früh Sarah Wiener das Frühstück gebracht?

Heute morgen leider nicht, aber sie hat mir schon mal Frühstück gebracht. Und nicht nur mir. Sarah Wiener ist sehr umtriebig hier im Parlament und unserer Fraktion.

Sicher nicht nur, was die kulinarischen Künste der TV-Köchin, die Mitglied Ihrer Fraktion ist, anbelangt.

Nein, auch was das Politische angeht, ist Sarah sehr aktiv.

Womit wir beim Thema sind: Vier Jahre der Legislatur des Europaparlaments sind vorbei. Was steht bei den Grünen auf der Haben-Seite?

Die Wahl 2019 und die folgenden Jahre standen sehr stark unter dem Eindruck des Kampfes gegen den Klimawandel. Wir haben diese Entwicklung immer als »grüne Welle« bezeichnet. Aber damit hat sich auch ein politisches Handlungsfenster geöffnet, wie zum Beispiel für den Green Deal. Es gab nie zuvor eine solch große parlamentarische Unterstützung für eine nachhaltige Klimapolitik. Und ich glaube, das ist auch ein Verdienst der Grünen hier im Europaparlament, natürlich in Zusammenarbeit mit der Klimabewegung.

Das klingt jetzt eher nach Gefühl als nach Fakten.

Das Gefühl basiert schon auf Fakten. Auf unserer Haben-Seite steht zum Beispiel das Verbrenner-Aus. Das war für uns ein ganz wichtiges Anliegen, weil der Transportsektor einer jener Bereiche ist, wo es eben nicht so gut vorangegangen ist mit dem Klimaschutz. Dann haben wir die Reform des Emissionshandels angeschoben und damit verbunden des CBAM, einer Art Zollsystem auf CO2-intensive Produkte aus Nicht-EU-Staaten. Zuletzt haben wir das Thema Gebäudesanierung auf den Tisch gebracht.

… was bei nicht wenigen Menschen die Sorge hervorgerufen hat, dass in Brüssel wieder einmal etwas beschlossen wurde, was für »die kleinen Leute« gar nicht bezahlbar ist.

Diese Sorgen verstehen wir sehr wohl. Deshalb haben wir Grünen auch immer betont, dass solche gigantischen Maßnahmen immer mit einer vernünftigen Finanzierung auch von europäischer Ebene verbunden sein müssen. Es ist für uns sehr zentral, dass all diese Maßnahmen, wenn sie eben auch Investitionen erfordern, sozial abgefedert sind. Menschen, die sich das aus der eigenen Tasche erst einmal nicht leisten können, müssen Unterstützung auch »von Europa« bekommen. Dazu vielleicht noch: Wir stehen generell vor der Frage, wie wir uns industriepolitisch aufstellen. Ein Schritt dazu ist der Net Zero Industry Act, der jetzt gerade vorgestellt wurde. Wenn wir es schaffen, Industrie in Europa zu halten, diese zu dekarbonisieren und grün zu machen, ist das eine riesengroße Herausforderung. Ich hoffe, dass wir noch in dieser Legislaturperiode wichtige Schritte in diese Richtung gehen.

Wo soll denn das Geld dafür herkommen? Höhere Zahlungen der Mitgliedstaaten? Es gibt ja nicht nur Kosten für die Umgestaltung der Industrie, sondern auch für die Ukraine-Hilfe oder die Abfederung der Folgen der Pandemie.

Jahrelang wurde erzählt, es gäbe kein Geld und keine Investitionsmöglichkeiten. Dann kam die Pandemie und in Folge der Aufbauplan NextGenerationEU. Plötzlich hatten wir Hunderte Milliarden Euro, die es ermöglicht haben, europaweit für den Wiederaufbau und für eine Stärkung der Resilienz zu investieren. So etwas stellen wir uns als Grüne jetzt auch vor. Und das muss nicht schuldenfinanziert sein. Wir können andere Einnahmemöglichkeiten finden, zum Beispiel durch mehr Spielraum für die Europäische Union bei Eigenmitteln. Oder die Mitgliedstaaten geben direkt mehr Geld in den gemeinsamen Haushalt. Dann kann da schon einiges passieren. Wir haben ja bereits den REPowerEU-Plan, mit dem wir in eine Zukunft erneuerbarer Energien investieren. Wir als Grüne sagen aber: Das ist noch nicht genug. Nehmen wir noch einmal das Beispiel der Gebäudesanierung. Auch wenn am Ende die Energiekosten für die Bürger*innen langfristig sinken werden, muss jetzt erst einmal viel investiert werden. Aber das sind sehr kluge Investitionen, um die großen Transformationsaufgaben der nächsten Jahre und Jahrzehnte zu stemmen. Da muss man jetzt Geld in die Hand nehmen – auch auf europäischer Ebene.

Zieht das Europaparlament in diesen Fragen an einem Strang?

Das Europäische Parlament war bei vielen Aspekten des Klimaschutzes Vorreiter. Aber wir erleben auch hier im Parlament mittlerweile einen offenen Angriff auf den Green Deal. Die konservative Fraktion hat zu Beginn der Legislaturperiode einige der Anliegen unterstützt, ist dann aber in den letzten Monaten immer weiter davon abgerückt. Wir haben in vielen Abstimmungen ein totales Potpourri gesehen. Klar, es gibt nach wie vor Abgeordnete in der konservativen Fraktion, die für grüne Gesetzesinitiativen stimmen. Aber auch Leute, die sich enthalten und einige, die dagegen votieren. Es wird immer schwieriger, im Parlament Mehrheiten für eine starke Klimapolitik zusammenzubekommen. Dabei ist die Parlamentsposition immer nur der erste Schritt auf europäischer Ebene. Dann muss das Gesetz noch mal mit dem Rat, also mit den Mitgliedstaaten, verhandelt werden. Und die sind in vielen Punkten nicht so progressiv wie das Europäische Parlament.

Die Grünen haben sich vor vier Jahren die Demokratisierung der EU ins Europawahlprogramm geschrieben. Insbesondere auch, die faktische Vormachtstellung des Rats zu brechen.

Wir haben in dieser Hinsicht in den letzten Jahren einige wichtige Dinge angeschoben. Nehmen wir die nach einem Jahr im vergangenen Mai beendete Konferenz zur Zukunft der EU. Hier wurden sehr viele und auch sehr konkrete Ideen gesammelt, wie wir die Europäische Union reformieren wollen. Ein immer wieder genannter Punkt war dabei die Stärkung des EU-Parlaments. Im Parlament haben wir den Prozess gestartet, um entsprechende Vertragsänderungen vorzubereiten. Es darf nicht sein, dass so eine Konferenz und deren sehr klare Forderungen für eine Veränderung der EU einfach im Sande verlaufen. Am Ende braucht es auch für Vertragsänderungen die Einstimmigkeit im Rat. Aber von vornherein zu sagen, das wird doch sowieso nichts, halte ich für wenig konstruktiv. Zumal der Rat so massive Forderungen der Bürger*innen nicht einfach ignorieren kann. Wir als Europaabgeordnete haben mehrheitlich die Position eingenommen, dass wir die Schlussfolgerungen der Zukunftskonferenz auch im kommenden Europawahlkampf zum Thema machen.

Die EU-Zukunftskonferenz hatte es auch in den Koalitionsvertrag der deutschen Ampelregierung, an der die Grünen beteiligt sind, geschafft. Inzwischen scheinen Reformen der EU nicht mehr so sehr im Fokus der Bundesregierung zu stehen. Und beim Verbrenner-Aus gab es sogar Störfeuer aus Berlin, zumindest vom Bundesverkehrsminister.

Beim Verbrenner-Aus waren wir mit unseren Grünen-Kolleg*innen aus Berlin sehr eng zusammen. Aber ja, das Hin-und-Her von Deutschland in dieser Frage war eine sehr schlechte Performance und hat hier in Brüssel wahnsinnig viel Porzellan zerschlagen. Aber ganz offen: Ich habe wirklich sehr viel Kritik an der französischen Regierung. Doch im Élysée-Palast gibt es eher das Bestreben, auch mit bestimmten Vorschlägen einfach mal voranzugehen. Im zweiten Schritt wird dann geschaut, wie dafür Mehrheiten organisieren werden können. Aus dem Kanzleramt habe ich öfter die Wahrnehmung, man schaut erst einmal, was ist möglich. Erst dann wird moderiert und erneut geschaut, wie viele Staaten sich hinter einem Vorschlag versammelt haben. Wenn es genug sind, kann Deutschland mitgehen. Ich wünsche mir aber bei solchen wichtigen Fragen, wie wir die Europäische Union weiterentwickeln können, gerade aus dem bevölkerungsreichsten EU-Mitgliedsland klarere Positionierungen. Immer nur eine Moderator*innenrolle reicht nicht aus.

Ist das nicht auch ein Problem in Ihrer Fraktion, dass es »zwei Geschwindigkeiten« bei der Weiterentwicklung der EU gibt? Die Grünen vertreten in ihren jeweiligen Herkunftsländern in einigen Fragen ja durchaus auch unterschiedliche Positionen.

Natürlich gibt es Differenzen. Beispielsweise mit den Kolleg*innen aus den nordischen Ländern über die Frage, wie viele Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert werden sollen. Und es gibt selbst innerhalb der nationalen Delegationen häufig unterschiedliche Sichtweisen auf verschiedene Themen. Der große Unterschied zwischen uns und zum Beispiel der Linksfraktion, aber auch anderen Fraktionen hier im Parlament, ist, dass wir am Ende, nach intensiven Debatten, eine gemeinsame Position haben. Das klappt nicht jedes Mal, es kommt schon vor, dass die Abgeordneten unterschiedlich abstimmen. Aber wir haben klar verinnerlicht, dass wir nicht Repräsentant*innen unserer nationalen Debatten oder unserer Nationalstaaten sind. Sondern europäisch gewählte Abgeordnete, die eine gemeinsame europäische Linie und Position entwickeln und vertreten.

Die europäischen Grünen haben sich auch eine feministische Europapolitik auf die Fahnen geschrieben. Was heißt das für Sie?

Feministische Politik im Allgemeinen bedeutet immer, nicht nur zu schauen, wie geht es Frauen* in der Gesellschaft. Das ist natürlich ein ganz wichtiger Punkt. Aber es geht darüber hinaus. Wir schauen, wie Macht organisiert ist und was zu tun ist, damit niemand an den Rand gestellt wird. In den vergangenen vier Jahren haben wir in im Europäischen Parlament viel in diese Richtung bewegt. Wir haben gerade eine Vorlage für eine Richtlinie gegen geschlechtsbasierte Gewalt auf europäischer Ebene erarbeitet. Wir werden als EU der Istanbul-Konvention beitreten. Ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Gewalt an Frauen. Wir haben eine Lohntransparenz-Richtlinie, die so gut wie fertig ist. All das sind Schritte, die die Gesellschaft so verändern können und werden, dass es gerechter und demokratischer zugeht. Das ist nicht nur grünes oder linkes Anliegen, sondern für alle Menschen, denen Demokratie und Gerechtigkeit am Herzen liegen.

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

Sie wollen Kontakt zu uns aufnehmen?

die-zukunft.eu freut sich auf Ihre/auf Eure Vorschläge für Beiträge zur Debatte über ein anderes Europa. Bitte geben Sie Ihren Namen, die Organisation sowie eine Kontaktadresse an.