Griechenland vor EU-Wahl: Viermal links
Während der konservativer Premier Mitsotakis auf einer neoliberalen Erfolgswelle schwimmt, konkurrieren in Griechenland bei den Europawahlen gleich vier linke Listen
Die Debatte im Europäischen Parlament war wenig schmeichelhaft für die Regierung des griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis. Mit 330 gegen 254 Stimmen bei 26 Enthaltungen drückten die Abgeordneten in der Plenarsitzung am 7. Februar in einer Resolution „tiefe Besorgnis über die sehr ernsthaften Bedrohungen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und fundamentaler Rechte“ in Griechenland aus. Vor allem die „Freiheit der Medien“ sei bedroht. Auch der Einsatz geheimdienstlicher Mittel zur Ausspähung der Opposition wird scharf verurteilt, ebenso „exzessive Polizeigewalt“ sowie „Angriffe und Verleumdungskampagnen“ gegen Menschenrechtsgruppen und Migrant*innen.
Der seit 2019 regierende Mitsotakis von der konservativen Nea Dimokratia (Neue Demokratie) gibt sich freilich wenig beeindruckt von der Resolution, die mit den Stimmen der linken, grünen und sozialdemokratischen Parteien gegen Konservative und Rechtsextreme angenommen wurde. Denn in den großen Medien in Griechenland wird kaum darüber berichtet.
Mitsotakis: autoritär und neoliberal
Kyriakos Mitsotakis, der smarte 55-jährige Harvard-Absolvent und Spross einer mächtigen Familiendynastie – sein Vater Konstantinos war von 1990 bis 1993 Ministerpräsident –, verweist lieber auf Erfolge. Nach vielen Krisenjahren gilt Griechenland in Wirtschafskreisen mittlerweile als Wunderkind. Das britische Finanzmagazin The Economist hob das Mittelmeerland Ende 2023 zum zweiten Mal in Folge auf Platz eins seiner Liste der „erfolgreichsten Wirtschaftsentwicklung“. Entscheidende Indikatoren sind dabei die boomenden Aktienkurse und gestiegene Kreditwürdigkeit, aber auch Wirtschaftswachstum und gesunkene Arbeitslosigkeit. Dass es sich bei den neuen Jobs meist um prekäre Arbeitsverhältnisse handelt und die Löhne stagnieren, spielt in diesem interessengeleiteten Erfolgsdiskurs keine Rolle. Autoritäre Kontrolle und neoliberale Wirtschaftspolitik: Mit dem Gesellschaftsmodell eines „autoritären Neoliberalismus“ konnte Mitsotakis in den fast vier Jahren seit der Abwahl der linken Regierung von Alexis Tsipras seine Position festigen.
Profilierte Kritiker wie der Dekan des Instituts für Politische Wissenschaften an der Panteion-Universität, Dimitris Christopoulos, sprechen von einer „Orbánisierung“ Griechenlands. Aber im Unterschied zu Viktor Orbán setzt Mitsotakis auf eine enge Zusammenarbeit mit den USA, der NATO und der Europäischen Kommission. Diesen wiederum kommt sehr gelegen, dass er sich um eine Verbesserung des Verhältnisses zum Nato-Partner Türkei bemüht. Schließlich geht es dabei auch um die militärische Kontrolle des östlichen Mittelmeerraumes, einer Region, die im Kontext des Ukraine- und des Nahost-Kriegs enorm an sicherheitspolitischer Bedeutung gewonnen hat.
Internationalen Druck wegen der Menschenrechtslage hat Mitsotakis daher nicht zu fürchten. Ganz im Gegenteil: Die nationalistische Rhetorik von gleich drei rechtsextremen Parteien im griechischen Parlament sorgt dafür, dass Mitsotakis sich erfolgreich als gemäßigter Konservativer inszenieren kann. Gute Voraussetzungen für die Europawahlen im kommende Juni: Nea Dimokratia steht mit knapp 30 Prozent unangefochten auf Platz eins der Umfangen.
Syriza in der Krise
Die griechische Linke dagegen befindet sich in einer tiefen Krise. Noch vor zehn Jahren mobilisierten große Teile der Gesellschaft gegen die Folgen der Austeritätspolitik von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, die Griechenland im Kontext der Eurokrise immer neue Sparauflagen machten. Die im Land als neokolonial wahrgenommene „Troika“ war verhasst, Massenproteste und Generalstreiks stärkten die politische Linke. Griechenland wurde zu einem Laboratorium rebellischer Politik, in der soziale Bewegungen, massenhafte Platzbesetzungen, kritische Wissenschaft und linke Parteien zusammenwirkten.
Die „Koalition der Radikalen Linken“ (Syriza) – ein Wahlbündnis, das ein breites Spektrum linker Gruppen vereinte – konnte damals unerwartete Erfolge feiern. Hatte Syriza bei der Wahl 2004 noch 3,2 Prozent errungen, erreichte sie unter der Führung des charismatischen Tsipras Anfang 2015 mit 36,3 Prozent die Mehrheit der Parlamentsmandate – ein Festtag für die gesamte europäische Linke.
Doch die Krise der Partei begann bereits kurz nach der Regierungsübernahme. Unter dem massiven Druck der Troika sah sich die Regierung Tsipras im Sommer 2015 gezwungen, einen pragmatischen Kurs des Krisenmanagements einzuschlagen. Sie beugte sich den Diktaten, stimmte Privatisierungen und Kürzungen zu. So gelang es Syriza zwar, die schlimmsten Folgen der Austeritätspolitik abzufedern und einige wichtige Reformen, vor allem im Gesundheitswesen, auf den Weg zu bringen. Auch außenpolitisch konnte Tsipras mit der Beilegung des Namenstreites mit Nord-Mazedonien einen wichtigen Erfolg feiern.
Aber die Popularität der linken Regierung verwelkte, ihre gesellschaftliche Mobilisierungskraft lies nach. Bei der Parlamentswahl im Juli 2019 erreichte Syriza zwar immer noch stolze 31,5 Prozent. Aber das Establishment war zurück: Mitsotakis konnte Tsipras mit 39,8 Prozent ausstechen und als Ministerpräsident ablösen. Auch in der Opposition konnte sich Syriza nicht erholen, im Gegenteil: Bei der Parlamentswahl im Juni vergangenen Jahres erreichte die Partei mit lediglich 17,8 Prozent ein schlechtes Ergebnis, Tsipras trat als Parteivorsitzender zurück.
Vor den anstehenden Wahlen zum Europaparlament bietet die griechische Linke ein Bild der Zersplitterung. Der im September vergangenen Jahres in einem Mitgliedervotum zum neuen Syriza-Vorsitzenden gewählte 35-jährige Stefanos Kasselakis ist eine schillernde Figur, die viel öffentliches Interesse erregt. Seine Person und sein politisches Agieren sorgen in der Partei aber für Irritationen und Konflikte.
In den parteiinternen Vorwahlen überzeugte Kasselakis noch durch seine Jugendlichkeit. Seine offene homosexuelle Partnerschaft ist im konservativen Griechenland für einen Spitzenpolitiker ein Novum. Doch seit seiner Wahl versucht Kasselakis, Syriza als eine Kraft der politischen Mitte zu platzieren. Kritiker*innen verweisen darauf, dass der Newcomer früher für Goldman Sachs gearbeitet und vor seinem Seiteneinstieg bei Syriza keine linke Politik betrieben habe. Kasselakis selbst spricht davon, dass Griechenland eine „patriotische Linke“ benötige. Überzeugen kann er die Öffentlichkeit damit bislang nicht. Nach aktuellen Meinungsumfragen liegt Syriza mit lediglich 13 Prozent sogar noch hinter der profillosen Sozialdemokratie der Pasok-Kinal auf Platz drei. Ende Februar wird ein SYRIZA-Kongress zeigen, wie sich die orientierungslos wirkende Partei für die Europawahlen aufstellen will.
Vier linke Listen
Für einen erheblichen Teil der bisherigen Parteispitze hat Kasselakis’ Kurs allerdings bereits zum Bruch mit Syriza geführt. Die bei den parteiinternen Wahlen unterlegene ehemalige Arbeitsministerin Effie Achtsioglou trat im vergangenen November zusammen mit zehn weiteren Parlamentsabgeordneten aus der Partei aus. Drei der fünf Europaabgeordneten und 46 Mitglieder des Zentralkomitees folgten. Unter ihnen sind der ehemalige Finanzminister Euclid Tsakalotos und der ehemalige Innenminister Alexis Charitsis, zwei Schwergewichte aus dem früheren Kabinett von Tsipras. Die abtrünnigen Abgeordneten gründeten die Partei Nea Aristera (Neue Linke), die Anfang März ihren ersten größeren Kongress durchführen wird.
Charitsis, der Sprecher der Parlamentsgruppe von Nea Aristera, möchte die neue Partei mit einem klaren linken Profil ausstatten. „Soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Demokratie“ sieht er dabei als Schwerpunkte. Vor allem in der akademischen und urbanen Linken scheint das Projekt durchaus Anklang zu finden, auch wenn viele in diesem Milieu eine kritische Aufarbeitung der Regierungszeit von Syriza vermissen, die von den führenden Nea-Aristera-Funktionär*innen mit geprägt worden war. Die große Frage wird allerdings sein, wie sich die neue Partei, die nur über geringe Ressourcen verfügt, kurzfristig im ganzen Land bekannt machen kann. In Meinungsumfragen steht Nea Aristera bisher bei etwa drei Prozent. Für die Europawahlen sucht die Partei nach möglichen Bündnispartnern, um zumindest ein oder zwei Mandate gewinnen zu können.
Profitieren von der Krise konnte die sozialdemokratische Pasok-Kinal. Konkurrenz für Syriza, aber auch für Nea Aristera, kommt derzeit allerdings ebenso von links. Denn der bereits 2015 aus der Syriza-Regierung ausgetretene frühere Finanzminister Yanis Varoufakis, der international durch seine öffentlichkeitswirksamen Konfrontationen mit Wolfgang Schäuble zu einiger Bekanntheit gelangt ist, wird voraussichtlich mit seiner Partei Mera (Der Tag) bei den Europawahlen antreten, kann aber derzeit ebenfalls nur auf rund drei Prozent hoffen. Wie sich Mera für die Wahl aufstellen wird, ist noch nicht entscheiden. Ein Bündnis mit Nea Aristera wäre politisch zwar möglich, dürfte aber aufgrund der nicht aufgearbeiteten Konflikte der Vergangenheit kaum zustande kommen. Besser stehen die Chancen für ein Bündnis zwischen Nea Aristera und der vom ehemaligen Syriza-Europaabgeordneten Petros Kokkalis gegründeten grünen Partei Cosmos.
Bemerkenswert stabil zeigt sich dagegen die traditionsreiche Kommunistische Partei Griechenlands (KKE). Ihr langjähriger Vorsitzender, der 68-jährige Dimitris Koutsoumpas, gilt in Meinungsumfragen derzeit sogar als der beliebteste Politiker des Landes. Die KKE ist gesellschaftspolitisch konservativ und politisch dogmatisch; sie verfügt indes mit Pame über eine eigene Gewerkschaft mit beträchtlichem Mobilisierungspotenzial. Auch ihr Studierenden- und Jugendverband ist gut verankert. Umfragen zufolge könnte die KKE bei den Europawahlen zehn Prozent erringen. Während ihre konsequente Verweigerung, an linken Koalitionsregierungen und Bündnissen teilzunehmen, offenbar der eigenen Glaubwürdigkeit nutzt, legt sie damit zugleich ihr Wählerpotenzial für jede Art der parlamentarischen Realpolitik lahm.
Die Umgruppierungen haben allerdings erst begonnen. Erfolg oder Misserfolg bei den Europawahlen wird darüber entscheiden, ob Kasselakis sich als Parteivorsitzender überhaupt halten kann. Und im Lager links von Syriza werden sich neue Allianzen bilden müssen, um wahlpolitische Erfolge erzielen zu können.
Entscheidend aber ist, ob die griechische Linke dem Modell des autoritären Neoliberalismus der Regierung Mitsotakis eine glaubwürdige Alternative entgegensetzen kann. Einen Anfang könnten die Schüler*innen und Studierenden machen, die derzeit gegen die beabsichtige Privatisierung der Hochschulen streiken und damit auf den Straßen wieder einen wahrnehmbaren gesellschaftlichen Widerstand markieren, der in den vergangenen Jahren weitgehend verloren gegangen ist.
Der Text erscheint parallel bei nd.DerTag/nd.DieWoche
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