EU: Mehrheitsentscheidungen und Machtverschiebungen

Vor allem Frankreich und insbesondere Deutschland haben die europäischen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten verschoben

Fotos: © Europäisches Parlament, © Rico Prauss

Konsens in der gemeinsamen Außenpolitik? Das Prinzip, das selbst beim Militärbündnis NATO noch gilt, möchten EU-Machtpolitiker nun vollständig über Bord werfen. Aktuell kursiert in Brüssel der Entwurf für den „Jahresbericht über die Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP), der noch in diesem Jahr verabschiedet werden soll. In ihm schließt sich der konservative Berichterstatter David McAllister der seit Jahresbeginn seitens der Kommission lautstark erhobenen Forderung nach einer Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen (65% der EU-Bevölkerung und 55% der EU-Mitgliedsstaaten) im gesamten GASP-Bereich an.

Der Berichtsentwurf macht sich dabei nicht einmal allzu viel Mühe, die machtpolitischen Hintergründe der Forderung zu verbergen. Für die „von der Europäischen Union angestrebte globale Führungsrolle“ sei es äußerst hinderlich, „dass die Mitgliedstaaten allzu oft ihre nationalen Interessen in den Vordergrund stellen, unabhängig von den möglichen Folgen auf europäischer Ebene, was die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als globaler Akteur beeinträchtigt.“ Die Abschaffung des Konsensprinzips zugunsten qualifizierter Mehrheitsentscheidungen soll hier Abhilfe schaffen, indem darüber künftig sichergestellt wird, dass kleine und mittlere Staaten durch den Verlust ihres Vetorechts innerhalb der Brüsseler Machtarchitektur massiv an Einfluss einbüßen.

Schon Anfang des Jahres kritisierte Wolfgang Ischinger, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz: „Solange jeder Kleinstaat mit einem Veto eine gemeinsame Außenpolitik verhindern kann, wird die EU bei der Lösung internationaler Krisen […] nur eine Nebenrolle spielen.“ Ins selbe Horn blies auch Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der sich ebenfalls vehement beklagte: „Diese Einstimmigkeit, dieser Einstimmigkeitszwang hält uns davon ab, Weltpolitikfähigkeit zu erreichen. Immer wieder stellen wir fest, dass wir zu konsensuellen einstimmigen Beschlüssen nicht fähig sind.“ Im zugehörigen Fact Sheet „Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit“ erläuterte seine Behörde kürzlich die scheinbar mannigfaltigen Vorteile neuer außenpolitischer Abstimmungsmodalitäten. Sie sollen künftig für „Standpunkte zu Menschenrechtsfragen“, bei „Beschlüssen zur Verhängung von Sanktionen“ sowie bei „Beschlüssen zur Einleitung und Durchführung ziviler Missionen“ zum Tragen kommen. Dies ermögliche es der Union, „ihr ganzes Gewicht auszuspielen“, was bislang dadurch verhindert worden sei, dass kleinere Staaten immer wieder in die außenpolitische Suppe gespuckt hätten. Als Beispiele dafür werden u.a. die gescheiterten Versuche eine gegen China gerichtete Erklärung zum Seerechtsübereinkommen zu verabschieden, Sanktionen gegen Venezuela zu verhängen und einen Auslandseinsatz in der Sahel-Zone zu beschließen genannt.

Was allerdings den kleinen und mittleren Staaten verwehrt werden soll – nämlich EU-Maßnahmen verhindern zu können, sollten sie den nationalen Interessen zuwiderlaufen –, wollen sich die EU-Großmächte selbstredend weiter vorbehalten. Inzwischen wird immer deutlicher, wie weitreichend es ihnen – allen voran Frankreich und insbesondere Deutschland – gelang, die europäischen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben. Die Weichen hierfür wurden im Prinzip schon im 2004 unterzeichneten EU-Verfassungsvertrag gestellt, der eine neue Stimmgewichtung vorsah, die schlussendlich dann auch in den seit Dezember 2009 geltenden Vertrag von Lissabon übernommen wurde.

Unter dem Vorwand, die Union „demokratischer“ gestalten zu wollen, wurden inzwischen – seit 2014 gilt das neue Prozedere bei allen Mehrheitsentscheidungen im Rat der Staats- und Regierungschefs und im Ministerrat – die Stimmgewichte zugunsten der bevölkerungsreichen Länder neu verteilt. Und die sind, wie es der Zufall so will, auch die mächtigsten Länder in der Union. Gleichzeitig wurden die Bereiche, in denen mittlerweile mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt wird, deutlich ausgeweitet. Im Ergebnis hat dies (nach einem Brexit) zur Folge, dass sich der Stimmenanteil Frankreichs vom früher gültigen Verfahren des Vertrags von Nizza von 8,4 Prozent auf 15,02 Prozent erhöht, am deutlichsten profitiert aber Deutschland, dessen Einfluss sich von 8,4 Prozent auf 18,47 Prozent bei der entscheidenden Kategorie der Bevölkerungsanzahl mehr als verdoppelt.

Damit verfügen Deutschland und Frankreich zusammen also bereits nahezu über eine Sperrminorität, mit der sie jede unliebsame Initiative versenken können. Dieselbe Möglichkeit soll aber anderen Ländern gleichzeitig so weit wie möglich versperrt werden. Damit würde sich die Europäische Union weiter weg von einem Staatenbund mit – relativ – flachen Hierarchien hin zu einem Europa der Großmächte bewegen – und genau das ist auch Sinn und Zweck der Übung, wie etwa die regierungsnahe „Stiftung Wissenschaft und Politik“ recht unverblümt einräumt: „Die qualifizierte Mehrheit im Rat mit ihren Anforderungen (55% der Mitgliedstaaten, die 65% der EU-Bevölkerung repräsentieren) verleiht den großen Mitgliedstaaten erhebliches Gewicht. […] Die Mehrheitsverfahren funktionieren dann am besten, wenn sie genutzt werden, um Mitgliedstaaten zu Kompromissen zu bewegen, die sie im Fall eines einzelstaatlichen Vetorechts abgelehnt hätten.“

Ein Artikel von Sabine Lösing und Claudia Haydt

Sabine Lösing

Sie ist Europaabgeordnete der LINKEN und u.a. Koordinatorin der GUE/NGL-Fraktion im Auswärtigen Ausschuss (AFET) und im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung (SEDE), Stellvertretende Vorsitzende im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung sowie Friedenspolitische Sprecherin der Delegation DIE LINKE im Europäischen Parlament.

Claudia Haydt

Claudia Haydt ist Religionswissenschaftlerin und Soziologin. Sie gehört dem Vorstand der Partei der Europäischen Linken sowie dem Vorstand der Partei DIE LINKE an.

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