Eine Regierung des kleinsten gemeinsamen Nenners
Martina Michels zu 100 Tagen neue israelische Regierung, den Gestaltungsmöglichkeiten der Linken und die Position der EU
Genau 20 Wochen ist die israelische Regierung jetzt im Amt. Abgesehen von der Breite des politischen Spektrums dieser Koalition, was unterscheidet sie von den Vorgängerregierungen?
Man kann die jetzige Regierung nicht losgelöst sehen von der vorherigen Regierung Netanjahu, die das Land in eine schier ausweglose, absolut konservative, anti-palästinensische Richtung gedrängt hat. Ich glaube, was nach dem vierten Wahlgang in Israel in weniger als zwei Jahren mehr oder weniger geeint hat, ist das Ziel, Benjamin Netanjahu abzulösen. Natürlich gab es schon immer Regierungen, auch unter Netanjahu, mit verschiedensten Partnerinnen und Partnern, aber dass so viele Lager jetzt vereint sind in dem Willen, die Ära Netanjahu zu beenden, das ist das erste Mal.
Was zeichnet die neue Koalition aus?
Neu ist vor allem, dass das Bündnis so breit und vielschichtig ist, dass sich darin sowohl die rechtsextreme, religiöse Partei Jamina als auch die neo-liberale Mitte-rechts-Partei Jesch Atid mit einer muslimischen Partei und den linksorientierten Meretz und Awoda vereinen. Eine Regenbogenregierung also, von einer Einheitsregierung würde ich nicht sprechen, weil dieses Bündnis so fragil und so unterschiedlich ist, dass es automatisch Chance und Risiken in sich birgt. Abzuwarten bleibt, ob die Koalition Bestand hat, ob sie überhaupt das nächste Jahr übersteht, weil klar ist, dass Netanjahu alles daran setzen wird, wieder an die Macht zu kommen.
Kann man so weit gehen und sagen, dass es eher ein Regierungsbündnis ist gegen jemanden oder gegen etwas, nämlich gegen Netanjahu und seine Politik, anstatt ein Bündnis für etwas und für ein neues politisches Projekt?
Der Ausgangspunkt war natürlich: Wir wollen die Ära Netanjahu beenden, den Stillstand, die konservative, fast schon extreme Rolle Netanjahus; die Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu dürfen wir auch nicht vergessen. Das war zunächst das einende Band der Regierung, und das muss man auch so nüchtern feststellen. Das ist nicht wenig, aber auch nicht alles, denn den Versuch zu unternehmen, einen Politikwechsel hinzubekommen, den bleibt diese Regierung nach wie vor schuldig. So viel kann man schon sagen, aber die Alternative wäre wieder eine von Netanjahu geführte, extreme Regierung gewesen. Jetzt ist die Frage: Wie schafft es diese Regierung, daraus auch einen Politikwechsel hinzubekommen?
Welche positiven Punkte würden Sie dieser Koalitionsregierung zuschreiben?
Positiv ist, dass es mit dieser politischen Heterogenität und Unterschiedlichkeit in der Koalition einen Zwang gibt zur Abstimmung und zu einem gewissen Respekt untereinander, denn alle eint die große Fragestellung: Schafft man es, zusammenzuhalten und nicht gleich mit dem Austritt aus der Koalition zu drohen? Versucht man schrittweise, einen Wechsel in der Kommunikation, in der politischen Herangehensweise und ein gemeinsames Zusammenwirken hinzubekommen? Ein Vertreter der linken Meretz-Partei hat klar gesagt: Wir müssen uns bei jeder Sache abstimmen. Dazu kommt, dass die Koalition keine große Mehrheit hat, 61 von 120 Stimmen. Das heißt, du hast die Notwendigkeit, Dinge vorher auszudiskutieren, um eine stabile Mehrheit zu haben. Da braucht es bloß ein, zwei Abweichler und du hast keine Regierungsmehrheit mehr. Die politische Kommunikation ist also sehr wichtig.
Und die negativen Punkte?
Man muss auf der anderen Seite konstatieren, dass die Regierung sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen kann, zum Beispiel in Bezug auf die Palästinenserinnen und Palästinenser den Status quo festzuschreiben. Naftali Bennett ist als neuer Regierungschef in der UN-Vollversammlung aufgetreten und hat das Wort ›Palästinenser‹ nicht einmal in den Mund genommen. Da ist die große Frage, die sich auch die Vertreterinnen und Vertreter der linksorientierten Meretz und der Arbeitspartei Awoda stellen lassen müssen, die beide der Koalition angehören: Inwieweit tragen sie dazu bei, dass zum Beispiel die Besatzungspolitik oder die Checkpoints stillschweigend hingenommen werden und man möglicherweise dadurch zulässt, dass die Frage der Menschenrechte hinter den Zwängen der Regierung zurückstehen?
Da sehe ich ein sehr, sehr großes Risiko, was auch unsere Partnerinnen und Partner von der oppositionellen Vereinten Liste so sehen. Diese Situation sei mitverantwortlich, dass die Besatzung so stillschweigend hingenommen wird: Es werden keine Checkpoints abgebaut, die Siedlungspolitik wird nicht offen diskutiert. Das ist problematisch, möglicherweise resultieren daraus aber auch Gelegenheit und Anstoß für neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den progressiveren Kräften in der Regierung und der geschwächten Opposition von der Vereinten Liste.
Die linksorientierte Vereinte Liste gehört der Regierungskoalition bewusst nicht an. Eine ihrer Vertreterinnen, Aida Touma-Suleiman, kritisiert explizit, dass ökonomische Zugeständnisse an die Palästinenser durch die derzeitige Regierung letzten Endes nur dazu dienten, an der Besatzung und den Ursachen des Konflikts nicht rühren zu müssen. Wie beurteilen Sie das?
Das sehe ich ähnlich. Die Bennett-Regierung versucht, über bestimmte finanzielle Zuwendungen die Lebenssituation der Palästinenserinnen und Palästinenser zu verbessern. Bedeutet das, man stellt sie einfach ruhig, um die Palästinenserfrage stillschweigend in die Warteschleife zu schieben, oder schafft man mithilfe von Meretz und der Arbeitspartei Awoda einen Aufbruch in eine neue Politik?
Das scheint mir momentan recht schwierig, zumindest würde ich diese ökonomischen Zugeständnisse erst mal nicht als absolut positiv einschätzen. Da sind die ersten 100 Tage Regierungsarbeit auch kein Ruhmesblatt, wo man sofort ablesen könnte, dass dadurch jetzt eine Wende stattfindet. Bennett hat sich ja mit dem US-Präsidenten Joe Biden getroffen, und auch da gab es erste Signale, dass man die politische Palästinenserfrage und den Umgang mit der palästinensischen Autonomiebehörde erst mal hintenanstellt. Die Befürchtung von Aida Touma-Suleiman ist also durchaus gerechtfertigt. Es ist immer eine schwierige Frage, inwieweit Linke, insbesondere aus einer geschwächten Position heraus, das Risiko einer solchen Regierungsbeteiligung eingehen sollten: Wird man womöglich am Ende benutzt, um eine Politik zu legitimieren, die eigentlich nicht die erklärte Zielstellung ist?
Zur Regierungskoalition gehört auch die Vereinigte Arabische Liste, Ra’am. Kann sie die Palästinenser repräsentieren und die israelischen Araber, oder dient sie in der Koalition eher als Feigenblatt?
Die Ra’am-Partei hat sich ja abgespalten von der Vereinten Liste und sich auf die Regierungskoalition eingelassen hat, weil sie sich dadurch einige Zugeständnisse für Ihre Wählerklientel – 3,79 Prozent der Bevölkerung – verspricht. Ich glaube aber nicht, dass die eher konservativ-islamistische Ra’am-Partei die Rechte aller Palästinenserinnen und Palästinenser sowie der palästinensischen Israelis voranbringen kann. Sie hat sich eher damit abgefunden, größtmögliche Kompromisse einzugehen.
Als Sprecherin aller arabischen Bevölkerungsteile würde ich sie nicht bezeichnen. Wenn es eine Chance auf einen Politikwandel geben soll, dann sind Meretz und die Arbeitspartei diejenigen, von denen man erwarten sollte, dass sie in dieser Regierung versuchen, Fortschritte hin zu wirklich gemeinsamer Politik für die jüdische und die arabische Bevölkerung in Israel zu erzielen. Von der Ra’am-Partei glaube ich das eher nicht, sie haben sich ja nicht ohne Grund von der Vereinten Liste verabschiedet – was übrigens auch für die arabisch-jüdische Vereinte Liste eine Schwächung bedeutet hat. Und das sehe ich schon kritisch.
Gibt es mit dieser Regierung mehr Spielraum für die Europäische Union, Druck auszuüben auf die israelische Regierung, den Konflikt mit den Palästinensern endgültig zu lösen?
Sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung sind in der Pflicht und in der Verantwortung, den Friedensprozess im Nahen Osten immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist nicht hinzunehmen, dass ein schwelender Konflikt einfach nur geschrumpft oder in die Warteschleife geschickt wird. Eine solche »Normalisierung« des Status quo ist keine Lösung. Mit der vom Europaparlament immer wieder geforderten Umsetzung der schon lange bestehenden Kennzeichnungspflicht für Importe in die EU ist auch klar: Produkte aus Israel und Produkte aus besetzten Gebieten müssen unterschiedlich bezeichnet werden und unterliegen unterschiedlichen Handelsbedingungen. Das klingt vielleicht bürokratisch, ist aber ein wichtiges Instrument, die israelischen und die palästinensischen Interessen differenziert und fair zu berücksichtigen.
Wir sind hier aber darüber hinaus in der Verantwortung, gerade die Menschenrechte, das Völkerrecht und soziale Gerechtigkeit und Demokratie immer wieder in den Fokus zu rücken. Ich glaube, dass sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung gar nicht umhinkommen, diese Fragen weiter im Blick zu behalten.
Die Europäische Union hat immer klargemacht: Die Sicherheit Israels, die Bekämpfung von Antisemitismus ebenso wie die Kooperation mit Israel sind für uns zentrale Politikinhalte. Dazu gehört aber auch die Unterstützung einer Zweistaatenlösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt auf der Grundlage der Grenzen von 1967 mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten, bei der ein sicherer Staat Israel und ein unabhängiger, demokratischer, zusammenhängender und lebensfähiger palästinensischer Staat auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts und der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts in Frieden und Sicherheit nebeneinander bestehen. Dazu gehört auch, die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser zu garantieren, sowohl in den besetzten Gebieten, bei der Siedlungspolitik als auch für die arabischen Israelis.
Wie realistisch ist die Zwei-Staaten-Lösung noch?
Ich glaube, wir sind von einer Zwei-Staaten-Lösung so weit entfernt wie nie zuvor. Das ist auch jedem klar: Solange sich die Politik nicht grundlegend ändert und auch das Bemühen spürbar wird, ist die Zwei-Staaten-Lösung in weiter Ferne. Allerdings sage ich auch: Solange wir keine anderen Modelle haben und solange es keine Situation gibt, in der man ernsthaft einen Vorschlag diskutieren kann für eine Ein-Staaten-Regelung mit gleichberechtigtem Zugang oder gleichberechtigten Chancen sowohl der Palästinenserinnen und Palästinenser als auch der Israelis, ist die Zwei-Staaten-Lösung die einzige Lösung, die auf dem Tisch liegt. Man kann viel spekulieren, aber solange das die einzige Lösung ist, muss man diese weiter forcieren.
Letztlich führt aber kein Weg daran vorbei, dass eine Verhandlungslösung vereinbart wird, mit der beide Seiten gut leben und sich sicher fühlen können. Und dass man langfristig zu Lösungen in der Region insgesamt kommt.
(Der Beitrag ist auch erschienen in der Tageszeitung „nd.DerTag“.)
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