»Die Wahl von der Leyens war eine Täuschung«

Gregor Gysi, Präsident der Partei der Europäischen Linken, zu Wahlverlusten, zu Koalitionen der LINKEN mit der CDU und zu seinen vier Jobs

Foto: Gregor Gysi bei seiner Rede auf dem LINKE-Parteitag im Februar in Bonn © Sattler

Sie haben ihren Rückzug von der Spitze der Partei der Europäischen Linken angekündigt – ist das ein Eingeständnis persönlichen Scheiterns?

Nein, überhaupt nicht. Persönlich war ich eher erfolgreich. Ich hatte interessante Gespräche beim EU-Kommissionsvorsitzenden Juncker, beim Chef der Europäischen Zentralbank Draghi, bei Martin Schulz, als er noch Parlamentspräsident war, und bei seinem Nachfolger Antonio Tajani. Ich war sogar beim Papst und habe ihm vorgeschlagen, dass er die Initiative ergreift zu einer Armutskonferenz unter dem Dach der UNO.

Ihr Erfolg als Diplomat zeigt sich aber nicht im Erfolg der Linken zur EU-Parlamentswahl.

Das Wahlergebnis ist kein Erfolg. Das war enttäuschend. Es zeigt, wie ungenügend bisher die europäische Linkspartei wahrgenommen wird. Das liegt auch daran, dass europäische Wahllisten nicht zugelassen wurden. Die Parteien führen einen rein nationalen Wahlkampf. Es gab keinen wirklichen europäischen Akteur.

Keine der europäischen Partei konnte transeuropäische Listen aufstellen. Aber den Linken fällt es auf die Füße, den Grünen nicht.

Weil die Bewegung der Jugend gegen den Klimawandel der ökologischen Frage einen völlig neuen Stellenwert verschafft hat. Davon profitieren die Grünen. Das Zweite ist, dass die Grünen auf die Konservativen zugehen. Das heißt, sie sprechen jetzt gezielt auch Bevölkerungskreise an, die sie früher verschreckt haben. Was mich aber wirklich ärgert, ist der dritte Punkt: Dass die Grünen als Gegenüber zu den Rechtspopulisten wahrgenommen werden. Dabei müssten das die Linken sein. Da zeigt sich das Problem unserer Meinungsverschiedenheit, gerade auch zu den Flüchtlingen.

Dieser Streit ist Grund für den Verlust so vieler Wählerstimmen?

Der Streit schadet uns zumindest mehr als anderen. Das muss ich den Grünen lassen, die kloppen sich genau so wie wir, aber nichts davon steht in der Zeitung. Bei uns steht ein Streit schon in der Zeitung, wenn er noch gar nicht stattgefunden hat. Wie wir das anders hinkriegen, ist mir eher schleierhaft.

Derzeit wird in den internen Debatten der Linkspartei alles in Frage gestellt, die Spitzenkandidaten, das Wahlkampfkonzept, seine Umsetzung. Was hat die deutsche LINKE falsch gemacht?

Zunächst interpretiert jeder die Niederlage so, wie er es für seine früheren Argumente benötigt. Wer gegen die Spitzenkandidaten war, gibt Ihnen die Schuld, wer gegen das Programm diesem usw. Es gab aber zu drei Punkten keine einheitliche Auffassung – zu Flüchtlingen, zum Euro und zur europäischen Integration. Das ist nicht gut. Die Linke muss glaubwürdige Alternative zur etablierten Politik aufstellen. Die Protestpartei nimmt uns keiner mehr richtig ab, weil wir gleichzeitig in vier Bundesländern mitregieren, in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten stellen. Aber gerade weil die etablierte Politik immer unglaubwürdiger wird, müssen wir uns darin unterscheiden. Das heißt, dass wir bestimmte Prinzipien haben, die gelten, und nicht Argumente so benutzen, wie man sie gerade braucht.

Zum europäischen Akteur soll die LINKE auch noch werden. Das hat nicht einmal die europäische Linkspartei geschafft. Wieso eigentlich nicht?

Jede negative Entwicklung hat eine positive Seite. Ich glaube, dass im Sekretariat und im Vorstand der Europäischen Partei der Linken jetzt viel mehr Mitglieder begriffen haben, dass wir uns verändern müssen. Ich glaube, dass jetzt die nötigen Veränderungen kommen werden.

Welche Veränderungen?

Na, die skandinavischen Parteien haben schon den Satz »Wir sind für den Austritt aus der EU« aus ihren Programmen gestrichen. Das war ein Beginn. Es gibt derzeit neue Gespräche mit der französischen Partei La France Insoumise, die bekanntlich die EL verlassen hatte. Ich habe zum diesjährigen Alternativen Forum der progressiven Kräfte Europas in Brüssel im Herbst Greta Thunberg, die Kapitänin Carola Rackete eingeladen und hoffe auch auf Ansprachen von Alexis Tsipras und Jean-Luc Mélenchon. Ferner glaube ich, dass auch Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Grüne kommen werden. Wir könnten hier etwas Neues für die progressiven Kräfte Europas etablieren. Ein Forum, das Schritt für Schritt die Bedeutung erhält, welche das Forum von Sao Paulo für die globale soziale Frage hat.

Welche Mission hätte eine solche Bewegung?

Beispielsweise, die ökologische Frage in sozialer Verantwortung, aber auch die soziale Frage für Europa anzugehen. Das war immer schon auch eine internationale, aber vorwiegend musste sie national beantwortet werden. Nun ist sie aber eine Menschheitsfrage geworden. Damit beschäftigen sich die Linken noch nicht ausreichend, die anderen Parteien nun schon gar nicht. Aber dies ist unsere Aufgabe.

Und was ist mit der Klimafrage?

Da müssen wir den Unterschied zu den Grünen klar machen. Die wollen anti-ökologisches Verhalten teuer machen, damit es seltener wird. Und ich sage, damit wird es zum Privileg. Das kann für die Linke nie die Lösung sein! Zum Beispiel müssen wir bei der Mobilität andere Wege gehen, müssen die Mobilität aber für alle sichern. Wenn vom Dorf zur Kreisstadt heute nur noch einmal am Tag ein Bus fährt, dann gibt es keine Mobilität. Und dann noch gegen das Auto zu argumentieren, das geht so nicht, also ökologische Nachhaltigkeit immer in sozialer Verantwortung.

Bei so vielen Ambitionen gibt es doch gar keinen Grund, die Präsidentschaft der Europäischen Linken abzugeben.

Ich habe natürlich auch darüber nachgedacht, ob ich mir das weiter zumuten sollte. Im Dezember haben wir die Wahlen in der EL, im Januar werde ich 72. Die Legislaturperiode dauert drei Jahre, dann bin ich 75. Man soll es auch nicht übertreiben.

Abgesehen von Pierre Laurent sind bisher alle Präsidenten der Europäischen Linken nach drei Jahren nicht mehr angetreten.

Das ist ja interessant. Dann habe ich ja noch ein Argument. Ich habe vorgeschlagen, dass der Präsident künftig einzeln gewählt werden soll.

Wie bereits Sie vor drei Jahren?

Leider nicht, ich wurde im Kollektiv gewählt. Mit einer Einzelwahl erhielte die Präsidentin bzw. der Präsident auch mehr Gewicht.

Kommissionspräsident Juncker haben Sie getroffen, Frau von der Leyen wird seine Nachfolgerin. Eine gute Wahl aus Ihrer Sicht, Herr Gysi?

Abgesehen davon, dass sie nicht bei der Europawahl angetreten ist, was eine neue Täuschung der Wählerinnen und Wähler bedeutet, hat mich bei ihr am meisten ihr mangelnder Mut gegenüber Donald Trump gestört.

Inwiefern?

Dass sie dem Druck nachgibt, dass wir zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung ausgeben sollen. Wir gaben 2018 38,5 Milliarden aus, 2019 sind 43,2 Milliarden geplant und dann sollen es über 75 Milliarden Euro werden? So etwas von fehlgeleiteten Steuermitteln habe ich wirklich selten gesehen. Es gibt gar kein Nachbarland, das sich gerade darauf vorbereitet, gegen uns Krieg zu führen. Warum konnten Frau Merkel und Frau von der Leyen nicht einfach mal sagen: Nein, Herr Trump, das machen wir nicht!

Aber als EU-Kommissionspräsidentin muss Frau von der Leyen Diplomatie können, auch gegenüber den USA.

Was ist denn daran diplomatisch, wenn die EU auch noch interventionsfähig wird? Jean-Claude Juncker hat wenigstens ab und zu eine Art soziales Verständnis erkennen lassen. Als er den Banken in Luxemburg geholfen hat, wurde gleichzeitig eine Gewinnbeteiligung vereinbart. Und mit der Gewinnbeteiligung konnte er Sozialausgaben bestreiten. Die Bundesregierung half der Commerzbank wieder auf die Füße – ohne Gewinnbeteiligung. Und als die Bank wieder Gewinn machte, hat sie nicht mal Steuern bezahlt. Und die Sozialdemokraten sitzen mit in dieser Regierung, ich fasse es nicht.

Eine Mitte-links-Regierung scheint gerade der Königsweg in den Debatten zu sein – als Ausweg nach der Niederlage bei der EU-Wahl.

Langfristig unterstütze ich dies ausdrücklich. Aber man muss sich sehr gut darauf vorbereiten. Zum Beispiel muss man wissen: Wer nicht kompromissfähig ist, ist nicht demokratiefähig, und wer zu viele Kompromisse macht, gibt seine Identität auf. Wie kann man das beherrschen? Ist ganz einfach: Alle Schritte müssen in die richtige Richtung gehen, sie dürfen nur kürzer sein, als man es sich vorgestellt hat. Wenn man aber Schritten in die falsche Richtung zustimmt, gibt man seine Identität auf.

Wer bestimmt, ab wann Schritte nicht nur kurz sind, sondern in die falsche Richtung gehen?

Ein Beispiel: Wir sind für das Verbot von Waffenexporten. Das würden wir aber bei SPD und Grünen nicht durchsetzen. Aber wenn wir durchsetzten, nicht mehr an Diktaturen wie Saudi-Arabien, nicht mehr in Spannungsgebiete wie in den Nahen Osten zu liefern, wäre das schon ein gewaltiger Fortschritt. Wir hätten zwar unser Ziel nicht erreicht, aber wir können sagen, die Schritte gehen in die richtige Richtung.

Sie ziehen Ihre Motivation auch aus positiven Reaktionen, aus dem Beifall des Publikums. Wie gehen Sie mit der Ablehnung in Leipzig um, wo ehemalige Bürgerrechtler Ihre Festrede am 9. Oktober in der Peterskirche zum Gedenken an die große Demonstration in Leipzig verhindern wollen?

Es handelt sich dabei ja nicht um die offizielle Staatsfeier, sondern um ein Konzert mit der Neunten von Beethoven, und die Leipziger Philharmoniker haben mich eingeladen, an diesem Tag zu sprechen.

Dabei bleibt es?

Die Philharmonie bleibt bei ihrer Einladung, und ich bleibe bei meiner Zusage. Ich bin froh, in einer Gesellschaft zu leben, in der jede Einrichtung einladen darf, wen sie will und jeder Eingeladene entscheiden darf, ob er reden will, und wo nicht andere vorschreiben, wen man einladen darf, oder wer reden darf. Das ist mein Kommentar dazu.

Sie haben mir Ihrem Alter kokettiert. Angela Merkel wird derzeit zum Gegenstand von Spekulationen, weil sie offenbar gesundheitlich angeschlagen ist. Halten Sie die Debatten für angemessen?

Ich äußere mich nicht zu Frau Merkels Gesundheit, ich bin kein Mediziner. Ich halte den Drang vieler Politiker, gesundheitliche Probleme lieber zu überspielen als zuzugeben, allerdings für fragwürdig. Auch sie dürfen mal krank werden. Ich finde aber generell, dass Angela Merkels Fähigkeiten zu verwalten, beachtlich sind. Den gegenwärtigen Herausforderungen ist sie allerdings nicht gewachsen. Aber das hat nichts mit ihrer Gesundheit zu tun.

Man kann sich kaum vorstellen, dass Gregor Gysi sich zur Ruhe setzt.

Ich übe ja zur Zeit vier Berufe aus: ich bin Politiker, ich bin Rechtsanwalt, Autor – ich bitte nicht zu unterschätzen, wie anstrengend es ist, Bücher zu schreiben – und ich bin Moderator auf drei Bühnen. Im Deutschen Theater, in der Distel und im Neuzeller Kloster. Das reicht, aber ich brauche es auch, weil ich neugierig bin.

In diesem Jahr stehen noch wichtige Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern an. Haben Sie mit Ihren vier Jobs die Zeit, im Wahlkampf auftreten, wie bisher gewohnt?

Ich werde auftreten, aber etwas reduziert, da ich nicht mehr Fraktionsvorsitzender bin. Ich will aber helfen, gute Ergebnisse zu erreichen, und zwar sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen und ganz besonders in Thüringen. Ich möchte, dass der erste linke Ministerpräsident bestätigt wird. Das wäre ein schöner Erfolg. Und gerade in einem nicht so leichten Land wie Thüringen.

Und was, wenn die Prognosen sich bewahrheiten und die AfD so erfolgreich wird, wie man hier jetzt zumindest befürchtet?

Das hat etwas mit der Identitätskrise zu tun. Wir müssen uns alle Gedanken machen, es müsste sogar mal ein Gespräch von der CSU bis zur LINKEN geben, welche unterschiedlichen Aufgaben man hat, um das Interesse, die AfD zu wählen, abzubauen. Wir brauchen Investitionen im Osten, wir brauchen endlich gleiche Löhne und gleiche Renten, und die ganzen abgehängten Regionen müssen mitkriegen, dass die Regierung sich für sie interessiert, dass da eben auch etwas passiert. Dieses blöde Verhältnis zur Schwarzen Null! Für Zukunftsinvestitionen kannst du immer auch Schulden machen und das in einer Zeit, in der du keine Zinsen zahlen musst, sondern der Staat teilweise sogar noch zusätzlich Geld bekommt, wenn er sich Geld leiht. Und sie investiert nicht, die Bundesregierung. Und dann müsste endlich eingesehen werden, dass es ein großer Fehler war, bestimmte Sachen aus dem Osten nicht für ganz Deutschland zu übernehmen. Hätten sie das gemacht, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestiegen und die Westdeutschen hätten erlebt, dass sich ihre Lebensqualität durch den Osten erhöht hätte. Das ist ihnen leider nicht gegönnt worden. Weil die Bundesregierung nicht aufhören konnte zu siegen.

Nach den Landtagswahlen ist DIE LINKE womöglich gut beraten, sich zu überlegen, mit wem sie zusammenarbeitet, eventuell Regierungskoalitionen bildet. Könnten dabei bisherige Tabus fallen?

Sie spielen auf Koalitionen mit der CDU an. Für mich gäbe es nur einen einzigen Grund, mit der CDU zu koalieren: wenn es zur Verhinderung eines neuen Faschismus erforderlich wäre. Soweit ist es zum Glück noch nicht und wird es hoffentlich auch nicht kommen.

Ein Artikel von Uwe Sattler, Uwe Kalbe und Gregor Gysi

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Nach zwölf Jahren in der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" ist der Journalist Mitglied des Vorstands der nd.Genossenschaft eG.

Uwe Kalbe

Er ist Redakteur und politischer Kommentator der in Berlin erscheinenden Tageszeitung "neues deutschland".

Gregor Gysi

Dr. Gregor Gysi (LINKE) ist Abgeordneter des Bundestags. Von 2005 bis 2015 war er dort Vorsitzender der Linksfraktion. Von Dezember 2016 bis Ende 2019 war er Präsident der Partei der Europäischen Linken (EL).

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