Die Hürden überwinden

Die EU-Zukunftskonferenz hat bereits zahlreiche Ergebnisse vorzuweisen. In der Endphase muss es nun darum gehen, einen Fahrplan für deren politische Umsetzung auszuarbeiten, so Helmut Scholz

Es hat schon etwas Irrationales. Da beschäftigt sich seit einem Jahr ein multilaterales Forum mit Veränderungsmöglichkeiten europäischer Politik, ist eine Debatte angestoßen und auf den Weg gebracht, die praktisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in der EU gerade aus Sicht der Bürger*innen, da wo ihnen der Schuh drückt, erfasst. Da wird in allen 27 EU-Ländern, über alle Ebenen hinweg und in den europäischen Institutionen diskutiert. Da sind – erstmals in der EU-Geschichte – Bürger*innen an einem Ländergrenzen überschreitenden „Verfassungsprozess“ beteiligt und gefordert, gemeinsam konkrete Vorschläge für Veränderungen vorzulegen. Und trotzdem führt die EU-Zukunftskonferenz ein Mauerblümchendasein – in der Politik wie in der Öffentlichkeit. Ein Problem: Viele Menschen, ja selbst eine große Zahl von Politiker*innen, haben von der Konferenz über die Zukunft Europas, nach ihrer englischen Abkürzung kurz COFE oder CoFoE, noch nie etwas gehört. Das andere: Viele Entscheider*innen in Politik und Wirtschaft wollen gar nicht, dass dieser Diskurs in die Öffentlichkeit getragen wird. Und das alles, obwohl in diesen Wochen überall von engagierten Verantwortlichen Foren mit Bürger*innen organsiert werden, bei denen es um mehr als Visionen für ein anderes Europa, um real anzupackende Prozesse, konkrete Vorhaben und Zeitpläne geht.

Dass es so viele Hindernisse gibt, sollte nicht wirklich überraschen. War doch bereits die Geburt von COFE alles andere als einfach. Mit über einem Jahr Verspätung konnte die erste Sitzung der Zukunftskonferenz erst am 9. Mai vergangenen Jahres, dem Europatag, stattfinden. Auch pandemiebedingt, leider. Aber bei weitem nicht nur. Es war in erster Linie das Europäische Parlament, das über Fraktionsgrenzen hinweg auf den zivilgesellschaftlichen Ansatz, die Offenheit des Projekts und Transparenz hinsichtlich Dimension und Veränderungsnotwendigkeiten der Vertragsrealitäten von heute orientierte. Vielleicht war und ist gerade deshalb der Widerstand im Rat und auf anderen Regierungs-Ebenen in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten so groß, herrscht Zweifel gegenüber realer Bürger*innen-Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen – was COFE ganz gewiss mit sich bringen wird und muss. Die Furcht vieler Entscheidungsträger*innen ist ganz offensichtlich, dass am Ende der gesamte neoliberal ausgerichtete Lissabonner Vertrag zur Disposition stehen könnte. Wir als Linke sagen ganz deutlich: Viele der sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Aufgaben heute und in Zukunft – Stichworte sozial-ökologischer Umbau unserer Wirtschaft, Infrastruktur und Energieversorgung, Bildungs- und Wissenschaftsstrukturen im digitalen Zeitalter, leistungsfähiges Gesundheitssystem, und, und, und… – verlangen, wenn sie im Kern in Angriff genommen werden sollen, gemeinschaftliche europäische Lösungsansätze, verlangen deshalb die Überarbeitung existierender, und ja, neue vertragliche Grundlagen der EU. In den Mittelpunkt gehören die Interessen der Menschen und der Umwelt, nicht jene von Wirtschaft und Kapital.

Das ist auch der Tenor der Versammlungen von Bürger*innen im Rahmen der Zukunftskonferenz. Inzwischen haben zwei von insgesamt vier dieser jeweils mehrphasigen Foren ihre Berichte mit zahlreichen Empfehlungen zu Aufgaben und Reformen in der EU erarbeitet. Diese bilden neben den zahlreichen Wortmeldungen zu 10 Themenkreisen auf der Digitalen Plattform  https://futuereu.europa.eu den Grundstock für die Erarbeitung von Schlussfolgerungen durch die sogenannte Plenarversammlung, in der Abgeordnete, Politiker*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und der europäischen Institutionen zusammenkommen. Einige Beispiele für die doch sehr konkreten Vorschläge? Ein EU-Gesetz soll mit Subventionen die Einstellung von Arbeitnehmer*innen aus diskriminierungsanfälligen Gruppen unterstützen. Um eine tierfreundliche Landwirtschaft zu fördern, sollen Emissionen durch Langstreckentransporte von Tieren besteuert werden. Die Produktionsstandards der EU sollen nachhaltiger werden und auch für importierte Waren gelten. Schaffung eines EU-weiten Sanktions- und Anreizsystems, um die Verschmutzung von Wasser, Böden, Luft, zu stoppen und umzukehren. EU-weiter Mindestlohn, Veränderung der EU-Governance-Prinzipien, EU-Verfassung, solidarische Asyl-und Migrationspolitik, Mehrheitsentscheidungen zu vielen EU-Politiken …  Solche Empfehlungen der Bürger*innen, die übrigens per Los ausgewählt wurden, zeigen nicht nur großes Interesse an EU-Politik sondern auch den wachsenden Anspruch auf politische Mitgestaltung der Zukunft der EU. Und das ist gut so. Hier gilt es, die Chance der COFE ernsthaft zu nutzen für die Schaffung einer sozialen und demokratischen EU.

Zentral für alle Teilnehmer*innen der Zukunftskonferenz bleibt deshalb, dass sie präzise und konkrete Schlussfolgerungen und einen Fahrplan für deren Umsetzung in reale Politik vorlegt. Aber das bleibt – mit Blick auf europolitische Positionen vieler Akteure in den 27 Mitgliedstaaten und EU-Institutionen – harte politische und hoffentlich auch gesellschaftliche  Auseinandersetzung. Die Weichen sind in den kommenden Wochen zu stellen. Bereits am 9. Mai, dem Europatag, sollen die Schlussfolgerungen der Plenarkonferenz, in Paris – kurz nach den französischen Präsidentschaftswahlen – noch unter der französischer EU-Ratspräsidentschaft, vorgestellt werden. Das offene Geheimnis, dass Präsident Macron mit der Zukunftskonferenz zugleich auch seinen Wahlkampf unterstützen möchte, hat also durchaus Einfluss auf die nicht nur zeitlichen Abläufe. Unabhängig davon: Ein erfolgreicher Abschluss der EU-Zukunftskonferenz und die Weiterführung der geleisteten Arbeit in einem Konvent zu ihrer grundgesetzlichen, also EU-vertraglichen Fixierung bleibt eine sehr konkrete Verantwortung, der wir uns alle stellen müssen. Der eingeschlagene Weg direkter Bürger*innenbeteiligung – und das heißt aller Menschen in der EU der 27, auch der oft so nicht anerkannten marginalisierten – kann nicht mehr zurückgedreht werden. Denn nichts wäre für die Demokratie in Europa schädlicher, als die Bürger*innen zwar mitreden zu lassen, ihre Positionen und Forderungen jedoch nicht ernst zu nehmen und umzusetzen. Das muss Unterpfand für die Weiterentwicklung des mit dem Manifest von Ventotene eingeschlagenen Weges europäischer Integration sein.

Foto: Plenarsitzung der Zukunftskonferenz, 22.01.22© Europäisches Parlament

Ein Artikel von Helmut Scholz

Helmut Scholz

Helmut Scholz ist Europaabgeordneter und Handelspolitischer Sprecher der Delegation DIE LINKE. im Europäischen Parlament. Er ist unter anderem Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel (INTA), im Ausschuss für Konstitutionelle Fragen (AFCO) und in den Delegationen für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu China.

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