Die EU braucht ein neues handelspolitisches Koordinatensystem

Mit „Freihandelsabkommen“ sind die Herausforderungen in den internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen nicht zu bewältigen

Ein Interview mit Helmut Scholz — das Gespräch führte Uwe Sattler

Helmut Scholz

Helmut Scholz ist Europaabgeordneter und Handelspolitischer Sprecher der Delegation DIE LINKE. im Europäischen Parlament. Er ist unter anderem Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel (INTA), im Ausschuss für Konstitutionelle Fragen (AFCO) und in den Delegationen für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu China.

Donald Trump hat seine Ankündigungen aus dem Wahlkampf wahr gemacht. Statt auf gerechtere Welthandelsordnung zu dringen, setzt der US-Präsident seit seinem Amtsantritt im Januar 2017 in den internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen seine “America first”-Politik um. Mit der einseitigen Verhängung von „Strafzöllen“ auf Erzeugnisse aus China, NAFTA-Nachbarschaftsländern aber auch aus der Europäischen Union setzt Trump seit Frühjahr dieses Jahres auf Konfrontation, auf Wiedererlangung amerikanischer Dominanz in der Weltwirtschaft und wenn nötig auch unter Bruch geltender und von den USA unter anderen Bedingungen mit getroffenen Regeln. Wer nicht spurt, wird “bestraft”. Damit zettelt er einen globalen Handelskonflikt an, der offensichtlich sehr partei- und innenpolitisch motiviert, aber strategisch die Beanspruchung globaler Vorherrschaft der USA auch gegenüber bisherigen Verbündeten absichern soll. Eine Reaktion auf sich in den letzten 20 Jahren, insbesondere seit dem Beitritt Chinas und der Russischen Föderation zur WTO, sich vollziehende Verschiebungen des Kräfteverhältnisses in der Weltwirtschaft.

Ein solch drohender Handelskrieg kennt jedoch auf allen Seiten keine Gewinner. Deshalb: Es wäre falsch, auf die Provokation von Präsident Trump hereinzufallen und die gesamte EU in einen Handelskrieg zu schicken. Auch kann es nicht darum gehen, im Konflikt mit den USA Sonderregelungen nur für einige Staaten oder Staatengruppen auszuhandeln. Sondern darum, im multilateralen Rahmen nach Lösungen suchen für die große Zahl der Menschen, die tatsächlich Nachteile aus der Entwicklung des Welthandels erfahren. Es gibt Armut, es gibt sozialen Abstieg, es gibt Umweltzerstörung – auf allen Kontinenten. Dass Trump sich diese Missstände für seine Glorifizierung des Egoismus zunutze macht, sollte uns die Dringlichkeit vor Augen führen, die Probleme anzugehen und zu lösen – und zwar nicht nur für uns selbst, sondern gemeinsam für und mit unseren Partnern in der Welt. Das betrifft den Welthandel, das betrifft die internationalen Finanzbeziehungen, das betrifft generell die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung. Und es gilt dabei, endlich fairen Handel neu zu vereinbaren.

Die Aushandlung und der Abschluss sogenannter Freihandelsabkommen sind dazu der falsche Weg – auch, wenn es gerade angesichts des Protektionismus‘ der Trump-Administration seit einigen Monaten wieder lautere Rufe nach Weiterverhandlung und Abschluss des auf Eis liegenden TTIP-Abkommens (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen den USA und der EU gibt. Denn was ist das Besondere an TTIP, CETA (EU-Kanada) oder auch dem Dienstleistungsabkommen TiSA (Trade in Services Agreement), gegen die im vergangenen Jahr Hunderttausende auf die Straße gingen, gegen die es Proteste, Petitionen und (Europäische) Bürgerinitiativen gab?

Festzuhalten ist: Freihandelsabkommen in der heutigen Zeit sind Verträge, die weit über Substanz, Festlegungen und auch Regularien des »klassischen« Freihandels, wie er seit der Leitidee David Ricardos (1772-1823) – der Theorie der komparativen Kostenvorteile – etabliert ist, hinausgehen. Früher waren sie nahezu ausschließlich dafür gedacht, den gegenseitigen Marktzugang für Produkte durch die Senkung oder Abschaffung von Zöllen zu ermöglichen. Heute, spätestens seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, vollzieht sich ein Wandel im Prozess der handelspolitischen Normierungen, in dem es aus Sicht der Kapitalbesitzer, und dabei in erster Linie der großen transnationalen Unternehmen, v.a. um die Rücknahme staatlicherseits zu gewährleistenden Rahmenbedingungen für ihre Produktion und ihren Absatz an welchem Standort auch immer, die diese zunehmend über viele Ländergrenzen hinaus organisierte Produktion von Gütern erschweren, geht. Und dazu gehören längst nicht mehr nur die klassische Warenproduktion und folglich deren Absatz und gleichermaßen der ungehinderte, ständig verfügbare Erwerb von Rohstoffen und Ausgangsmaterialien, sondern zugleich der Austausch von Dienstleistungen, der Zugang zu Wissen und geistigen Eigentumsgütern, zu Technologien und Daten.

Das mit der Liberalisierung verbundene offensive und aggressive Niederreißen jeglicher Schranken und Hindernisse im Austausch mit anderen und die Orientierung auf bedingungslose gegenseitige Marktdurchdringung zielt auf die Bestimmung der Art und Weise, wie und welche Produkte mit welchen Kriterien und unter welchen Standards produziert und am Markt realisiert werden und damit zur eigenen Wirtschaftskraft und -macht bzw. zum maximalen Profit beitragen.

Die seit 2014 geltende „neue“ Handelsstrategie der EU-Kommission “Trade for All” setzt zwar auf eine veränderte Ansprache und Ausformung, greift aktuelle Debatten um die Notwendigkeit auf sich vollziehende Veränderungen in der Weltwirtschaft flexibler zu reagieren auf, unterscheidet sich jedoch in ihrer Ziellogik im Wesen nicht von den Strategien der letzten zehn, fünfzehn Jahre: Welche Schritte sind in einem veränderten geowirtschaftlichen und geopolitischen Koordinatensystem zu unternehmen, damit sich der europäische Binnenmarkt im Zeitalter der Globalisierung gegenüber anderen Wettbewerbern nicht nur behaupten, sondern zugleich die Bedingungen formulieren kann, wie künftig der Wettbewerb zugunsten der Dominanz europäischer, nationaler Unternehmen mit ihrem direktem Einschluss in globale Wertschöpfung erfolgen soll? Insofern dient eine neu konzipierte, an diese Entwicklungen angepasste duale Strategie mit Behauptung des bisher erreichten maßgeblichen Einflusses in den multilateralen Handelsstrukturen einerseits und der parallel immer stärker bevorzugten Abschlüsse von bilateralen Handels- und Investitionsabkommen andererseits der Verteidigung bzw. dem Ausbau der wirtschaftspolitischen Stärke eines Marktteilnehmers, eines Staates oder im Falle der Europäischen Union einer Staatengruppe in Konkurrenz zu anderen globalen Marktteilnehmen.

Natürlich ist es so, dass Abkommen zum Handel durch Beseitigung oder Reduzierung von Zöllen Produkte verbilligen und auch Arbeitserleichterungen mit sich bringen oder können. Die Frage stellt sich aber gerade angesichts der immer stärker internationalisierten Produktionsabläufe und der sich damit ergebenden wachsenden Abhängigkeit einzelner Standorte voneinander noch anders: Werden in den jeweiligen Verhandlungen die jeweiligen nationalen oder auch bereits international vereinbarten arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen, beschäftigungspolitischen oder umwelt- und verbraucherschutzpolitischen Interessen in den Vordergrund gerückt? Welche Kriterien und Maßstäbe sind für den EU-Rat bei der finalen Bestätigung eines Vertragsmandats, das auf Vorschlag der EU-Kommission ohne direkte Mitsprache des Europäischen Parlaments erteilt wird, entscheidende Richtgrößen? Oder werden nur die Interessen der jeweiligen produzierenden Unternehmen oder beispielsweise von Kapitalgruppen, die auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen miteinander in Verbindung treten, berücksichtigt? Wie transparent sind diese Mandate, damit sich jede Bürgerin und jeder Bürger ein Bild von künftigen Handelsverträgen machen kann? Letztlich geht es bei den heutigen, modernen oder auch umfassenden Freihandelsabkommen um die Frage, wie Handel in die generelle wirtschaftliche Entwicklung und Strategie der jeweiligen verhandlungsführenden Seiten eingebettet wird.

Die heutige EU-Handelspolitik nimmt so maßgeblich eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaftsgruppen, Kapital und Arbeit, von staatlichen, wirtschaftlichen und eben auch gerade gesellschaftlichen Akteuren vor. Sie alle sind gefragt zu bestimmen, wie der Rahmen für zeitgemäße Handelsverträge gestaltet werden muss. Wir müssen als Linke ebenfalls überzeugende Vorschläge unterbreiten, wie eine Welthandelsarchitektur aussehen muss, die die globalen Wertschöpfungsprozesse nicht dem freien Spiel von Markt und Unternehmensinteressen überlässt. Die zugleich Rahmenbedingungen ermöglicht, die strukturell und revolutionär die Interessenlagen der Beschäftigten im Globalen Süden, wie den Erhalt bzw. das Neuschaffen von Arbeitsplätzen im Norden, die heutigen realen Markterfordernisse für die Klein- und Mittelständischen Unternehmen, dazu den Klimawandel und technologische Entwicklungen und die zunehmende Digitalisierung in der Industriepolitik (Industrie 4.0), eine fortschreitende Industrialisierung der Agrarproduktion, die gravierende Auswirkungen auf den Welthandel haben, aufgreifen. Wir brauchen ein neues Koordinatensystem, das das Bestehende einer kritischen Analyse unterzieht, es weiterentwickelt und neue Inhalte hinzufügt. Es wird nicht per se gegen oder für Freihandelsabkommen, gegen oder für Protektionismus gehen. Sondern darum, wie wir mit handelspolitischen Instrumenten und der Organisation des internationalen Austausches von Produkten und Dienstleistungen in einer global existierenden Weltwirtschaft so eingreifen, dass nachhaltiges Wirtschaften möglich ist. Und somit “freien” Handel konsequent und entschieden zum “fairen” Handel machen. Fair im Sinne, dass er eigenständige wirtschaftliche und sozialen Entwicklungen der am internationalen Austausch beteiligten Staaten, Regionen und Volkswirtschaften ermöglicht.

Das betrifft auch die WTO: Diese wird heute von vielen Verfechtern des neoliberalen Freihandels – und die sitzen nicht nur in Konzernzentralen, sondern gerade auch in den Regierungen, damit auch im EU-Rat und in der EU-Kommission –, aufgrund der machtpolitischen Veränderungen und trotz des Schwurs, für eine multilaterale Welthandelsordnung einzutreten, nicht mehr so sehr als die entscheidende Struktur angesehen, in der sich die Mitgliedsländer (nach dem Prinzip ein Land, eine Stimme) gemeinsam um die anstehenden Aufgaben und Mechanismen auf Augenhöhe bemühen. Vielmehr wollen sie zunehmend über bilaterale und »plurilaterale« Abkommen eigene Interessen und Möglichkeiten durchsetzen.

Die Linke hat die Welthandelsorganisation als Instrument zur Durchsetzung des neoliberal definierten Freihandels immer abgelehnt und kritisiert. Zu Recht. Ich meine jedoch auch, dass wir diese prinzipielle Kritik im Unterschied zur Gründungsphase der WTO heute viel stärker mit Analysen veränderter wirtschaftlicher Gegebenheiten in den gegenwärtig 164 WTO-Mitgliedsländern selbst als auch mit den sich daraus ableitenden Notwendigkeiten für dasFunktionieren und das Aussehen von Welthandel auseinandersetzen müssen. Umso mehr, als mit der vierten WTO-Ministerkonferenz von Doha (2001) die EU und die USA sich mit ihrem Kurs einer Forcierung der Liberalisierung – erpresserisch, weil wirtschaftlich dominant – zulasten einer immer wieder betonten und geforderten »Gestaltung der Globalisierung« durchsetzen konnten. Und schon 1998 konnte die EU ihr Konzept einer »umfassenden Verhandlungsrunde« etablieren. Mit dem Aufkommen vieler neuer »Teilnehmer« am globalen Markt als eigenständige Akteure mit dem Anspruch, sich selbstbewusst in die Organisation des Welthandels einzubringen und Regeln mitzubestimmen, haben sich Charakter und wohl auch Wirkungsweise des WTO-Mechanismus aber verändert. Insbesondere aber die Mitgliedschaft vieler neuer Entwicklungsländer, auch der Russischen Föderation, Kasachstans oder auch Afghanistans, dazu v.a. Chinas und der sogenannten Schwellenländer, haben einschneidende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und den Welthandel. Die globale Vernetzung schreitet voran: Beispielsweise liegen gegenwärtig noch über 20 Mitgliedsanträge auf dem WTO-Verhandlungstisch, die laut Regelmechanismus alle innerhalb von fünf Jahren nach Antrittsgesuch verhandelt sein sollten. Die WTO ist somit jene universelle Struktur, die das internationale handelspolitische Gefüge widerspiegelt. Zugleich ist die WTO mit ihrem statutarischen Konsensprinzip eine internationale Organisation, in der Verhandlungsmechanismen und lösungsorientierte Ansätze entscheidend für die Umsetzung der Agenda sind. Alles Nachdenken über Alternativen zum neoliberalen Freihandel, zur Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für internationale Wertschöpfung – von der Rohstoffgewinnung bis hin zum Absatz fertiger Produkte – unter Berücksichtigung der von der internationalen Staatengemeinschaft vereinbarten UN-Nachhaltigkeitszielen (SDG) der Agenda 2030 wird an der WTO und ihrer Verfasstheit nicht vorbei können. Da in der WTO ein Konsens zur Annahme eines Beschlusses nötig ist, fällt es den traditionell die Vormacht beanspruchenden Industrienationen – wie den USA, den EU-Staaten, Kanada, Australien oder Japan – immer schwerer, ihre Interessen auf Kosten der anderen durchzusetzen. Da sind wir wieder auch bei Donald Trump und seiner Agenda, Vormacht nicht Partnerschaft durchsetzen zu wollen. Als Linke sind wir deshalb gerade in der heutigen Zeit aufgerufen, existierende internationale Strukturen nicht einfach abzulehnen, sondern unsere Kritik mit glaubhaften und realisierbaren Vorschlägen zu verbinden und in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, wie denn fairer Handel gehen sollte, einzubringen. Die Veränderung der Mechanismen und auch der Prinzipien der WTO sind sicherlich ein Hebel, die globale Handelsarchitektur weiterzuentwickeln und ihre Demokratisierung kann und muss eine unverzichtbare Voraussetzung dafür sein. Und viel stärker als bisher ist eine solche Reform oder auch Rekonstruktion der WTO mit den Aufgabenstellungen der ILO, der UNCTAD sowie den internationalen Verpflichtungen aus den Klimaschutz-Abkommen, wie dem Pariser Klimaabkommen, zu verbinden. Auch die gegenwärtigen in Genf laufenden Verhandlungen über ein verbindliches UN-Abkommen zur Verantwortung von transnationalen Unternehmen für Menschenrechte und Wirtschaftsentwicklung sind ein Beispiel für die anstehenden neuen Entwicklungen und vertraglich verbindlich zu fixierenden Eckpunkte einer verantwortungsvollen EU und internationalen Handelspolitik.

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Nach zwölf Jahren in der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" ist der Journalist Mitglied des Vorstands der nd.Genossenschaft eG.

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