„Die Diskrepanz zwischen Zielen und Maßnahmen ist charakteristisch“

Alina Brad/Etienne Schneider: Der „European Green Deal“ ist de facto eine Wachstumsstrategie, die die Wettbewerbsfähigkeit der EU durch grüne Technologien und Dekarbonisierung der Wirtschaft sichern soll

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Ein Interview mit Alina Brad und Etienne Schneider — das Gespräch führte Johannes Greß

Alina Brad

Alina Brad ist Senior Scientist am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und forscht zu internationaler Klimapolitik.

Etienne Schneider

Etienne Schneider ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und forscht zu europäischer Wirtschaftsintegration und EU-Klimapolitik.

Mitte Dezember einigten sich die EU-Staaten darauf, bis 2030 insgesamt 55 Prozent weniger CO2 emittieren zu wollen. Kam diese Nachbesserung überraschend?

Alina Brad: Eigentlich kaum. Nach der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens haben Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler berechnet, dass es zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels eine Reduktion von 65 Prozent braucht. Es war innerhalb der EU bis zuletzt ein zähes Ringen, wie hoch das Emissionsziel sein soll. Noch im Oktober hatte sich das EU-Parlament für 60 Prozent ausgesprochen. Es war dann Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in ihrer Rede zur Lage der Union das 55 Prozent-Ziel ins Spiel brachte.

Ich bin der Meinung, 55 Prozent sind besser als 40 Prozent, aber auch 55 Prozent sind eben nicht ausreichend. Was wir stark kritisieren, ist der Berechnungstrick, den die EU-Kommission darin versteckt. Erstmals werden Kohlenstoffsenken aus Land- und Forstwirtschaft, also Wälder und Böden, miteinberechnet. Das heißt, eigentlich geht es nur um eine Reduktion von rund 52 Prozent. Das mag insgesamt ein „diplomatischer Erfolg“ sein, aber das Klima interessiert sich nicht für Diplomatie – und das macht es noch schwieriger, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, wenn die Maßnahmen derart verwässert werden.

Was bedeutet das konkret, wie wird sich die Klimapolitik der EU künftig verändern?

Etienne Schneider: Das ist noch nicht im Detail klar. Es wird in den kommenden Monaten darum gehen, wie diese Emissionsziele auf die einzelnen Mitgliedsstaaten und Sektoren verteilt werden. Es handelt sich um ein Ziel für die EU als Ganzes. Dadurch werden manche Länder, zum Beispiel Polen, bis 2030 weniger stark reduzieren müssen, andere Länder dafür umso mehr. Das sind Konflikte und Verteilungsfragen, die 2021 noch verhandelt werden müssen.

Zum 1. Januar 2021 übernahm Portugal die EU-Ratspräsidentschaft. Was erwarten Sie sich aus klimapolitischer Sicht?

Schneider: Portugal hat eine sozialistische bzw. sozialdemokratische Regierung, die von einem Wahlbündnis aus Kommunistischer Partei und Grünen toleriert wird. Sie haben insgesamt also eine progressive klimapolitische Agenda. Ich könnte mir vorstellen, dass Portugal da einiges versucht, zum Beispiel, die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds mit den Klimazielen und dem European Green Deal zu verzahnen. Aber natürlich ist Portugal wirtschaftlich und politisch innerhalb der EU nicht so einflussreich wie beispielsweise Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft. Daher bin ich mir nicht sicher, inwieweit es gelingen wird, ihre progressiven Positionen tatsächlich durchzusetzen.

Brad: Spannend wird zudem, was im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik, der GAP, passieren wird. Auch die soll 2021 neuverhandelt werden und die GAP ist ein wesentlicher Bereich, der in der gesamten Klimapolitik eine große Rolle spielt. Was in der GAP beschlossen wird, wird große Auswirkungen auf von der Leyens „European Green Deal“ haben. Der landwirtschaftliche Bereich produziert große Mengen Emissionen, da wird sich im Zuge der portugiesischen Ratspräsidentschaft zeigen müssen, welche Akzente hier gesetzt werden können. Hier geht es um Verteilungskonflikte und die Frage, wessen Interessen sich durchsetzen werden, etwa dabei, wie stark Subventionen an Umweltauflagen geknüpft werden. Aber weil die Landwirtschaft für einen so großen Teil an Emissionen verantwortlich ist, ist hier das Potential für eine progressive Klimapolitik auch besonders groß.

Überrascht es Sie, dass Ursula von der Leyen, immerhin eine deutsche Politikerin, mit ihren „European Green Deal“ plötzlich den Klimaschutz für sich entdeckt hat?

Brad: Mit dem Pariser Klimaabkommens wurde vereinbart, dass alle unterzeichnenden Staaten und Akteure – also auch die EU – ihre konkreten Ziele und Maßnahmen vorlegen müssen. Dass Ursula von der Leyen diesen „European Green Deal“ nun als die große Wachstumsstrategie vorstellt, das ist nicht unbedingt überraschend. Vor allem, wenn man sich ansieht, was dort im Detail drinsteht: Es ist de facto eine Wachstumsstrategie, die die Wettbewerbsfähigkeit der EU durch grüne Technologien und die Dekarbonisierung der Wirtschaft sichern soll.

Schneider: Hinzu kommt, dass der öffentliche Druck 2019 massiver wurde, gerade durch Fridays For Future oder Extinction Rebellion. Dadurch ist die öffentliche Meinung innerhalb der EU ein Stück weit Richtung Klimapolitik gekippt. Den „Green Deal“ verstehe ich daher eher als Versuch, diese Mobilisierung von unten aufzugreifen und gleichzeitig eine Politik zu machen, die die Interessen großer Konzerne berücksichtigt. Das ist eine politische Kommunikationsstrategie, die sagt, wir nehmen Klimawandel ernst, wir einigen uns auf ehrgeizigere Ziele – aber gleichzeitig forciert man mit dem Deal eine grüne Wachstumsstrategie, die darauf abzielt, die europäische – und deutsche – Exportwirtschaft zu fördern. Es wird inmitten einer geopolitischen Situation, in der die europäische Industrie sukzessive hinter die USA und China zurückfällt, versucht, neue Exportfelder zu erschließen.

Es geht also darum, diese Mobilisierung von unten aufzufangen und in weniger radikale klimapolitische Bahnen zu lenken, um sich nicht mit grundlegenderen Problemen auseinanderzusetzen. Wie zum Beispiel, dass sich Wirtschaftswachstum und Ressourcenbedarf nicht gänzlich entkoppeln lassen. Die Kommission hat es diskursiv geschafft, sich als klimapolitische Kommission zu inszenieren.

Brad: Wenn man im Detail auf diesen „European Green Deal“ schaut, dann erkennt man, dass die Interessen der fossilen Industrie durchaus berücksichtigt werden. Als Übergangslösung wird beispielsweise die Förderung von Erdgas vorgeschlagen. Derzeit fließen große Summen in den Ausbau der dazugehörigen Infrastruktur. Damit schreibt die EU die Abhängigkeit von dieser Infrastruktur fort, wahrscheinlich für die kommenden 30 Jahre. Hier sieht man ganz klar: Ja, einerseits findet ein Greening statt, aber man ist nicht bereit, ganz von fossilen Energieträgern abzurücken. Diese Diskrepanz zwischen Zielsetzung und dafür aufgewandten Maßnahmen ist seit jeher charakteristisch für die Klimapolitik der EU.

Ein Artikel von Johannes Greß

Johannes Greß

Johannes Greß lebt und schreibt in Wien. Derzeit studiert er Politikwissenschaft im Master, arbeitet als Freier Journalist und ist Mitglied der Jungen Linken Wien.
(Foto: Andreas Edler)

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