Der traurige Ritter

Mit großen Plänen war Jean-Claude Juncker als Präsident der EU-Kommission angetreten. Geblieben ist davon nach fünf Jahren nichts.

Zeichnung: Miriam Wurster

In seinem Europa-Roman »Die Hauptstadt« hat Robert Menasse dem EU-Kommissionspräsidenten ein Denkmal gesetzt. Nicht allein dem offiziell noch bis Ende Oktober amtierenden Jean-Claude Juncker. Auch all seinen Amtsvorgängern – eine Frau wird erstmals mit Ursula von der Leyen voraussichtlich Anfang Dezember auf den höchsten Posten der EU rücken. Das Bild, das der Schriftsteller nach jahrelanger Recherche in Brüssel von dem Topjob zeichnet, ist jedoch wenig schmeichelhaft: »Jedes Wort, das der Präsident sagt, sagen seine Bauchredner«, lässt Menasse seinen Protagonisten erzählen. »Alles, was er entscheidet, ist längst entschieden, und wenn er etwas unterschreibt, wird seine Hand geführt.« Und dann, doch noch ganz auf Juncker gemünzt: Das einzig Unvorbereitete und Eigenständige sei, wenn der Präsident bei einem Gipfeltreffen den einen oder anderen Staatschef an der Krawatte ziehe oder ihm einen Schubs verpasse.

Dass er an der Spitze der EU-Kommission nur eine Marionette sein würde, hatte sich der inzwischen 64 Jahre alte Luxemburger bei seinem Einzug ins Brüsseler Berlaymont im November 2014 sicher nicht vorstellen können. Oder vorstellen wollen. Dazu waren die Ideen und Pläne des früheren Regierungschefs des Herzogtums eine paar Nummern zu groß. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, der Europäischen Kommission, seit Jahrzehnten nach gleichem Muster gestrickt, einen neuen Zuschnitt zu verpassen, die strikte Trennung der Bereiche aufzuheben und »Arbeitsgruppen« zu zentralen Themen wie Energieunion oder digitaler Binnenmarkt einzurichten. Und: Die starken EU-Länder erhielten nicht mehr automatisch die attraktivsten Ressorts. Juncker sprach seinerzeit angesichts der fortschreitenden Eurosklerose von einer »Kommission der letzten Chance«, mit der die europäische Idee wieder zum Leben erweckt werden sollte. Schon damals allerdings hatte der britische Premier David Cameron, der, politisch in die Enge getrieben, seinen Landsleuten später die Abstimmung über einen EU-Austritt bescherte, gewettert: Der Mann aus dem kleinen Land in der Mitte Europas wolle die Kompetenzen der Nationalstaaten weiter beschneiden und die Kommission gar zu einer Art Zentralregierung für die EU machen.

Ein starker Präsident passte nicht ins Bild der Staatsspitzen, nicht nur im Vereinigten Königreich. Das wusste auch Juncker. Widerstand aus den europäischen Hauptstädten hatte er erwartet – allerdings nicht in dieser Massivität, die seine Initiativen mitunter als Kampf gegen Windmühlenflügel erscheinen ließen. Das gilt gerade für die sogenannte Flüchtlingspolitik der EU. Man nimmt Juncker durchaus seine Betroffenheit über das Sterben auf dem Mittelmeer ab. Seine Vorschläge zu einer gerechten Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU ließen die Mitgliedstaaten jedoch regelmäßig ins Leere laufen. »Es reicht nicht, abends vor den Fernsehschirmen zu weinen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, und am nächsten Morgen im EU-Rat eine Gedenkminute abzuhalten«, sagte Juncker einmal frustriert zur fehlenden Solidarität in der EU.

Andere Vorstöße des Kommissionspräsidenten erlitten das selbe Schicksal. Von den in seiner fünfjährigen Amtszeit immer wieder einmal angekündigten gigantischen Investitionsoffensiven, mit denen die EU »zukunftsfähig« gemacht werde sollte, blieb faktisch nichts. Das Geld dafür war schlicht nicht vorhanden oder musste für andere Zwecke eingesetzt werden.

Einiges hat Juncker mit seiner Kommission selbst bewusst oder unbewusst in den Sand gesetzt – wie die unter dem Druck des Briten-Referendums eingeführte »Europäische Säule sozialer Rechte« (ESSR), die europaweit u.a. Chancengleichheit und faire Löhne sichern sowie »angemessene Lebensstandards« ermöglichen sollte. Dumm nur, dass die ESSR keinerlei Rechtsverbindlichkeit erhielt. Daher sei das Papier nicht mehr als ein »Knigge« für die Sozialpolitik, hieß es von Kritikern. Schlimmer noch: Dass sich in dem Dokument gerade die von Arbeitgeberseite immer wieder vorgebrachten Forderungen nach »flexiblen Beschäftigungsbedingungen« und einer Entlohnung auf der Basis der Produktivitätsentwicklung finden, zeigt die eigentliche Stoßrichtung. Dass Juncker im Frühjahr in einer vorgezogenen Bilanzrede monierte, über seine Erfolge wie zwölf Millionen neue Jobs in der EU werde nicht geredet, bestätigt diese Linie allerdings nur – die meisten davon sind prekär oder im Niedriglohnbereich entstanden.

Mitleid mit dem baldigen Ex-Präsidenten braucht niemand zu haben. Schließlich gehörte er selbst zu den Architekten des heutigen »Systems EU«. Als Minister in der Regierung des Großherzogtums und als Premierminister prägte er die Innen- und Außenpolitik Luxemburgs seit Anfang der 1980er Jahre maßgeblich. Und in den zehn Jahren vor seiner Zeit in Brüssel stand er der Euro-Gruppe vor, die in der Finanzkrise immer mehr Kompetenzen an sich riss, nationale Parlamente und auch das europäische bei der Mitwirkung in der Finanzpolitik beschnitt und den Erpressungskurs gegen südeuropäische »Schuldnerstaaten«, insbesondere Griechenland, austüftelte und exekutierte – auch wenn er mit dem damaligen deutschen Finanzminister und Hardliner Wolfgang Schäuble mitunter über Kreuz lag. Wenn Juncker heute Politiker schilt, die mehr das nationale als das europäische Interesse im Blick haben, müsste er sich die Jacke selbst anziehen: Die »Steuervermeidungsstrategien«, mit denen Luxemburg jahrzehntelang Unternehmen anlockte, waren nicht weniger nationalegoistisch determiniert als Londons I-want-my-money-back-Politik.

Eines allerdings hat Juncker erreicht: Über die Zukunft »Europas« wird wieder geredet. Die Diskussionen, die er angeschoben hat, will von der Leyen fortsetzen. In seiner Straßburger Abschiedsrede erinnerte Juncker am Dienstag daran, dass es sich bei der EU vor allem um ein Friedensprojekt handele, und mahnte: »Bekämpft mit aller Kraft diesen dummen Nationalismus.«

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

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