Demokratie durch Beteiligung und Vollbeschäftigung
Die Frage der Beteiligung von Bürger*innen stand im Zentrum des fünften Events der Online-Reihe Zukunft Europa
Kernthesen und Forderungen im Überblick:
Daniela Vancic:
- Die EU verpasst zur Zeit die Chance auf öffentliche Konsultation zur Zukunftskonferenz.
- Eine Konferenz als einmaliges Ereignis reicht nicht, wichtig ist der follow-up Prozess.
- Es müssen möglichst viele Bürger*innen an dieser Konferenz beteiligt werden.
- Mit einer schlecht strukturierten EU-Zukunftskonferenz riskieren wir, die Bürger*innen zu verlieren.
- Demokratie ist kein Prozess, den man überstürzt angehen sollte.
Jeremy Smith:
- Die derzeitigen EU-Verträge lassen keine alternativen ökonomischen Konzepte zu.
- Wir brauchen hingegen eine Demokratisierung der EU-Wirtschaftspolitik.
- Die – neoliberale – Wirtschaftstheorie der 1990er Jahre, die derzeit in den Verträgen verankert ist, ist nicht mehr zeitgemäß.
- Die EU-Verträge sollten ideologiefrei gestaltet sein und Raum für die Umsetzung fortschrittlicher Politiken bieten.
- Die Fokussierung der Verträge auf die Staatsverschuldung und Defizitregeln bei gleichzeitiger Vernachlässigung privater Ungleichgewichte war ökonomisch falsch und muss geändert werden.
- Das Mandat der EZB sollte sich nicht nur auf „Preisstabilität“ beziehen, sondern auch Vollbeschäftigung beinhalten.
- Europa muss für Vollbeschäftigung, eine Wirtschafts- und Handelspolitik, die allen zugutekommt, und eine grüne Industriepolitik stehen.
Diskussion:
- Künftige EU-Beteiligungsprozesse müssen auch jene einschließen, die sonst keine Stimme haben.
- Alle vier Jahre zu wählen, reicht nicht.
- Direkte Demokratie und Volksabstimmungen/Referenden sind mögliche Mittel – müssen aber gut vorbereitet und eingeübt sein.
Mehr Beteilung und Mitwirkung der Menschen sind Hauptziele der Konferenz über die Zukunft Europas, die – wenn auch bislang zeitlich noch nicht festgelegt – weiterhin im Raum steht. Doch wie kann und muss eine solche verstärkte Bürgerbeteiligung gestaltet werden, sowohl für die Konferenz selbst, als auch mit Blick auf die künftigen politischen Prozesse der EU? Und was genau fordert die Linke dazu? Darum ging es bei der vorläufig letzten Diskussionsrunde der Reihe „Zukunft Europa“ mit Daniela Vancic, Europa Programm-Managerin bei der Nichtregierungsorganisation Democracy International, und Jeremy Smith, Anwalt und Ko-Direktor bei Policy Research in Macroeconomics (PRIME).
„Warum ist es eigentlich bislang noch nicht zu der EU-Zukunftskonferenz gekommen?“ Diese Frage stellte zunächst Europa-Abgeordneter Helmut Scholz in den Raum. Denn es sei unklar, ob die Verzögerung an der Covid-19-Krise und den damit einhergehenden Beschränkungen liege, „oder vielmehr an der mangelnden Verständigung zwischen den beteiligten EU-Institutionen“. Für letzteres spreche das Verhalten mancher Mitgliedsstaaten, wie etwa Ungarn und Polen, die sich gegen die Einführung des Rechtsstaatsprinzips wenden, weil sie sich nach eigenen Worten „Brüssel nicht unterwerfen“ wollten. Scholz: „Doch wie wollen wir das demokratische Funktionieren der EU garantieren, wenn wir in dieser nationalen Perspektive bleiben?“ Auch die Linke müsse hier eigene Positionierungen finden und vor allem dafür sorgen, dass die EU-Zukunftskonferenz „nicht weiter verschleppt“ wird.
Daniela Vancic von Democracy International bestätigte in ihrem Input, dass die Zukunftskonferenz dringend nötig sei und die Gelegenheit zu einem grundlegenden Kurswechsel der EU in Richtung mehr Demokratie biete, „aber nur, wenn sie so umgesetzt wird, wie es versprochen wurde“. Doch noch seien bezüglich der Struktur der Konferenz sehr viele Fragen offen. Überdies habe die EU-Kommission die Gelegenheit verpasst, „gerade jetzt, wo wir doch alle zuhause vor den Bildschirmen sitzen“, eine öffentliche, virtuelle Konsultation zu dieser Konferenz zu starten. Vancic: “So könnte man tatsächlich Ownership durch die Bürger*innen sicherstellen“. Und: „Es gibt doch so viele öffentliche Konsultationen, die sich in der Regel über 12 Wochen erstrecken. Wieso kommt dazu jetzt nichts?“ Eine weitere Frage sei, welche Bürger wie für die Beteiligung an der künftigen Konferenz ausgewählt werden. Nach ihrer Ansicht müssten alle mitmachen können – also auch Menschen, die nicht an den so genannten AGORA Themengruppen beteiligt sind.
Ein Vorbild für das Auswahlverfahren zu den „EU-Agoras“ wären nach Vancics Ansicht die deutschen Bürgerräte. Dort können alle Bürger deutscher Staatsangehörigkeit ab 16 Jahren teilnehmen. Sie werden per Los mittels einer „gestaffelten Zufallsauswahl“ ermittelt. Basis sind die kommunalen Einwohner*innenmelderegister – und nicht etwa örtliche Telefonbücher. Damit soll gewährleistet werden, dass das Los auch auf Menschen ohne Festnetz-Anschluss fallen kann. Zudem soll das gesamte Verfahren eine möglichst große Vielfalt sichern.
Nach Auswahl der Teilnehmenden und Durchführung der Konferenz sei schließlich sehr wichtig, wie es nach der Konferenz weitergeht – und ob es dann wirklich zu einem bottom-up Prozess komme. Vancic: „Wenn das nicht richtig gelingt, riskieren wir, die Bürger*innen wieder zu verlieren.“
Eine Wirtschaft, von der alle profitieren
Der zweite Redner des Abends, Jeremy Smith, Ko-Direktor bei Policy Research in Macroeconomics (PRIME), verwies zunächst auf den derzeit diskutierten European Democracy Action Plan, der sichere und freie Wahlen, Medienfreiheit und Schutz gegen – vor allem digitale – Fehlinformation bieten soll. Darin, so Smith, heißt es eindeutig: „In einer gesunden und lebendigen Demokratie können Bürger*innen ihre Ansichten frei äußern, ihre politischen Repräsentant*innen wählen und über ihre Zukunft entscheiden.“ Um das sicherzustellen, so Smith weiter, müsse das Augenmerk vor allem auf die wirtschaftliche Ausgestaltung der EU gerichtet werden. Dazu verwies er auf die Vorschläge zur Vertragsänderung, die er gemeinsam mit seinem – leider kürzlich verstorbenen – Ko-Autor und Ökonom John Weeks in der Studie „Bringing democratic choice to Europe’s economic governance“ aufgestellt hatte. Sie wurde zusammen von PRIME und dem Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht.
Darin machen die Autoren vor allem darauf aufmerksam, dass die gegenwärtigen europäischen Verträge die Wirtschaftspolitik der EU zu sehr beengen. Smith: „Sie erlauben es den Bürger*innen nicht, einen alternativen ökonomischen Weg einzuschlagen.“ Stattdessen beruhe das ökonomische Konzept der EU zu sehr auf einem Mix aus ordo- und neoliberalen Konzepten. Doch diese Ideologie der 90er, so Smith, sei nicht mehr „fit for purpose“.
Gemeinsam mit Weeks forderte er daher ein neutraleres vertragliches Regelwerk für die Wirtschaft, um einer progressiveren Wirtschaftspolitik und Demokratisierung der EU-Ökonomie Raum zu bieten. Der derzeitige Fokus auf staatliche Defizite und Schulden bei gleichzeitiger Vernachlässigung privater Schulden und Ungleichgewichte sei falsch. Weitere notwendige Änderungen beinhalten die bisherige Favorisierung der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen „neu zu balancieren“ und den öffentlichen Sektor zu stärken. Auch der Europäischen Zentralbank müsse eine neue Rolle zukommen – mit einem ausgeweiteten Mandat. Smith erinnerte daran, dass die EZB unter ihrem aktuellen Mandat in erster Linie für Preisstabilität und Eindämmung der Inflation zuständig ist. Doch das reiche nicht aus. „Die Sicherung von Vollbeschäftigung muss ein vorrangiges Prinzip der EU und EZB sein.“ Außerdem sollten Vertragsänderungen vorangebracht werden, die faire Handelsstrukturen schaffen, die eine bessere Balance zwischen EU und nationalen Wirtschaftspolitiken (zum Beispiel bei Staatshilfen) ermöglichen und die Steuerharmonisierung und den Kampf gegen Steueroasen sowie klimafreundliche Investitions- und Industriepolitik voranbringen. Smith: „Die EU-Verträge sollten unideologisch sein, volle und hochwertige Beschäftigung sowie grüne Industrie fördern – eine Politik, die den Menschen ein besseres Leben ermöglicht. Dafür sollten wir uns in der Debatte um die Zukunft Europas stark machen.“
Vertrauen wiederherstellen
In der anschließenden Diskussionsrunde ging es vor allem noch einmal um die Frage, wie eine möglichst breite und paritätische Bürger*innenbeteiligung rund um die Zukunftsfragen Europas gewährleistet werden kann. Plädiert wurde dafür, dass auch jene in solchen Beteiligungsprozessen präsent sind, die sonst keine Stimme haben. Oder, wie Helmut Scholz es formulierte: „Wie kriegen wir die Straße in die Zukunftskonferenz hinein?“ Einig waren sich die Redner*innen überdies darin, dass eine Wahl alle vier Jahre nicht ausreicht. Direkt-Demokratie und Volksabstimmungen seien eine zusätzliche Möglichkeit, allerdings auch nur, wenn die Bürger*innen sich damit auskennen. Als Negativ-Beispiel wurde der Brexit genannt – im Gegensatz zur Schweiz, wo diese Abstimmungen eine lange, eingeübte Tradition haben.
Wichtig jedenfalls, so befand Moderatorin Gabi Zimmer, ehemalige Fraktionsvorsitzende der GUE/NGL, sei es das „erschütterte Grundvertrauen“ der Bürger*innen in die EU wiederaufzubauen. Und deshalb dürfe die geplante Zukunftskonferenz auch nicht zur Werbekampagne verkommen. „Das sollten wir dem Rat nicht gestatten.“ Andererseits sollte sich die Linke aber auch nicht immer darauf beschränken, die EU als neoliberal zu brandmarken. Zimmer: „Das bleibt dann wieder an uns hängen, denn wir verbreiten den Eindruck, man könne nichts machen. Stattdessen müssen wir zeigen, was machbar ist und verändert werden kann, um zu motivieren.“ Doch bei allem Vertrauen in Veränderungsmöglichkeiten sprach Referentin Vancic ganz zum Schluss auch eine Warnung aus: „Demokratie ist kein Prozess, den man überstürzen kann.“ Es gehe immer um langfristige Veränderungen – um die EU verstärkt auf demokratischen Kurs zu bringen, sei es daher mit einer Zukunftskonferenz allein nicht getan.
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