„Das Schlimmste ist der Mangel an Verantwortung und sozialem Schutz“

Rumänische Forstarbeiter genießen in anderen EU-Staaten kaum Schutz, immer wieder sind sie von Unfällen betroffen. Der EU-Abgeordnete Dragoș Pîslaru (Renew Europe) will das ändern. Ein Interview

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Ein Interview mit Dragoș Pîslaru — das Gespräch führte Johannes Greß

Dragoș Pîslaru

Dragoș Pîslaru, geb. 1976, war bis 2017 Minister für Arbeit und Soziales in Rumänien. Seit 2019 ist er Mitglied des EU-Parlaments (Renew Europe Group) und fungiert seit Anfang des Jahres als Vorsitzender des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheite.

In Deutschland und Österreich kam es in den letzten Jahren zu Hunderten von Unfällen und mehreren Todesfällen von rumänischen Forstarbeitern …

Dragoș Pîslaru: Es ist erstaunlich, wie wenig darüber gesprochen wird. Lokale Medien in Österreich und Deutschland berichten kaum darüber, in rumänischen Medien gibt es ein oder zwei Berichte. Ich persönlich bin 2020 im Zusammenhang mit der Pandemie auf das Thema aufmerksam geworden. In Deutschland und Österreich, aber auch in einer Reihe anderer Länder, gab es eine Reihe von Fällen von migrantischen Arbeiter:innen, die Probleme hatten, als die Grenzen geschlossen wurden. Sie wurden von verschiedenen Flughäfen in Rumänien zur Arbeit in der deutschen Fleischindustrie verfrachtet, oder zur Feldarbeit in die Niederlande und nach Spanien.

Wie kann eine solche Situation unsichtbar bleiben?

Wenn Sie einen tödlichen Unfall haben, ist das normalerweise nur die Spitze des Eisbergs, von Hunderten von Beinaheunfällen oder kleineren Verletzungen. Für mich ist es völlig inakzeptabel, keine Reaktion der zuständigen Institution in den Mitgliedstaaten zu sehen. Aufgrund der Fälle in Deutschland habe ich Briefe an das Arbeitsministerium geschrieben, später schrieb ich einen Brief das österreichische Arbeitsministerium. Die Antworten waren verblüffend, in dem Sinne, dass sie – bis zu einem gewissen Grad – ihre Zuständigkeit negierten.

Meiner Meinung nach sind die Verträge in der Forstbranche das Problem. Die Arbeiter bekommen vertragliche Vereinbarungen vorgelegt, die nicht in ihrer Sprache geschrieben sind, sodass sie von ihnen nicht verstanden werden. In den meisten Fällen werden Arbeitsschutzgesetze nicht eingehalten oder verpflichtende Einschulungen nur als formale Sache behandelt. Das Schlimmste ist aus meiner Sicht der Mangel an Verantwortung und sozialem Schutz, dem die Arbeiter ausgesetzt sind. Verträge haben kurze Laufzeiten und kommen oft über Vermittler zustande, sodass am Ende unklar ist, wer die Verantwortung trägt. Es ist eine asymmetrische Machtbeziehung zwischen dem Auftraggeber und dem Arbeiter. Und ich würde sagen, dass die Vertretung der ausländischen Arbeiter – sei es ein Rumäne oder jemand anderes – sehr, sehr schwach ist. In Deutschland zum Beispiel war ich mit der Organisation „Faire Mobilität“ in Kontakt. Sie agieren de facto wie eine Art Gewerkschaft, da rumänische Arbeiter niemanden sonst haben, der sie vertritt.

Welche Art von Verbindung besteht zwischen Rumänien und den Ländern, in die die Arbeiter entsandt werden?

Das ist eine komplexe Sache, es gibt nicht das eine Modell. Oft ist es eine Art Netzwerkeffekt: Wenn Sie eine Familie in einem bestimmten Dorf haben und einer von ihnen ins Ausland geht und erfolgreich zurückkehrt, dann ist es wahrscheinlich, dass seine Verwandten, seine Nachbarn und dann sogar die Hälfte des Dorfes den gleichen Weg gehen werden. Es gibt ganze Dörfer in Rumänien, deren Bewohner:innen nicht nur Saisonarbeit verrichten, sondern gleich ganz in andere Mitgliedstaaten umsiedeln, um dort zu arbeiten. Aus diesem Grund gibt es in einigen Teilen Osteuropas viele verlassene Dörfer.

Abgesehen von diesen Netzwerken gibt es spezielle Vermittler, und es gibt viele Agenturen wie Briefkastenfirmen, mit dieser Art von missbräuchlicher Praxis, bei der ein Unternehmen Leute nach der rumänischen Gesetzgebung einstellt und sie mehr oder weniger legal ins Ausland vermittelt. Oder Sie haben Vermittler, die nur bei den Verträgen helfen und dann in den Mitgliedsstaaten als Subunternehmer der eigentlichen Auftraggeber agieren. Das Problem, das Sie damit haben, ist, dass die Haftung nicht tatsächlich von den Auftraggebern übernommen wird, sondern bei den Subunternehmern liegt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir an, ich brauche zehn Arbeiter für einen Auftrag in der Forstwirtschaft in Deutschland. Dann schließe ich als Auftraggeber einfach einen Haftungsausschlussvertrag mit einem Subunternehmer oder einem Vermittler ab. Wenn es zu Unfällen mit diesen Arbeitern kommt – selbst, wenn sie am selben Standort und unter den gleichen Bedingungen wie ihre deutschen Kollegen arbeiten – werden sie immer noch nicht die gleichen Leistungen wie die anderen erhalten. Da sie nicht vom Hauptauftraggeber beauftragt, sondern nur über einen Subunternehmer angestellt wurden. Genau dagegen kämpfen wir auch im Europäischen Parlament.

Ist das ein Thema, seit Rumänien der EU beigetreten ist oder schon davor?

Nach dem Beitritt Rumäniens zur EU konnten wir zwei Dinge beobachten. Erstens, dass es Rumän:innen leichter fiel, ins Ausland zu gehen und dort zu arbeiten. Es kam zu keiner massiven Auswanderungswelle, aber die saisonale Arbeit im Ausland intensivierte sich. Ein zweites Phänomen ist, dass sich die Arbeitnehmer:innen – vor allem aus Osteuropa – nach und nach ihrer Rechte bewusst geworden sind. In Rumänien gibt es zum Beispiel eine Gewerkschaft, Blocul National Sindical, die sich aktiv für den Schutz rumänischer Arbeiter in Deutschland einsetzt. Auch in Italien sind sie mittlerweile aktiv.

Nur um das klarzustellen, ich befürworte Arbeitsmigration wirklich sehr, denn ich denke, dass die Mobilität der Arbeitskräfte einer der Eckpfeiler unseres Binnenmarktes ist. Aber es muss sichergestellt werden, dass Gesetze und Arbeitsschutz eingehalten werden. Das ist das, was ich gerne als Botschaft an die österreichischen und die deutschen Behörden übermitteln möchte: Sie können sich nicht einfach nur die Rosinen aus dem Kuchen picken und Arbeiter aus Rumänien oder einem anderen Staat beschäftigen und sich gleichzeitig weigern, sie angemessen zu bezahlen oder sie zu schützen.

Mit dem Binnenmarkt in der EU wird es für politische Institutionen oder Gewerkschaften schwieriger, solche Missbräuche zu bekämpfen, da es Unternehmen gibt, die in verschiedenen EU-Ländern tätig sind, Subunternehmer einstellen und so weiter …

Wir müssen das Bewusstsein auf nationaler und auf EU-Ebene schärfen. Es handelt sich nicht um eine Frage der Gesetzgebung. Es gibt genügend Gesetze, aber sie müssen durchgesetzt werden. Wir können viel mehr tun, als wir jetzt tun. Eine positive Nachricht ist, dass eine sehr bedeutende EU-Institution, die Europäische Arbeitsmarktbehörde (European Labour Authority, ELA), angekündigt hat, dass sie 2022 ihren Fokus auf Saisonarbeiter legen wird, insbesondere auf die Bereiche Verkehr und Forstwirtschaft.

Ein Artikel von Johannes Greß

Johannes Greß

Johannes Greß lebt und schreibt in Wien. Derzeit studiert er Politikwissenschaft im Master, arbeitet als Freier Journalist und ist Mitglied der Jungen Linken Wien.
(Foto: Andreas Edler)

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