Das neoliberale Weltmarktprojekt ist auch in Europa gescheitert

Die Coronakrise zeigt: Wir müssen auf neue Weise über die Europäische Union nachdenken. Von Walter Baier

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Ende 2019 kündigten Europäische Kommission und Europaparlament die Einberufung einer Konferenz zur Zukunft Europas an, die unter Beteiligung der Bürger_innen vorbereitet werden soll.

Der Topos Zukunft der Integration beschäftigt die Europapolitik seit der Finanzkrise. 2017 veröffentliche die EU-Kommission das Weißbuch über die Zukunft Europas. Wer erinnert sich noch an die fünf Szenarien, die in der Substanz darauf hinausliefen, eine neue EU zu skizzieren, ohne die alte zu verändern?

Im September desselben Jahres stellte der französische Präsident Macron in einer Grundsatzrede an der Sorbonne die Initiative für Europa vor: Abbau der Arbeitslosigkeit und ökologischer Wandel, Finanztransaktionssteuer, Digitalsteuer, Mindestsätze für Vermögensbesteuerung, Konvergenz der sozialen Standards, eine deutliche Erhöhung des EU-Haushalts und die Demokratisierung der EU-Institutionen – Macron ließ keines der Defizite der EU aus, um zu einer Neugründung der EU aufzurufen. Doch als sich wenig später die deutschen und französischen Regierungsspitzen zur Feier des 55. Jahrestag des Elysee-Vertrags in Paris trafen, fand sich in der Abschlusserklärung nichts von Macrons Vorschlägen.

Damit war die Debatte noch vor den Europaparlamentswahlen zum Stillstand gekommen.

Die „Leuchtturmprojekte“, über die man mit den Mitgliedsstaaten übereinkommen konnte, waren die 2017 beschlossenen Aufrüstungsprogramme und der Ausbau der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex. Militär und Flüchtlingsabwehr, das geht offensichtlich immer, während die Vollendung der Bankenunion, die eine finanzielle Verpflichtung der Großbanken impliziert, in die Warteschleife verschoben wurde. Enttäuschend im Umfang und im Finanzierungsmodus fiel Anfang dieses Jahres auch der European Green Deal aus, mit dem die von-der-Leyen-Kommission auf die Klimakrise reagieren wollte.

Das Versagen der EU in der Gesellschafts- und Ökologiepolitik darf nicht erstaunen, kann eine Integration einer Union kapitalistischer Staaten doch nicht anders als primär über Märkte erfolgen, denen das Sensorium für gesamtgesellschaftliche Erfordernisse fehlt.

Die Meilensteine der EU, die Römischen Verträgen, die Einheitliche Europäische Akte, der Vertrag von Maastricht und der Lissabonner Vertrag haben den marktwirtschaftlichen Charakter der EU immer weiter ausgeprägt. Und auch Emmanuel Macron hat im Kontrast zum innovativen Gestus, in dem er seine Grundsatzrede an der Sorbonne vortrug, den Binnenmarkt als den „eigentlichen Geist Europas“ bezeichnet.

Allerdings steht der Integration über die Märkte schon vom Anfang die, keineswegs exklusiv von der Linken vertretene, Gegentendenz gegenüber, die Marktwirtschaft mittels staatlicher und supranationaler Institutionen in politische Ziele einzubetten. Im Zusammenstoß dieser beiden Tendenzen besteht die Geschichte der europäischen Integration.

1951 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet, die an die Stelle der Ruhrbehörde trat, die nach dem Krieg die deutsche Schwerindustrie alliierter Kontrolle unterstellt hatte. Neben dem zollfreien Handel mit Gütern der Schwerindustrie, wurde durch sie auch eine Hohe Behörde mit weitreichenden dirigistischen Vollmachten geschaffen.

Einen politischen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung zwischen Politik und Markt 1984, als das erste direkt gewählte Europaparlament den unter Führung von Altiero Spinelli verfassten Entwurf für einen Vertrag zur Gründung der Europäischen Union annahm. Darin war vorgesehen, die europäische Marktwirtschaft sozialen Zielsetzungen – Vollbeschäftigung, Überwindung der Ungleichheit, Schutz der Umwelt und kultureller Fortschritt wurden explizit angeführt – unterzuordnen. Ferner sollte die Initiative bei der Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Union zum Europäischen Parlament verlagert werden, dies, ohne die Rechte der nationalen Parlamente einzuschränken.

Das Ergebnis ist bekannt: Die Staats- und Regierungschefs verabschiedeten 1985 die Einheitliche Europäische Akte, in der sie das Ziel setzten, in kurzer Frist einen umfassenden europäischen Binnenmarkt zu verwirklichen, was den Sieg der marktwirtschaftlichen Tendenz bedeutete. Als sich 1992 die Staats- und Regierungschefs zum Gipfel in Maastricht versammelten, konnten sie in grundlegend geänderter Lage der Weltwirtschaft und der Weltpolitik darangehen, diesen Sieg durch die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion unter den berühmt gewordenen Kriterien zu vervollständigen.

Die Auseinandersetzung flammte neuerlich auf, als die Staatschefs ihre Konstruktion 2005 als Entwurf eines Vertrages für eine europäische Verfassung den Völkern zur Bestätigung vorlegten und in drei Staaten abblitzten. Dass die gescheiterte Verfassung zwei Jahre später als Lissabonner Vertrag auf einer Regierungskonferenz beschlossen wurde, hat das Ansehen der EU gewiss nicht erhöht.

Zur bislang letzten dramatischen Zuspitzung im Zweikampf Markt gegen Demokratie kam es, als 2015 Syriza die griechische Regierung übernahm und aus dem Korsett der neoliberalen Austeritätspolitik ausbrechen wollte.

Die Härte, mit der der Versuch, einen alternativen Exit aus der Krise zu finden, von den Kreditoren unterdrückt wurde, und die Brutalität der dem Land aufgezwungenen Sparprogramme haben europaweit Entsetzen ausgelöst, aber auch die Differenzen, die innerhalb der radikalen Linken im Hinblick auf die EU seit je bestanden, reanimiert.

Die Frage, der sich die europäische Linke im europäischen Maßstab und die Linke jedes einzelnen Staats zu stellen hat, ist, welches Ausmaß und welche Form einer europäischen Integration sie als Alternative zur real existierenden EU sie dem heutigen Kapitalismus für angemessen hält. Die Antworten können – je nachdem, ob man über Europa als Ganzes spricht oder über einzelne Staaten – und je nach deren Lage unterschiedlich ausfallen.

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU macht zudem deutlich, dass Pan-Europäismus nicht durch die Grenzen der EU definiert werden kann. Das Recht von Staaten aus der Währungsunion oder der EU auszutreten, ist unbestreitbar. Trotz der Zunahme desintegrativer Tendenzen stellt ein ungeordnetes Auseinanderbrechen der EU in ihre 27 oder mehr Bestandteile, zumindest unter Friedensbedingungen, ein sehr unwahrscheinliches Szenario dar. Plausibel ist hingegen das Aufbrechen alter europäischer Konfliktlinien zwischen einem unter der Ägide Deutschlands stehenden, zentraleuropäischen Blocks und einem von Frankreich angeführten Block des Südens und des Westens. Ob eine solche Neuordnung zu stabileren sozialen und politischen Verhältnisse führt, kann angezweifelt werden.

Es ist eine Tatsache, dass die jahrelange Enttäuschung über die Europäische Union sich in mehreren Ländern zur Überzeugung verdichtet, sie sei nicht reformierbar.

Man kann diese Veränderung in der Stimmungslage nicht ignorieren und soll auch nicht versuchen, die Unterschiede in der Wahrnehmung der Europäischen Union durch Kompromisse zu kaschieren. Beide bilden einen Ausgangspunkt der strategischen Debatte, die heute zu führen ist.

Dies gilt umso mehr, als in jeder institutionellen Ordnung Europas die Staaten heute und auf Sicht eine wirtschaftliche und politische Macht bleiben, was in ein transparentes und effizientes System definierter Kompetenzen und Checks and Balances zwischen ihnen und der Union erfordert.

Wenn die strategische Aufgabe darin besteht, die Souveränität der Völker nicht gegeneinander, sondern miteinander gegenüber den Finanzmärkten wiederzugewinnen, muss die demokratische Selbstbestimmung der Bevölkerungen über ihre Staaten verteidigt werden. Daher müssen wir verlangen, dass der Stabilitäts- Wachstumspakt nicht wieder aktiviert, sondern abgeschafft wird. Anstatt dessen müssen die Finanzinstrumente der EU, die EZB, die Europäische Investitionsbank und der ESM zur Verfügung stehen, um nationale Programme zur Rekonstruktion der Gesundheits- und Sozialsysteme und darüber hinaus die ökologische Transformation der Wirtschaften zu finanzieren.

Die Stärkung der sozialen Infrastrukturen, die Restrukturierung der europäischen Industrien entsprechend ökologischer Erfordernisse, die Beseitigung regionaler Ungleichheit, der Aufbau leistungsfähiger Energie- und Transportnetze und die Mobilisierung der dafür erforderlichen Finanzkraft, die über den Umfang des jetzigen Haushalts der EU hinausgeht – erfordern langfristige und belastbare, übernationale Kooperation. Soll diese nicht dem Markt überlassen werden, so braucht es auch eine übernationale politische Steuerung.

Das wäre die Aufgabe die EU. Diese präsentiert sich heute als ein seltsamer Hybridkörper: eine Freihandelszone mit einem erheblichen bürokratischen Apparat, der sich in der Krise als handlungsunfähig erweist, auf der einen, und ein Parlament, dem die Macht fehlt, Markt und Bürokratie zu steuern, auf der anderen Seite.

Das führt zur Frage der politischen Führung. Die europäische Linke muss sich auch auf der europäischen politischen Szene als eine Kraft bewegen, die den Anspruch auf Führung erhebt. Politischer Führungsanspruch heißt, den Kampf um eine Ausweitung der Demokratie zu führen.

Das Argument der Liberalen, dass das Defizit der europäischen Demokratie im Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit bestünde, ist schwach. Zutreffender ist, dass die europäische Zivilgesellschaft, die Gewerkschaften und die sozialen und ökologischen Bewegungen über nur eingeschränkte Möglichkeiten verfügen, die europäische Politik zu beeinflussen, für die nach wie vor die durch wirtschaftliches und politisches Gewicht bestimmte Hierarchie der Nationalstaaten maßgeblich ist.

Es ist trivial festzustellen, dass die wesentlichen Machtpositionen der Linken auf der Ebene der Nationalstaaten liegen. Sie vor der destruktiven Tendenz des unkontrollierten Binnenmarkts zu schützen, ist in jedem Fall strategisch erforderlich. Da aber die politischen Entwicklungen in den einzelnen Staaten ungleichzeitig verlaufen und die europäischen Entwicklungen auch in unterschiedlichem Maß beeinflussen, wirkt das Übergewicht der Regierungen in der europäischen Politik als ein Filter, der soziale Änderungen blockiert. Darin besteht das Patt.

Es zu durchbrechen, erfordert Demokratie, das heißt, dass auch auf europäischer unterschiedliche und antagonistische Parteien um Einfluss wettstreiten, miteinander kooperieren oder einander in Regierung und Opposition konfrontieren.

Dazu braucht es außer sozialer Bewegung ein souveränes, freigewähltes Parlament, das anstelle des Rats der Staats- und Regierungschefs in allen Angelegenheiten, für die die EU zuständig ist, zur entscheidenden Instanz im System der Institutionen wird. Dabei müssen die politischen Parteien auf europäischer Ebene eine Schlüsselrolle spielen. Die logische Schlussfolgerung wäre, dass die Partei der Europäischen Linken sich für die Aufwertung der Parteien, darunter sie selbst, und insbesondere dafür einsetzt, dass sie sich mit europäischen Listen zu den Wahlen stellen können.

Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, dass die gefährlichsten Bedrohungen, vor denen die Gesellschaften stehen, nicht militärischer, sondern sozialer und ökologischer Natur sind.

Sollte sich die erwartete Rezession tatsächlich zu den Maßen auswachsen, die manche Fachleute befürchten, so wird erst Recht eine Umleitung der Mittel, die für die Erhöhung der Militäretats der Mitgliedsstaaten vorgesehen sind, zum Ausbau der öffentlichen Dienste erforderlich sein.

Schutz vor militärischer Aggression ist zudem in erster Linie eine politische Aufgabe bei der Stärkung internationalen Rechts und kooperativer Strukturen entscheidend sind. Dabei stellt die militärpolitische Anbindung der meisten EU-Mitgliedsstaaten an die unberechenbar gewordene Politik der USA durch die NATO ein wachsendes Risiko dar. Die Bedrohung Europas mit neuen atomaren Massenvernichtungswaffen durch die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA und Russland und das bevorstehende Auslaufen des START-Vertrags besteht weiter.

Die verheerenden und in Europa kaum wahrgenommenen Auswirkungen der Pandemie in mehreren Staaten Afrikas, demonstrieren, dass sich die sozialen und ökologischen Fragen global stellen. Die Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre haben den Europäer_innen vor Augen geführt, dass sich die EU ihrer globalen Verantwortung nur um den Preis der Enthumanisierung ihrer inneren Verhältnisse entziehen kann.

Auch in Zeiten der akuten Gesundheitskrise darf das Schicksal der Zehntausenden Flüchtlingen, die an der EU-Außengrenze unter elendiglichen Bedingungen festgehalten werden, nicht ausgeblendet werden. Das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei muss aufgehoben und durch eine Politik ersetzt werden, die das in der UN-Menschenrechtskonvention garantierte Asylrecht verwirklicht.

Die Pandemie und die globale ökologische Krise erinnern uns daran, dass das neoliberale Weltmarktprojekt gescheitert ist, und nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Europa Menschenleben kostet. Es ist jetzt die Zeit, die neoliberalen Handels- und Investitionsabkommen, die die Europäische Union mit den meisten Ländern, Afrikas, Asiens und Lateinamerikas abgeschlossen hat, einer kritischen Überprüfung hinsichtlich der sozialen und ökologischen Schäden, die sie verursacht haben, zu überprüfen.

Wir müssen auf neue Weise über die real existierende Europäische Union nachdenken.

Die EU ist keine universelle europäische Organisation, und wird es auf alle absehbare Zukunft hinaus auch nicht sein. Vor allem deshalb, und nicht allein aufgrund ihrer Defizite, kann sie kein Monopol bei der der Integration Europas beanspruchen. Sie nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika als einen sich immer mehr erweiternden Staat zu denken, ist irreführend. Auch, weil sich durch den Aufstieg Chinas zur Weltwirtschaftsmacht neue Formen der internationalen Kooperation herausgebildet haben, die in mit den seit 2012 stattfindenden China-Mittel-Ost-Europa-Gipfeln (16 +1-Format) Mitglieder und Nichtmitglieder der EU in einen strukturierten Dialog mit der Staatsspitze Chinas einbinden.

Die notwendige internationale Kooperation bei der Beendigung des Wettrüstens und der Bewältigung der ökologischen Krise erfordert die Reanimierung jener europäischen Foren, die in der öffentlichen Wahrnehmung hinter die Europäische Union zurückgetreten sind: den Europarat und die Organisation von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, denen alle Staaten des Kontinents angehören. Sie sollten als Formen der Integration verstanden werden, deren langfristige Bedeutung im Hinblick auf die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent nicht geringer zu veranschlagen ist als die ökonomische und soziale Integration im Rahmen der EU.

Ein Artikel von Walter Baier

Walter Baier

Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler gehörte zu den Mitgründern der Partei der Europäischen Linken (EL) und war Koordinator des linken Thinktank »transform! Europe«. Im Dezember 2022 wurde er zum Präsidenten der EL und auf dem Kongress am 24. Februar 2024 in Ljubljana zu deren Spitzenkandidaten gewählt.

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