Das Momentum für eine EU-Reform nutzen!

Die Beteiligungsrechte für Bürger*innen an der Zukunftsgestaltung der EU erhöhen – eine klare Forderung der Europa-Union Mecklenburg-Vorpommern

© pixabay

Mit einer überwältigenden Mehrheit hatte das Europaparlament am 15.01.2020 eine Resolution angenommen, die den notwendigen Reformprozess in der Europäischen Union, beginnend mit der “Konferenz zur Zukunft der EU” auf den Weg gebracht hat. Die Abgeordneten sprachen sich für ein ambitioniertes Projekt aus, an dessen Ende eine Änderung der Europäischen Verträge stehen kann. Das Ziel: Die Union soll schlagkräftiger und demokratischer werden. Starke Bürgerbeteiligung, ergebnisoffener Prozess, Verpflichtung zur Umsetzung der Beschlüsse sind die zentralen Elemente dieser Resolution. Die Europäische Union könnte damit gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern der EU eine neue Geschichte schreiben und Europa mit der Konferenz den nötigen Schwung verleihen und die Zustimmung zur europäischen Zusammenarbeit einen großen Schritt nach vorn bringen.

Bereits im November 2020 hatten die Regierungen Frankreichs und Deutschlands ein Non-Paper vorgelegt. Die Stellungnahme hatte Hoffnungen geweckt, dass auch der Rat die Chancen der Konferenz zur Zukunft der EU erkennt. Präsident Macron gab der Bundesregierung im Rahmen des deutschen Ratsvorsitzes eine Chance, den europäischen Aufbruch des Koalitionsvertrags der Bundesregierung doch noch Wirklichkeit werden zu lassen. Dies ist leider – auch coronabedingt – nicht gelungen. Leider ist in dem nachherigen Gerangel über die Vorsitze und die Struktur der Konferenzen sowie dem mittlerweile durch die Mitgliedsstaaten und der Kommission verwässerten Fahrplan schon wieder viel Vertrauen verlorengegangen.

Bürger*innen müssen das Momentum für EU-Reform nutzen

Nun liegt es an den Bürgerinnen und Bürgern, das Momentum für eine EU-Reform zu nutzen. Eine tiefgreifende Reform hin zu mehr Handlungsfähigkeit und Bürgernähe wird nur dann möglich sein, wenn alle Europäischen Institutionen an einem Strang ziehen. Kommission und Rat sind dem Vorstoß des Parlaments leider nicht gefolgt, die Führungsrolle des Parlaments in der Weise zu respektieren, wie es die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einst versprochen hatte. Um die Bürgerinnen und Bürger zu begeistern, verdienen sie Klarheit über ihre Beteiligungsmöglichkeiten an Diskussionen und Entscheidungsprozessen.

Aber wir können uns auch zivilgesellschaftlich auf diese Konferenzen gut vorbereiten, indem wir unsere Mitglieder – insbesondere Mandatsträger und Politiker, die Kandidaten für die Landtags- und Bundestagswahlen, Europafreunde in den Partnerstädten unserer Kreisverbände und weitere Vertreter des öffentlichen Lebens bitten, uns ihre Gedanken zur Zukunft Europas mitzuteilen. Wir werden auf diese Weise sicher einen bunten Strauß an Vorstellungen und Ideen erhalten, wie unsere Europäische Union in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren aussehen kann. Mit dem Format der Bürgerdialoge haben wir dabei bereits sehr gute Erfahrungen gemacht.

Kein Mitgliedstaat kann die großen Herausforderungen unserer Zeit wirksam im Alleingang bewältigen, gleich ob es sich um Klimawandel, Sicherheit, Globalisierung, Digitalisierung oder – ganz aktuell – um die Sicherung der Gesundheit und Infektionsschutz handelt. Entscheidungen sollten jedoch jeweils auf der Ebene getroffen werden, auf der am besten auf die zu bewältigenden Herausforderungen reagiert werden kann, die so nah wie möglich an den Bürgerinnen und Bürgern sind und auf der für das größtmögliche Maß an demokratischer Legitimität gesorgt werden kann.

Unsere Vision sieht eine Europäische Union vor, in der nationale Souveränität gebündelt wird, um auf Herausforderungen, die die Mitgliedstaaten gemeinsam effektiver bewältigen können, zu reagieren und in der das Subsidiaritätsprinzip gewahrt wird, dem zufolge Entscheidungen so bürgernah wie möglich zu treffen sind.

Engere Zusammenarbeit der Parlamente notwendig

Für einen Erfolg dieser Union muss das Europäische Parlament enger und regelmäßiger mit nationalen und regionalen Parlamenten zusammenarbeiten. Nationale und regionale Parlamente müssen ihre Europakompetenz stärken. Der Aufbau einer föderalen Union ist ohne sie nicht möglich. Wir müssen auf gerechte und effiziente Weise eine parlamentarische Zusammenarbeit aufbauen.

Die EU darf nicht länger als Sündenbock für jene Mitgliedstaaten dienen, die gegenüber der öffentlichen Meinung in ihrem Land keine Verantwortung für ihre politischen Entscheidungen übernehmen wollen. Dies schadet der demokratischen Legitimierung öffentlicher Entscheidungen und verstärkt das Misstrauen gegenüber den EU-Organen.

Die Arbeit des Rates sollte daher genauso transparent gestaltet werden wie die des Europäischen Parlaments. Die von den Vertretern der Mitgliedstaaten vertretenen Positionen sollten bereits auf der Ebene der Arbeitsgruppen des Rates öffentlich einsehbar sein, damit Bürger*innen, Medien und Zivilgesellschaft sich informieren können, welchen Standpunkt ihre Regierung in ihrem Namen auf EU-Ebene vertritt, und damit die nationalen Parlamente die Beschlussfassung auf EU-Ebene leichter kontrollieren können

Langfristig muss der bestehende institutionelle Rahmen in der EU geändert werden. Zu viele notwendige Maßnahmen sind aufgrund mangelnder Kompetenzen oder Ressourcen oder nationaler Vetos schwer oder unmöglich durchzuführen.

Die EU braucht eine prägnante und verständliche Verfassung

Um eine stärkere Demokratie zu werden, braucht die EU eine prägnante und verständliche Verfassung, durch die die Grundrechte der Bürger geschützt, die Organe der Union und ihre jeweiligen Kompetenzen definiert und rechtliche Verfahren beschrieben werden sowie die Kompetenzaufteilung zwischen den verschiedenen Ebenen festgelegt wird.

Eine solche Verfassung kann nicht von den Staats- und Regierungschefs im Rahmen einer Regierungskonferenz ausgearbeitet werden. Es ist längst überfällig, dass den EU-Bürgerinnen und -Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, diese zusammen auszuarbeiten. Durch einen demokratischen konstituierenden Prozess, der eine breite, offene und von Zusammenarbeit geprägte Phase unter enger Einbeziehung und aktiver Mitwirkung der Zivilgesellschaft ermöglichen muss, sollte ausgehend von der Zukunftskonferenz ein EU-Verfassungsprozess organisiert werden, der weitestgehend durch die Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger organisiert und getragen wird.

Zunächst wollen wir auf drei Problemkreise hinweisen:

Da wäre zum einen die Diskussion um die Finalität des europäischen Einigungsprozesses. Wir in der Europa-Union haben in unserem 2012 verabschiedeten Düsseldorfer Programm ganz klar formuliert:

Unser Ziel ist der Europäische Bundesstaat.

Die Politik, insbesondere der Europäische Rat, hat es bisher versäumt, ein solches Ziel festzuschreiben. In der Präambel des Vertrages von Lissabon ist zwar vom „Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ die Rede, aber in welchen Schritten und in welchen Zeiträumen eine weitere Vertiefung der Integration erfolgen soll, bleibt offen.

Daraus ergibt sich eine zentrale Forderung an die Konferenz zur Zukunft Europas: der mit der Gemeinschaftsmethode (Methode Monnet) verbundene Verzicht auf die Formulierung eines finalen Ergebnisses des Integrationsprozesses muss aufgehoben und durch ein klar definiertes Integrationsziel ergänzt werden.

Ein zweites Problem, das sich zunehmend als Hemmnis bei der weiteren Vertiefung der europäischen Integration erweist, ist das immer noch in vielen Bereichen angewendete Einstimmigkeitsprinzip. Einstimmigkeit bedeutet im Umkehrschluss aber, dass jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht besitzt. Dieses Veto-Prinzip stammt ja noch aus der Zeit der EWG mit sechs Mitgliedern, und es hat damals schon zu Krisen geführt. In der heutigen Zeit kann es gar zur Handlungsunfähigkeit der EU führen, wie zum Beispiel bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise oder bei der Durchsetzung des Rechtsstaatsmechanismus. Die Krux bei der Sache ist nur, dass das Einstimmigkeitsprinzip auch nur einstimmig beseitigt werden kann. Mittelfristig ginge das nur über eine Änderung der Verträge. Allerdings ergibt sich hier die Frage, warum bei Entscheidungen im Ministerrat allzu oft (da wo es nach den Verträgen möglich wäre) auf die Anwendung des Mehrheitsprinzips verzichtet wird. Eine sich daraus ergebende weitere Frage ist, ob diese Praxis nicht sogar vertragswidrig ist.

Wenn wir also wollen, dass die EU in den Bereichen, in denen ihr die Verträge eine Kompetenz zuweisen, handlungsfähig bleibt und effektiver agieren kann, dann muss das Mehrheitsentscheidungsprinzip auf weitere Politikbereiche ausgedehnt werden. Auch das ist ein Thema, dem sich die geplante Konferenz vorrangig widmen sollte.

Und drittens fordern wir, dass die Diskussionen im Rahmen der Zukunftskonferenz zu mehr Demokratie, Transparenz und Bürgernähe bei den auf europäischer Ebene zu treffenden Entscheidungen führen.

Ein Artikel von Ralf-Peter Hässelbarth

Ralf-Peter Hässelbarth

Ralf-Peter Hässelbarth ist Landesgeschäftsführer Europa-Union Mecklenburg-Vorpommern e.V. und Leiter des Bildungsrings „Europa MV“.

 

Sie wollen Kontakt zu uns aufnehmen?

die-zukunft.eu freut sich auf Ihre/auf Eure Vorschläge für Beiträge zur Debatte über ein anderes Europa. Bitte geben Sie Ihren Namen, die Organisation sowie eine Kontaktadresse an.