„Die Linke muss das falsche Dilemma zwischen europäischer und nationalstaatlicher Strategie überwinden“
Zur Lage der EU zu Beginn der Konferenz über die Zukunft Europas. Eine Analyse von Walter Baier
Wenn die Konferenz über die Zukunft Europas tatsächlich eine radikale Neuausrichtung der europäischen Integration einleiten sollte, dann wäre jetzt der perfekte Moment dafür. Unter den gegenwärtigen politischen Machtverhältnissen in den Regierungen und den europäischen Institutionen wird das allerdings schwer zu erreichen sein. Andererseits hält sich aber auch das Interesse der europäischen Öffentlichkeit – einschließlich in den linken Parteien – an der Europapolitik in engen Grenzen.
Wenn sich jedoch die Konferenz als Propagandashow entpuppt – als Greenwashing des neoliberalen Integrationsmodells bei gleichzeitiger Stärkung seiner autoritären Tendenzen –, wird das die Hoffnung auf eine soziale und ökologische Reform der EU nur ein weiteres Mal frustrieren. Anders gesagt: Soll die Konferenz über die Zukunft Europas nicht als ein weiterer gescheiterter Versuch der Integration in die Geschichte eingehen, so muss sie ein neues grundsätzliches Regelwerk über die Ziele, den Aufbau und das Funktionieren der EU produzieren und den europäischen Völkern zur Entscheidung unterbreiten.
Kompliziert wird die Debatte um die Zukunft der EU noch dadurch, dass Deutschland und Frankreich vor wichtigen Wahlen stehen. In Frankreich zeichnet sich ab, dass die Auseinandersetzung um die Integration im Showdown zwischen Emanuel Macron und Marine Le Pen in einer Weise instrumentalisiert wird, dass Wählerinnen und Wähler sich vor die aussichtslose Alternative, europäischer Neoliberalismus versus französischem Chauvinismus gestellt sehen.
Damit könnten die Integration und Europa insgesamt an einem Kipppunkt anlangen. Umso notwendiger ist es, im nationalen und im europäischen Rahmen eine dritte Option in Debatte zu bringen.
Europapolitik in einer Zwickmühle
Nach einem Jahr der Pandemie hat sich die Situation im Vergleich zu China, Kuba, Vietnam, Südkorea oder Neuseeland und anderen Ländern nicht verbessert. Auch das wäre ein Anlass für eine ehrliche Diskussion nicht nur über die verschiedenen Strategien im Umgang mit der Pandemie, sondern auch über die institutionellen Voraussetzungen für die Bewältigung einer Krise solchen Ausmaßes.
Selbst wenn die Verbreitung des Virus im Laufe des Jahres durch Impfungen eingedämmt werden kann – was, während dieser Text entsteht, nur gehofft, aber nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden kann –, lastet auf Regierungen und europäischen Behörden die Verantwortung für ein Missmanagement, dem zehntausende Menschenleben über das Unvermeidliche hinaus zum Opfer gefallen sind. Daran kann auch ein medial aufbereitetes, öffentliches Gedenken nichts ändern.
Wo es sowieso schon irrational ist, die Bewältigung einer globalen medizinischen Krise einer Handvoll Unternehmen anzuvertrauen, die maximale Profite machen wollen, hat die Coronavirus-Krise auch den krassen Widerspruch der EU-Verträge offengelegt, die einerseits den Mitgliedsländern die Kompetenzen in der Sozial- und Gesundheitspolitik zuordnen, während sie andererseits deren finanzielle Grundlagen durch EU-Gesetze stark einschränken. Das Ergebnis ist nicht nur eine Unterfinanzierung der nationalen Gesundheitssysteme, die in einigen Ländern durch die Austeritätspolitik schwer geschädigt wurden, sondern auch ein offensichtlicher Mangel an Kompetenz der EU-Kommission, die Kampagne gegen die Pandemie zu koordinieren, was bei den Vertragsverhandlungen mit den Pharmakonzernen sehr deutlich wurde. Es ist fraglich, ob der dadurch entstandene Schaden am Prestige der EU, besonders in den von der Epidemie am stärksten betroffenen Staaten, noch repariert werden kann.
Es war richtig, den EU-Stabilitätspakt im Frühjahr letzten Jahres außer Kraft zu setzen. Gleichzeitig hängt aber seine neuerliche Aktivierung wie ein Damoklesschwert über der wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie. Auch der Kompromiss, den der Europäische Rat zum Mehrjährigen Finanzrahmen der EU (2021-2027) gefunden hat, einschließlich des Wiederaufbauplans NextGenerationEU, der nicht rückzahlbaren Transfers an die von der Krise am stärksten betroffenen Länder enthält, verspricht eine dringend benötigte Entlastung. Zu begrüßen ist ebenfalls die Entscheidung, einen Teil des Fonds durch eine gemeinsame europäische Kreditaufnahme zu finanzieren.
Dadurch unterscheidet sich die Reaktion auf die Pandemie tatsächlich von derjenigen auf die Finanzkrise 2009. Aber angesichts des Ausmaßes der Probleme hinken die Maßnahmen dem hinterher, was notwendig und möglich wäre (was im Vergleich zu dem von US-Präsident Biden angekündigten 1,9-Billionen-Dollar-Paket, das zu dem Ende 2020 vom Kongress beschlossenen 900 Milliarden Konjunkturhilfen hinzukommt), besonders eklatant hervortritt.
Vor allem aber steht das kapitalistische Wirtschaftssystem angesichts der Digitalisierung und der Umweltkrise an der Schwelle einer umfassenden Transformation, die auch langfristig andere Strategien erfordert als die aus den neoklassischen Wirtschaftslehrbüchern.
Die europäische Politik befindet sich in einer politischen Zwickmühle: Einerseits entlarvt die Krise gnadenlos die strukturellen Fehler der europäischen Verträge, die das ungehinderte Funktionieren der Märkte zur obersten Maxime erklärt und ein System der Governance installiert haben, bei dem demokratische Rechte, die auf der nationalen und der europäischen Ebene theoretisch bestehen, in einem undurchsichtigen Zusammenspiel zwischen den Exekutivorganen der beiden Ebenen versickern. Das Problem ist strukturell, aber gleichzeitig beweist der internationale Charakter der Krise die Absurdität jeglicher nationalistischen Hypothese, die behauptet, dass Gesellschaften die Umbrüche und Herausforderungen der heutigen Welt gegeneinander in Konkurrenzkämpfen um knappe Ressourcen bewältigen könnten.
Heute scheint der Keynesianismus wieder in einem höheren Ansehen zu stehen. Selbst Mainstream-Ökonomen werden nicht müde, zu versichern, dass sie niemals Neoliberale waren. Die Linke kann diese Risse ausnutzen, die die Krise im öffentlichen Diskurs aufgerissen hat. Allerdings sollte sie diese nicht mit einer Wende der herrschenden Politik verwechseln. Die letzte Finanzkrise hat gezeigt, dass solche Momente des Selbstzweifels der Eliten nicht länger anhalten, als bis sich die Lage soweit stabilisiert, dass sich innerhalb der herrschenden Klassen, vor allem der großen europäischen Länder, ein neues Gleichgewicht der Interessen und ein Konsens über den Umgang mit der Krise herausgebildet hat.
Deshalb darf sich die europäische Linke nicht darauf beschränken, den linken Flügel des keynesianischen, liberalen Mainstreams zu bilden. Die Krise stellt eine weit grundlegendere Frage, nämlich die nach der Hegemonie, das heißt der gesellschaftlichen Interessen, die bei ihrer Überwindung im Vordergrund stehen sollen.
Die gegenwärtige Form des Kapitalismus stößt an ihre systemischen Grenzen, die Gesellschaften befinden sich in einer Transformationskrise. Wenn diese Aussage aber mehr sein soll als ideologische Selbstbestätigung, dann folgt daraus, dass Reformstrategien für einzelne, voneinander isoliert betrachtete Sektoren nicht ausreichen, um eine eigenständige ökosozialistische Position zu formulieren, sondern dass es notwendig ist, Ökonomie, Ökologie, Geschlechterverhältnisse, Sozialstaat, internationale Beziehungen und Kultur zusammenzudenken und davon ausgehend gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln.
Verteilungskonflikt und Klassenpolitik
Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Texts liegt die Zahl der weltweit infizierten Menschen bei 129 Millionen mit mehr als 2,8 Millionen Toten. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen sind verheerend. Alle Prognosen zur Erholung der Weltwirtschaft sind davon abhängig, dass die Pandemie rasch überwunden wird.
Die Folgen der Krise sind für die verschiedenen Klassen unterschiedlich spürbar. Millionen Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Lehrlinge, alleinerziehende Mütter, Selbstständige, Geringqualifizierte und die große Zahl von Künstler*innen und Kulturschaffenden, die nicht zur schmalen Elite der transnationalen Unterhaltungsindustrie gehören, sind dazu verurteilt, nicht nur die Kosten der Pandemie zu schultern, sondern auch die der „kreativen Zerstörung“, die den Boden für den nächsten Zyklus der kapitalistischen Akkumulation bereiten soll.
Nach Angaben der ILO sind weltweit 2,7 Milliarden Arbeiter*innen von teilweisen oder vollständigen Schließungsmaßnahmen betroffen, wobei 17% der jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren bereits bei der ersten Schließung ihren Job verloren haben. Die soziale Zeitbombe, die durch die Millionen von Zeitarbeitsverträgen ohne Schutz durch Arbeitsgesetze und soziale Rechte entsteht, droht zu explodieren, während gleichzeitig die Einnahmen und Vermögen des obersten 1% astronomische Höhen erreichen.
Um den unmittelbaren sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Lockdowns entgegenzuwirken, haben die Regierungen im vergangenen Jahr Sonderprogramme von bisher nicht gekanntem Ausmaß verabschiedet.
Diese unorthodoxen finanzpolitischen Entscheidungen, die die Verschuldungsquoten drastisch erhöht haben, waren zur Bewältigung einer noch nie dagewesenen Krise sinnvoll. Allerdings bringen sie Staaten auch in eine umso größere Abhängigkeit von den Finanzmärkten und den Entscheidungen der Europäischen Zentralbank.
Das Instrument der Verschuldung steht nicht allen Staaten im selben Ausmaß zur Verfügung, da die Zinsen die finanzstarken unter ihnen begünstigen und die schwächeren benachteiligen. Der Effekt ist: Deutschland, dessen Anteil an der EU-Wirtschaft 26 Prozent beträgt, tätigte 50 Prozent der bisherigen Gesamtausgaben aller Mitgliedsländer zur Bewältigung der Krisenfolgen. Die Verschuldung wird so die Ungleichheit zwischen den deindustrialisierten Regionen in Süd- und Osteuropa und den wirtschaftlichen Machtzentren der EU weiter verschärfen.
Aufgrund der historisch niedrigen Zinsen sehen sozialdemokratische und grüne Politiker*innen in einer Erhöhung der Staatsverschuldung den effektivsten Ausweg aus der Krise. Auf diesem Weg ließen sich, so die Annahme, sonst unausweichliche Verteilungskonflikte vermeiden. Ich halte das für kurzsichtig.
Natürlich ist eine wachsende Staatsverschuldung sozial weitaus akzeptabler als eine steigende Arbeitslosigkeit, aber es setzt die Staaten auch dem Risiko zukünftiger Umschuldungen unter ungünstigeren Bedingungen als den jetzigen aus. Angesichts der enorm angewachsenen Höhe der Schulden, könnten schon geringe Zinserhöhungen dramatische Auswirkungen auf die Staatshaushalte und deren Refinanzierungsmöglichkeiten an den Märkten haben. Deshalb ist die Streichung zumindest der von der Europäischen Zentralbank gehaltenen Staatsschuldentitel, wie sie von 150 renommierten Ökonomen aus ganz Europa gefordert wird, eine dringende und zugleich machbare Maßnahme zur „Rückeroberung des Schicksals Europas“.
Darüber hinaus muss der wirtschaftliche Wiederaufbau nach dem Ende der akuten Phase der Pandemie mit dem ökologischen Umbau der industriellen und energetischen Basis der Volkswirtschaften verknüpft werden und wird Investitionen in nie dagewesener Höhe erfordern. Die Europäische Kommission hat 2018 errechnet, dass 2,8% des BIP der EU für die Dekarbonisierung der Wirtschaft notwendig sein werden. Die Finanzierung dieser Investitionen wird zum zentralen klassenpolitischen Streitpunkt der Post-Corona-Periode.
Die Alternative besteht darin, wie in der letzten Krise die Lasten auf die Bevölkerungen abzuwälzen, oder die öffentlichen Finanzen auf Kosten der Besitzer der großen Vermögen durch substantielle Kapitalabgaben und Kapitalertragssteuern zu sanieren. Verteilungskonflikte werden hier nicht umgangen werden können.
Die Pandemiekrise war der Elchtest für die institutionelle Struktur der EU. Die einzige Institution, die diesen Test tatsächlich bestanden hat, war die Europäische Zentralbank, die ihr Pandemie-Notkaufprogramm (PEPP) bis Ende 2020 auf 1,85 Billionen Euro aufgestockt hat. Damit errichtete sie ein Schutzschild, das die verschuldeten Länder zunächst vor der Erdrosselung durch die Finanzindustrie schützte.
Doch dieser der Schutz ist nur relativ ist und kann sich auch als nur vorübergehend erweisen. Wie sich zeigt, wird die von der Zentralbank geschaffene Liquidität nicht in dem erwarteten Umfang in die Realwirtschaft investiert, sondern versorgt den Boom an den Aktien- und Vermögensmärkten mit liquiden Mitteln. So bleibt abzuwarten, wann und wie der bizarre Widerspruch zwischen einer Inflation fiktiven Kapitals und einer rezessiven Realwirtschaft aufbrechen wird.
Kein unumstößlicher Schutz durch EZB
Zudem ist der Schutz durch die EZB auch politisch nicht unumstößlich. Das zeigt das Ultra-vires-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020, welches das Anleihekaufprogramm der EZB als tendenziell im Widerspruch mit dem Grundgesetz erkannte.
Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) in Karlsruhe zur Verfassungsbeschwerde eines AfD-Politikers wurde von nationalistischen Kreisen im gesamten politischen Spektrum Deutschlands als „Sieg der Demokratie und des Rechtsstaates“ bejubelt.
Die Kontroverse vor dem Verfassungsgericht wurde im Prinzipiellen zwischen, vereinfacht ausgedrückt der Konzeption eines „deutschen Europa“ und eines „europäischen Deutschland“ geführt. Sie beschäftigte das Höchstgericht auch nicht das erste Mal. Bereits 1993 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Klage auseinanderzusetzen, die damals gegen die Bestätigung des Maastrichter Vertrages durch den Deutschen Bundestag eingebracht worden war. Der Staatsräson entsprechend, in deren Fokus die Wiedervereinigung stand, wies das Bundesverfassungsgericht die Klage zwar ab, allerdings befleißigte es sich jener Zweideutigkeit, die dem jüngsten Verfahren den Boden bereitete, indem es sich vorbehielt, EU-Rechtsakte weiterhin auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen Verfassungsrecht zu prüfen und gegebenenfalls aufzuheben.
Im Hinblick auf das PEPP betrachtete das Gericht nun einen solchen Prüfungsfall als gegeben und gab den Beschwerdeführern teilweise Recht, die in der Substanz geltend gemacht hatten, dass die EZB mit ihren Programmen „a) ihre währungspolitische Kompetenz überschreitet und in die wirtschaftspolitische Kompetenz der Mitgliedstaaten übergreift, b) gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung durch die Zentralbank verstößt c) die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland verletzt.“
In der praktischen Anwendung verblieb das Urteil zwar dadurch im Symbolischen, dass Bundesregierung und Bundestag vom Bundesverfassungsgericht lediglich angelastet wurde, sie hätten weder geprüft noch dargelegt, dass die beschlossenen Maßnahmen dem Gesetz der Verhältnismäßigkeit entsprechen“, wodurch es wiederum der EZB ermöglicht wurde, sich dem Gessler-Hut des deutschen Gerichts zu beugen und erläuternde Dokumente zur Verfügung zu stellen.
Die Rute ist allerdings ins Fenster gestellt, indem das höchste Gericht des Staates, der den größten Anteil an der EZB hält, sich ausdrücklich das Recht vorbehält, über die Rechtmäßigkeit von EU-Entscheidungen in letzter Instanz zu befinden.
Dies bildet wohl auch den Hintergrund, vor dem der Deutsche Bundestag in Reaktion auf die lauter werdende Forderung nach einem Schuldenerlass ein internes Gutachten in Auftrag gegeben hat, das von der konservativen Tageszeitung Die Welt veröffentlicht wurde, und das zu dem Schluss kommt, dass ein Erlass der Staatsschulden durch die EZB einen Verstoß gegen die europäischen Verträge darstellen würde.
Dass die EZB unter Madame Lagarde über Monate die letzte Bastion europäischer Politik hielt, wird besonders im Vergleich mit dem Agieren des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs deutlich. Nur mit erheblicher Verzögerung und enormen politischen Anstrengungen konnte sich dieser im Herbst auf den durch das Europäische Konjunkturprogramm NextGenerationEU auf 1,85 Billionen Euro aufgestockten mehrjährigen Finanzrahmen (2021 – 2027) einigen. Die 310 Milliarden Euro nicht rückzahlbarer Transfers an die von der Pandemie am stärksten betroffenen Länder sind zweifelsfrei positiv, haben jedoch den großen Haken, dass sie durch das Europäische Semester überprüft werden, und es verdichten sich die Anzeichen dafür, dass sie an strenge neoliberale Verpflichtungen unter Aufsicht der Europäischen Kommission gebunden sein werden.
Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz feierte die erstmalige Ausgabe von gemeinsamen Anleihen durch die EU euphorisch als „Hamilton-Moment der EU“. Doch während Alexander Hamilton 1790 die Schulden aller dreizehn US-Bundesstaaten zentralisierte und damit den Grundstein für die finanzielle Integration der USA legte, geht es hier um einen Bruchteil des aktuellen Budgets der Europäischen Union, welches selbst nicht mehr als 1,1 Prozent des BIP der aufsummierten BIPs der Mitgliedsstaaten ausmacht.
Und selbstverständlich kommt es auf die Dimensionen an. Die entscheidenden Fragen, ob das neue Finanzinstrument ausreicht, um die Auswirkungen der bisherigen Sparmaßnahmen auszugleichen, und die arbeitende Klasse vor weiteren Verlusten ihrer Einkommen zu schützen, kann nicht mit Ja beantwortet werden. Die Financial Times sprach von „smoke and mirrors“ [Lug und Trug] im EU-Konjunkturprogramm und hielt den Rettungsplan von 310 Mrd. € für nicht wirklich ausreichend, um als diskretionärer Konjunkturimpuls zu gelten, da er nur 0,7% des BIP der EU über einen Zeitraum von drei Jahren ausmachen wird.
Was ist mit dem Green Deal?
In einer Pressemitteilung des Europäischen Rechnungshofs wird gewarnt, dass die 37% der im Konjunkturprogramm angestrebten grünen Investitionen überschätzt sein könnten und zu optimistisch berechnet würden.
Die Bedenken betreffen nicht nur die ungenügende Quantität der in Bewegung gesetzten Mittel, sondern auch die Methode ihrer Allokation. Aus der zwischenstaatlichen institutionellen Logik folgt, dass die EU aus ihrem Konjunkturprogramm keine transnationalen, europäischen Projekte in den Mitgliedsländern finanziert, sondern die Mittel an die Regierungen weiterreicht, die nationale Pläne an die Kommission übermitteln.
Wolfgang Münchau von der Financial Times vermutet daher, dass sich die Zuschüsse als „eine Geldorgie [herausstellen werden], die einzig und allein dazu dient, politische Unterstützung für diejenigen zu generieren, die sie ausgeben“.12
Letztlich wird diese Methode der Mittelverteilung auch unweigerlich Nationalismen entfachen, indem sie „Geber“ gegen „Empfänger“ ausspielt. Einen Vorgeschmack darauf, wie sich die Nationalisierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaues durch die Regierungen auswirkt, liefern die Autokraten in Ungarn und Polen, die wohl bedeutende europäische Mittel abschöpfen, sich aber erfolgreich gegen ihre Bindung an europäische rechtsstaatliche Standards stemmen.
Einige langfristige Entwicklungen sind noch nicht absehbar, sollten aber beachtet werden. Der wirtschaftliche Strukturwandel wird die Stellungen von Branchen, Regionen und Staaten im kapitalistischen Wettbewerb und ihre Finanzkraft verändern. Außerdem werden den bestehenden Ost/West- und Nord/Süd-Spannungen neue Widersprüche und Konkurrenzen hinzukommen, die sogar den Kern der europäischen Integration betreffen können.
Die Erfahrung von 2007 und den darauffolgenden Jahren hat gezeigt, dass kapitalistische Krisen nicht automatisch in eine für die Linke günstige Entwicklung münden. Um die Krise zu nutzen, muss die Linke eine Alternative anbieten, die die Lösung der akuten Krise mit einer sozial-ökologischen Transformation verknüpft.
Dabei kommt es nicht allein darauf an, sich als glaubwürdige Sprecher*innen für allgemeine Ziele zu profilieren, die – zumindest verbal – weithin anerkannt sind. Man muss auch über die politischen und institutionellen Voraussetzungen reden, die zu ihrer Umsetzung nötig sind: geänderte Macht- und Eigentumsverhältnisse.
Die öko-sozialistische Linke steht für die Streichung der Staatsschulden, die Vergesellschaftung der Pharmakonzerne, eine neue Rolle der Staaten bei der Wirtschaftsplanung, die Vergesellschaftung des Finanzsektors und Internetunternehmen, Kapitalverkehrskontrollen, Wirtschaftsdemokratie und die Stärkung der Lohnabhängigen auf der Ebene der Unternehmen, der Gemeinden, der Länder und der EU.
Auf diesen Feldern, auf denen sich die antagonistischen sozialen Interessen politisch artikulieren, befindet sich die Linken im Wettbewerb mit denjenigen, die den Ausweg aus den jetzigen Krisen in einem Interessensausgleich mit der globalen Finanzindustrie finden wollen, obwohl es diese war, die uns in diese Krise geführt hat. Gerade in der Umweltpolitik wird dieser systemische Antagonismus deutlich.
Strategische Souveränität? Ja, aber wozu?
Die Coronavirus-Krise – und ihre katastrophalen Auswirkungen auf Asien, Afrika und Lateinamerika, die in Europa zu wenig beachtet werden – verschärfen die ungleiche Verteilung von Lebenschancen in weltweitem Ausmaß. Das ist die durch Rassismus und Chauvinismus verstellte Realität, auf die die weltweiten Migrationsbewegungen unsere Gesellschaften hinweisen.
Damit werden Moria, Kara Tepe, die Lager an der bosnisch-kroatischen Grenze und anderswo zu Dokumenten des moralischen und sozialen Versagens des Neoliberalismus als globales Zivilisationsmodell.
Im Januar dokumentierte ein Bericht des ungarischen Helsinki-Komitees die Verwicklung der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex) in die illegalen Pushbacks in der Ägäis, weshalb das Europäische Parlament eine Frontex-Überwachungsgruppe unter der Leitung zweier linker EU-Abgeordneter einrichtete.
Die Zurückweisungen an der EU-Außengrenze sind nicht nur Verstöße gegen das Völkerrecht, sondern auch gegen die EU-Gesetzgebung. Das gilt auch für das schändliche EU-Türkei-Abkommen zur Migration, das aufgekündigt werden muss.
Verteidiger des unmenschlichen Grenzregimes wie der österreichische Bundeskanzler Kurz argumentieren, dass die Behebung der sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der Migration in den Herkunftsländern Vorrang gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten haben müsse. Allerdings erklären sie uns nicht, weshalb das Eine im Gegensatz zum Anderen stünde. Zudem aber: wenn das Argument ernst gemeint wäre, dann müsste mit der sofortigen Rückabwicklung der neoliberalen Handels- und Investitionsabkommen begonnen werden, die die EU mit den meisten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas abgeschlossen hat, und die die lokalen Wirtschaften nachhaltig schädigen.
Noch ist es zu früh, um zu wissen, wie die Welt nach Corona aussehen wird. Sicher ist aber, dass sich das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft in den pazifischen Raum verlagert hat. Der große Gewinner ist China, das auch als erstes der großen Länder nach der Corona-Krise auf einen Wachstumspfad zurückgekehrt ist. Zumindest vorderhand scheint es auch gestärkt aus dem von Donald Trump losgetretenen Wirtschaftskrieg hervorgegangen zu sein.
Darüber hinaus hat China weitere Fortschritte in seiner internationalen Agenda gemacht; Den Beginn machte die international positiv aufgenommene Ankündigung von Präsident Xi Jinping, China werde ab 2060 kohlenstoffneutral wirtschaften. Auf der Erfolgsseite konnte die chinesische Außenpolitik im November des vergangenen Jahres auch die, trotz der militärpolitischen Spannungen im südchinesischen Meer abgeschlossene Regional Comprehensive Economic Partnership mit 15 Staaten der asiatisch-pazifischen Region verbuchen, womit der weltgrößte Freihandelsraum entsteht.
Der von Trump begonnene und von Biden fortgesetzte Kalte Krieg gegen China stellt die EU vor ein strategisches Dilemma. Soll sie an der 2016 beschlossenen strategischen Partnerschaft mit China festhalten oder sich dem Konfrontationskurs der USA anschließen? Die Antworten der EU sind bis heute zweideutig. Einerseits bezeichnete 2019 die EU China als „strategischen Rivalen“ und folgte damit der aggressiven US/NATO-Rhetorik, andererseits einigte sie sich im Dezember letzten Jahres noch kurz vor dem Amtsantritt Joe Bidens mit diesem „Rivalen“ auf sie Unterzeichnung des Comprehensive Agreement on Investment, wodurch China seinen Markt für Investitionen aus der EU weit öffnet.
Der Aufstieg Chinas hat bereits heute nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die europäische Integration, wie die Teilnahme Italiens an der One Belt, One Road Initiative zeigt. Seit 2012 nimmt die Kooperation zwischen China und den mittel- und osteuropäischen Ländern (abgekürzt China-CEE, China-CEEC, sowie 17+1) Gestalt an. Dieser Dialog verbindet EU-Mitglieds- und Nicht-Mitgliedsstaaten mit der chinesischen Regierung und entwickelt sich ungeachtet der zunehmend feindseligen Politik der USA gegenüber China.
Die notwendige „realpolitische Herangehensweise“ an China, dessen Importe nach der großen Finanzkrise wesentlich zur Erholung der Weltwirtschaft beigetragen haben, hat nichts mit einer Liebesaffäre zu tun, und schließt auch politische Kritik nicht aus; sie beruht aber auf der Einsicht, dass keines der heutigen, globalen Probleme ohne oder gegen die Volksrepublik China gelöst werden kann.
Dasselbe gilt natürlich auch für die USA, deren neuerliche Einbindung in eine multilaterale, auf internationalem Recht basierende Ordnung ein zentrales Ziel der EU sein muss. Die Voraussetzungen dafür könnten sich unter dem neuen US-Präsidenten in bestimmten Bereichen verbessern. Joe Biden hat jedoch auch deutlich gemacht, dass er zwar zum Pariser Abkommen und zur WHO zurückkehren will, vielleicht sogar Trumps Iran-Strategie abändern wird, dass China jedoch ein eigenes Thema ist, wo er den Ansatz der letzten Administration fortsetzen will, was definitiv den wirtschaftlichen und politischen Interessen der EU widerspricht.
Unter Trump hat die die EU die Grenzen ihres strategischen Handlungsspielraums erfahren. Dies wurde besonders klar bei dem gescheiterten Versuch, durch die Schaffung der speziellen Tauschplattform INSTEX den Atomdeal mit dem Iran zu retten.
Zufall oder nicht, nur wenige Tage vor Joe Bidens Amtsantritt im Januar legte die EU-Kommission ein Strategiepapier vor, in dem gefordert wurde, Vorkehrungen zu treffen, „um EU-Akteure abzuschirmen, für den Fall, dass ein Drittland Finanzmarktinfrastrukturen in der EU zwingt, seine einseitig erlassenen Sanktionen zu befolgen“. Dazu müsse die einseitige Abhängigkeit der Weltwirtschaft vom Dollar gebremst, und gleichzeitig das internationale Gewicht des Euro gestärkt werden.
Das Schlüsselwort in diesem Diskurs ist die „strategische Souveränität“ der EU, die von der autonomen Entscheidungskraft in Sachen Sicherheit innerhalb und außerhalb der Grenzen, bis hin zur Digitalisierung reicht, bei der die EU Gefahr läuft, zum Spielball der rivalisierenden Supermächte USA und China zu werden, hergestellt werden soll.
Der Begriff „strategische Souveränität“ selbst und die reichliche Finanzierung von Rüstungsprogrammen im EU-Budget deuten darauf hin, dass militärischen Mitteln eine wichtige Rolle bei dieser Neupositionierung Europas zugeschrieben wird.
Wie illusionär allerdings die Konzeption einer militärischen Souveränität unter den gegebenen weltpolitischen Umständen ist, sieht man an der Aufkündigung des INF-Vertrags seitens der USA und Russland, durch die in Europa ein nukleares Wettrüsten droht, bei dem die Hauptbetroffenen, die Europäer*innen nichts weiter als die Zaungäste darstellten.
Daher sollte es offensichtlich sein, dass eine Souveränität Europas nicht mit militärischen Mitteln erreicht werden kann, sondern nur durch die Schaffung einer politischen Architektur, die allen europäischen Ländern gleiche und gegenseitige Sicherheit bietet. Beschämend ist in diesem Zusammenhang, dass nur zwei von 27 Mitgliedsstaaten der EU (Österreich und Irland) dem UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen beigetreten sind, der im Januar 2021 nach der Ratifizierung durch fünfzig Staaten in Kraft trat.
Der Austritt Großbritanniens aus der EU erinnert daran, dass die EU kein universelles europäisches Gebilde ist und auf absehbare Zeit auch keines sein wird. Daher ist es irreführend und politisch gefährlich, sie als eine Republik „in statu nascendi“ zu betrachten, einen Staat, der sich nach dem Vorbild der USA im 19. Jahrhundert ständig erweitert.
Weil Europa keineswegs mit der EU identisch ist, müssen jene europäischen Foren erhalten und aktiviert werden, die in der öffentlichen Wahrnehmung hinter der Europäischen Union verschwunden sind: der Europarat, dem alle Staaten des Kontinents angehören, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der auch die USA und Kanada angehören, und die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa. Auch scheinbar unbedeutende Institutionen wie die Europäische Donaukommission, die die elf Anrainerstaaten der Donau vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer zusammenschließt, müssten mitwirken, wenn es darum geht, die Umwelt- und Verkehrsprobleme der Region zu bewältigen. Sie sollten als Formen der Kooperation gesehen werden, die für die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent noch lange Zeit nicht weniger wichtig sind als die wirtschaftliche und soziale Integration im Rahmen der EU.
Der Krieg in Libyen, bei dem Frankreich und Deutschland entgegengesetzte Seiten unterstützen, die vom NATO-Staat Türkei verursachten Spannungen im östlichen Mittelmeer, die eingefrorenen Konflikte in der Ukraine und Moldawien sowie das kritische Verhältnis zu Russland zwangen den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zu dem Eingeständnis, dass die Nachbarschaft der Europäischen Union „in Flammen steht“.
Wenn das Ziel der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) war, Stabilisierung, Sicherheit und Wohlstand in der östlichen und südlichen Nachbarschaft zu fördern, dann hat diese drastisch versagt.
Die allgemeine Frage, ob die Verantwortung für die Sicherheitspolitik auf die EU-Ebene verschoben werden soll, bleibt abstrakt und müßig, solange nicht Konsens darüber besteht, dass ihre Priorität Rüstungskontrolle und Abrüstung sein muss.
Solange zudem auf europäischer Ebene nicht voller Parlamentarismus besteht, gibt es keine Veranlassung zu akzeptieren, das Prinzip der Einstimmigkeit in militärischen und außenpolitischen Fragen abzuschaffen, wie es die deutschen und französischen Regierungen vorschlagen.
Den bedeutenden Stellenwert, den die Außenpolitik in der Reformdebatte einnimmt, darf nicht davon ablenken, dass die internationale Position der EU in erster Linie dadurch bestimmt wird, inwiefern sie interne Schwierigkeiten bewältigen kann. Laut Prognosen werden bereits im Jahr 2023 digital transformierte Unternehmen 50% zum globalen BIP beitragen. Unter den zehn global lukrativsten Unternehmen befindet sich bis heute jedoch nur ein einziges europäisches Unternehmen. Das gleiche Bild ergibt sich bei Hardware und digitaler Infrastruktur. Wenn die EU und ihre Mitgliedsländer im technologischen Wettlauf mit den USA und China nicht weiter zurückfallen wollen, braucht es eine geplante Industriepolitik und Mobilisierung enormer Ressourcen auf europäischer Ebene. Der dafür notwendige politische Wille kann aber, wenn überhaupt, unter der derzeitigen Form der EU nur mit zunehmenden Schwierigkeiten und Reibungsverlusten entstehen.
Der Kampf um die Demokratie in der EU
Der Mehrjährige Finanzrahmen hat einen bemerkenswerten politischen Werdegang hinter sich. Die EU-Kommission hatte den Entwurf bereits im Mai 2018 fertiggestellt, doch der Europäische Rat brauchte fast drei Jahre, um sich, und das im letzten Moment, zu einigen. Weder die 2019 abgehaltenen EU-Parlamentswahlen noch der Brexit und seine Auswirkung auf das EU-Budget erklären diese Blockade. Die Verzögerung hatte mit dem Widerstand einiger Mitgliedsländer gegen die von der EU-Kommission verlangte Erhöhung des EU-Budgets zu tun. Dieser politische Widerstand wurde noch härter, als die EU-Kommission im Mai einen teilweise kreditfinanzierten Plan zum Coronavirus-Wiederaufbau vorstellte – und damit die „Frugal Four“ auf den Plan rief.
Der Europäische Rat wurde dadurch zu einem Schauplatz beschämender populistischer Intrigen, die das System der Entscheidungsfindung in der EU insgesamt in Frage stellen. Dabei sollte man aber nicht nur die mediatisierten Treffen, auf denen die Staats- und Regierungschefs ihre – immer weniger überzeugende – Kompetenz bei der Lösung der großen europäischen Probleme zur Schau stellen wollen, sehen, sondern die permanente, unauffällige Interaktion der Bürokratien in Brüssel, namentlich des 3.500 Personen starken Generalsekretariats mit den Behörden in den Hauptstädten und die wöchentlichen Sitzungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter (COREPER), in denen das Tagesgeschäft des Rats erledigt wird.
Während der Europäische Rat monatelang paralysiert war, legte das Europäische Parlament im Mai eine bemerkenswerte Alternative vor, indem es einen Beschluss verabschiedete, in dem eine deutliche Erhöhung des EU-Budgets und ein glaubwürdiger Europäischer Konjunktur- und Transformationsfonds in Höhe von 2,0 Billionen Euro gefordert wurden, für deren Finanzierung eine autonome Grundlage geschaffen werden sollte. Als mögliche Quellen wurden eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage, eine Besteuerung digitaler Dienstleistungen, eine Finanztransaktionssteuer, Einnahmen aus dem Emissionshandelssystem, ein Kunststoffbeitrag und ein Kohlenstoff-Grenzausgleichsmechanismus vorgeschlagen.
Die Resolution des Europäischen Parlaments hat aufgrund des fehlenden legislativen Initiativrechts und auch aufgrund des feigen politischen Verhaltens der Mehrheitsfraktionen im Parlament nur symbolische Bedeutung. Dennoch wurde deutlich, dass die Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf das direkt gewählte Parlament die Alternative zum Europäischen Rat ist, welcher durch nationalistischen Populismus gelähmt wird.
In der zweiten Jahreshälfte 2021 wird die vom Europäischen Rat, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament gemeinsam geleitete Konferenz über die Zukunft Europas eröffnet, die eine wegweisende Reformagenda für den Integrationsprozess vorlegen soll.
Der Weg bis hierher war schon schmerzhaft und langwierig. Demensprechend hoch muss man die Erwartungen an den Prozess ansetzen, der ein neues Regelwerk für die Ziele, den Aufbau und das Funktionieren der EU vorlegen muss, soll er nicht als ein weiteres Beispiel des Scheiterns in die Geschichte der Integration eingehen.
Bereits 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission, damals unter dem Vorsitz von Jean-Claude Juncker, das Whitepaper zur Zukunft Europas. Darin werden die grundsätzlichen Optionen für die Zukunft der Europäischen Union einigermaßen realistisch dargelegt: a) der Rückzug auf den Nationalstaat, b) der Rückbau der EU zu einer Freihandelszone ohne weitere soziale oder politische Integration und c) die Auslösung einer öffentlichen Debatte, die zu einem Quantensprung der Integration führen sollte.
Im September desselben Jahres kündigte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in einer Grundsatzrede an der Sorbonne die Initiative für Europa an und forderte unter Hinweis auf die Defizite der EU eine „Neugründung Europas“! Doch nur wenig später, als sich die deutschen und französischen Regierungschefs in Paris zum 55. Jubiläum des Élysée-Vertrags, dem Symbol der deutsch-französischen Freundschaft, trafen, enthielt die Abschlusserklärung nichts von Macrons ambitionierten Vorschlägen. Und so war die Debatte vor den Wahlen zum Europäischen Parlament zum Stillstand gekommen.
Selbst die radikalen linken Parteien, die hauptsächlich in einem nationalstaatlichen Rahmen agieren, zeigten kaum Interesse an einer grundlegenden Debatte über die europäische Integration, was zumindest teilweise auf die Enttäuschung des pro-europäischen Optimismus durch die Niederlage von Syriza in der Konfrontation mit der Troika zurückgeht. Ein Ergebnis der deutlich gewordenen Gleichgültigkeit gegenüber der europäischen Politik waren die schlechten Ergebnisse, die die linken Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in fast allen EU-Ländern erzielten.
Die Desillusionierung über die EU, die auch die Linke erfasst hat, hat Gründe. Andererseits ist aber das Versagen der EU in der Sozial- und Klimapolitik auch nicht wirklich überraschend, da die Integration kapitalistischer Staaten in einer Union nicht anders erfolgen kann als primär über Märkte, die kein Sensorium für die langfristigen Entwicklungserfordernisse der Gesellschaften haben. Überraschend ist vielleicht nur die Überraschung, die das noch immer allenthalben hervorruft.
Der Integration über Märkte stand jedoch von Anfang an eine politische Gegentendenz gegenüber, die die Einbettung der Märkte durch demokratische Institutionen forderte, eine Tendenz, die seit den 70er-Jahren – kritisch – unterstützt wurde vom Eurokommunismus, einschließlich seines linken Flügels, der Europa als eines der Elemente seiner Strategie des demokratischen Weges zum Sozialismus betrachtete.
Schon in die 1951 von Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und Deutschland gegründeten Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die das Ruhrstatut ablöste, mit dem nach dem Krieg die westdeutsche Schwerindustrie unter Kontrolle der Alliierten gestellt worden war, war der Gegensatz zwischen der Installierung eines freien Marktes und der Schaffung einer Hohen Behörde mit dirigistischen Befugnissen eingeschrieben.
Die Geschichte der europäischen Integration besteht aus dem Zusammenstoß dieser beiden Tendenzen.
Der Konflikt zwischen Politik und Markt erreichte 1984 einen Höhepunkt, als das erste direkt gewählte Europäische Parlament den unter der Leitung von Altiero Spinelli verfassten Entwurf des Vertrags zur Gründung der Europäischen Union annahm. Er sah die Unterordnung der europäischen Marktwirtschaft unter soziale Ziele vor – explizit genannt wurden Vollbeschäftigung, die Überwindung von Ungleichheit, Umweltschutz und kultureller Fortschritt. Zudem sollte die Initiative bei der Gestaltung und Weiterentwicklung der Union auf das Europäische Parlament verlagert werden.
Was dann aber folgte, stand im völligen Gegensatz zu Spinellis Bestrebungen. 1985 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs die Einheitliche Europäische Akte mit dem Ziel der schnellen Verwirklichung eines allumfassenden europäischen Binnenmarktes, was einen Sieg der marktwirtschaftlichen Tendenz bedeutete. Als sich die Staats- und Regierungschefs 1992 zum Gipfeltreffen in Maastricht trafen, nachdem sich die weltwirtschaftliche und geopolitische Lage durch den Triumph des Neoliberalismus und die historischen Ereignisse von 1989f. grundlegend verändert hatte, entschlossen sie sich, diesen Sieg mit der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion nach Maßgabe der berühmten „Konvergenzkriterien“ zu besiegeln.
Der Konflikt flammte 2005 wieder auf, als die Staatschefs ihr ehrgeiziges Projekt einer europäischen Verfassung in einigen Ländern zu Volksabstimmungen vorlegen mussten, die in Frankreich, den Niederlanden und Irland in Ablehnungen resultierten. Dass die gescheiterte Verfassung zwei Jahre später von einer Regierungskonferenz unter Umgehung des „Risikos“, sich neuerlich an die Bevölkerungen zu wenden, als Vertrag von Lissabon verabschiedet wurde, hat das Ansehen der EU sicher nicht verbessert.
Der jüngste dramatische Höhepunkt im Kampf zwischen Markt und Demokratie kam 2015, als Syriza in Griechenland an die Regierung kam und versuchte, aus der Zwangsjacke der neoliberalen Austeritätspolitik auszubrechen. Die Härte, mit der dieser Versuch von den Gläubigern niedergeschlagen wurde, und die Brutalität der Sparprogramme, die Griechenland aufgezwungen wurden – viel härter als die in Irland und Portugal – entsetzte viele Menschen in ganz Europa; aber es frischte auch die Differenzen der Haltungen gegenüber der EU wieder auf, die innerhalb der radikalen Linken immer schon bestandern hatten.
Die Europäische Linke, wie die Linken der einzelnen Länder, ringen schon seit geraumer Zeit mit der Frage, welches Ausmaß und welche Form europäischer Zusammenarbeit oder Integration geeignet ist, dem Kapitalismus von heute zu begegnen, und ob die EU dazu überhaupt einen geeigneten Rahmen abgibt.
Es ist eine Tatsache, dass sich die seit langem bestehende Desillusionierung über die Europäische Union in bedeutenden Teilen der radikalen Linken zur These der Nicht-Reformierbarkeit der EU verfestigt hat.
Die unterschiedlichen, zum Teil kontroversen Positionen sind, wie ein Blick auf die politische Landschaft der Linken zeigt, weit weniger ideologischer Natur, als dass sie unterschiedliche Bedingungen und Erfahrungen in den verschiedenen Ländern widerspiegeln.
Dabei heißt es nur, das Offensichtliche auszusprechen, wenn man darauf verweist, dass die wesentlichen Machtbasen der Linken in den Nationalstaaten zu finden sind. Das ist jedoch ein zweischneidiges Schwert, denn wie die Niederlage der Syriza-Regierung in der Auseinandersetzung mit der Troika beweist, ist die Achillesferse jeder fortschrittlichen politischen Konzeption das Risiko, im nationalen Rahmen isoliert zu bleiben.
Unumstritten ist, dass in allen denkbaren Systemen der europäischen Integration die Nationalstaaten heute und auf absehbare Zeit die wichtigsten politischen Mittel zum Eingriff in den kapitalistischen Reproduktionsprozess zur Verfügung stellen. Folgerichtig fordern und verteidigen linke Parteien, die über reale Machtoptionen verfügen, die demokratische Selbstbestimmung ihrer Völker. Das impliziert das Recht eines jeden Landes, auch aus der EU und dem Euro auszutreten, sowie das Recht jeder fortschrittlichen Regierung, jene Regeln zu missachten, die das Wohlergehen ihrer Staaten und Gesellschaften behindern. Andererseits, wenn sich die Linke im nationalen Rahmen die strategische Aufgabe stellt, die Souveränität der Völker zurückzugewinnen, dann kann das nicht in nationaler Konkurrenz, sondern nur in gegenseitiger Unterstützung gegen die Finanzmärkte gelingen. Dafür braucht es Strukturen und demokratische Institutionen, die heute nicht oder nicht mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet zur Verfügung stehen.
Ein chaotischer Zusammenbruch der EU ist trotz wachsender desintegrativer Tendenzen, zumindest unter Friedensbedingungen ein unwahrscheinliches Szenario. Was sich hingegen als Möglichkeit abzeichnet, ist ein Zustand der dauerhaften Lähmung der Institutionen, die sich dadurch als immer weniger fähig erweisen, drängende soziale und ökologische Probleme zu lösen, was wiederum dem Rechtspopulismus und Nationalismus Öl ins Feuer gießt.
In diesem Szenario droht auch die Konfliktlinie, die Europa während des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilte, zwischen einem mitteleuropäischen Block unter der Führung Deutschlands und einem westeuropäischen, von Frankreich angeführten Block wiederaufzuleben, diesmal jedoch in einer Welt, die noch viel komplexer und gefährlicher ist als jene der Zwischenkriegszeit.
Es ist sicher, dass keine der beiden Aussichten – weder der abrupte Zerfall der EU noch ihre innere Lähmung – günstige Bedingungen für die Linke schaffen würde. Deswegen müssen die Linken das falsche Dilemma zwischen europäischer und nationalstaatlicher Strategie überwinden.
Es braucht langfristige, belastbare staatenübergreifende Zusammenarbeit für die Durchsetzung einer öko-sozialen Reformagenda mit der Stärkung der sozialen Infrastrukturen, der Überwindung der Geschlechterungleichheit, dem Wiederaufbau und der ökologischen Umgestaltung der europäischen Industrien, der Beseitigung regionaler Ungleichheiten, dem Aufbau effektiver Energie- und Verkehrsnetze, und schließlich der Mobilisierung der dazu erforderlichen Finanzkapazitäten, die den Rahmen des aktuellen EU-Budgets weit übersteigen.
Doch das europäische Programm der radikalen ökosozialistischen Linken muss mehr enthalten als Forderungskataloge von Gewerkschaften, NGOs und sozialen Bewegungen; es muss ein politisches Programm sein, das mit anderen Programmen um die politische Führung konkurriert.
Eine tatsächliche Konkurrenz verschiedener politischer Programme auf europäischer Ebene erfordert eine europäische Demokratie, die den sozialen, politischen und kulturellen Konflikten einen öffentlichen und institutionellen Rahmen bereitstellt.
Bei der Schaffung eines solchen Rahmens müssen zwei Probleme im breitest möglichen Konsens gelöst werden: a) die Schaffung einer vernünftigen Aufteilung der Kompetenzen zwischen den Nationalstaaten als der gewachsenen Form der europäischen Demokratie und der EU als neuer, überstaatlicher Form der Demokratie und b) die Übergabe der europäischen Souveränität an ein frei gewähltes Europäisches Parlament.
Das Argument der Liberalen – dass die Mängel der europäischen Demokratie auf das Fehlen einer europäischen öffentlichen Meinung zurückzuführen seien – ist eine schwache Ausrede. Richtiger wäre zuzugeben, dass die europäischen Zivilgesellschaften nur über begrenzte Möglichkeiten verfügen, die europäische Politik zu beeinflussen. Verantwortlich dafür ist, dass bei der Entscheidungsfindung der EU nicht konkurrierende Programme unterschiedlicher sozialer Akteure, sondern nationale Konkurrenzen ausschlaggebend sind, die ihrerseits die bestehende Machthierarchie unter den Staaten zum Ausdruck bringen.
Heute existiert die EU als ein seltsamer Hybrid: Sie hat die mächtigste Freihandelszone der Welt geschaffen und durch eine gemeinsame Währung ergänzt. Beides verlangt die Einbettung in einen demokratischen institutionellen Rahmen.
Die EU verfügt über ein direkt gewähltes Parlament, aber über kein einheitliches Wahlrecht. Es existieren politische Parteien auf europäischer Ebene, aber diese treten nicht mit einer gemeinsamen Parteiliste zu den Wahlen an.
Die grundlegende Funktionslogik der EU ist von einem Übergewicht der Europäischen Kommission und der nationalen Regierungen geprägt, was das Europäische Parlament, das weder Gesetze initiieren noch über die Budgethoheit verfügt, gegenüber den Exekutivgewalten in die zweite Reihe verweist.
Damit ähnelt der in der EU verwirklichte Parlamentarismus nicht den checks and balances in einem parlamentarischen Zweikammernsystem, sondern dem Kompromiss, in dem sich im aufgeklärten Absolutismus Monarchen und Parlamente die Macht geteilt haben.
Erst recht aus der Perspektive eines demokratischen Übergangs zu einer postkapitalistischen Gesellschaft kommt der Erweiterung der Demokratie eine entscheidende Bedeutung zu. Die Partei der Europäischen Linken würde der Demokratie und sich Gutes tun, würde sie vorschlagen, dass ihre Mitgliedsparteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament auf einer gemeinsamen Liste kandidierten, die es den Bürgern und Bürgerinnen erlaubt, Kandidaten und Kandidatinnen aus allen Staaten zu wählen, und so ein internationalistisches Votum abzugeben.
Von den englischen Chartisten über Lassalle bis hin zur Einführung des Frauenwahlrechts in Europa; der Aufstieg des Sozialismus ist untrennbar verbunden mit dem Kampf für die Einschränkung der Macht der Exekutivgewalten und die Übertragung der Souveränität auf die Parlamente, die durch allgemeine und gleiche Wahlen gewählt werden. So unvollständig und mangelhaft diese Demokratie im Nationalstaat ist, auf EU-Ebene ist sie bis heute nicht voll erreicht worden.
Wer, wenn nicht die radikale Linke, sollte dem Aufruf folgen, für sie zu kämpfen.
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