Auf der Suche nach Frieden
Wie soll sich Die Linke im Konflikt um die Ukraine positionieren? Ein Streitgespräch zwischen Christine Buchholz und Wulf Gallert
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Weltbild vieler Linker in Deutschland ins Wanken gebracht. Kann man Frieden doch nur mit Waffen schaffen? Wie sinnvoll sind umfassende Sanktionen? Fragen, die auch die Mitglieder der Partei Die Linke umtreiben. Stellvertretend diskutieren darüber hier zwei Linke-Politiker*innen. Ihr Streitgespräch, in dem es auch um die Rolle Europas und der EU in dem Konflikt geht, erschie zuerst in der Tageszeitung „nd“
Herr Gallert, haben Sie Angst vor Russland?
WG: Ich habe keine Angst vor Russland. Aber ich habe ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich in den Osten gucke und feststelle, dass dort Menschen Furcht haben, dass sich der Krieg ausweiten könnte und sie sozusagen die Nächsten sind. Ich glaube, wir haben die Sorge in den ost- und nordeuropäischen Ländern völlig unterschätzt und nicht ernst genug genommen. Das hören wir auch von der ukrainischen Linken.
Geht es Ihnen genauso, Frau Buchholz?
CB: Ich finde, Angst ist keine Kategorie, mit der wir operieren sollten. Für uns als Linke ist wichtig, dass wir versuchen zu verstehen, was gerade in der Ukraine, in Osteuropa passiert: Es ist ein imperialistischer Krieg, den der russische Präsident Wladimir Putin vom Zaun gebrochen hat. Und gleichzeitig sehen wir, dass dieser Angriffskrieg gegen die Ukraine auch ein Krieg um die Ukraine ist, dass er also mehr und mehr den Charakter eines Stellvertreterkrieges angenommen hat. Und das ist eine Situation, in der die Eskalation angelegt ist. In diesem Sinne sorge ich mich natürlich darum, was passiert. Was für uns als Linke meines Erachtens heißen muss, sich gegen den Krieg Russlands zu stellen, aber gleichermaßen auch gegen die Eskalation durch die Nato. Es ist doch offensichtlich, dass der Krieg durch die Waffenlieferungen an die Ukraine, die militärische Beratung Kiews, die Geheimdienstzusammenarbeit und, und, und auch ein Krieg der Nato geworden ist. Das ist eine wahnsinnig gefährliche Situation. Es gibt übrigens auch ukrainische Linke, die durchaus differenzierte Positionen zu der von Wulf zitierten Kritik haben und viel stärker auch die Rolle der Nato und der Klassenwidersprüche innerhalb der Ukraine herausarbeiten.
WG: Also, wir reden über den Krieg eines russischen Aggressors auf einen Staat, der nicht Mitglied der Nato ist, der mit brachialer militärischer Gewalt überfallen wird, der womöglich vernichtet wird. Und innerhalb von drei Minuten haben wir nur noch ein Thema, und zwar die Nato. So in der Diktion: Ja, Russland hat die Ukraine überfallen, war nicht in Ordnung. Aber der schlimme Finger ist doch die Nato! Dazu sage ich: So geht das nicht! An dieser Stelle müssen wir uns erst mal über den Charakter des Krieges – da stimme ich Christine ausdrücklich zu – unterhalten. Und dann müssen wir in einem nächsten Schritt, auch in einem anderen Kontext, über die Wirkung von Nato, Nato-Mitgliedschaft und deren Agieren sprechen. Die These, dass das Wirken der Nato in den letzten 30 Jahren mehr oder weniger die Hauptursache dieses Krieges ist, halte ich nicht für richtig. Ich glaube sehr wohl, dass es Rahmenbedingungen gegeben hat, die von der Nato geschaffen wurden, die eine solche Entwicklung begünstigt haben. Aber die primäre Ursache des Überfalls auf die Ukraine ist nicht bei der Nato zu suchen, sondern im imperialen Anspruch Russlands, oder besser: des russischen politischen Systems. Denn ich halte es auch für falsch, diesen Kurs auf Putin zu verkürzen. Wir können gern über den imperialen Charakter der Nato sprechen. Aber bitte nicht als Ursache für diesen Krieg. Wir haben einen Aggressor und wir haben ein Opfer. Deshalb wehre ich mich auch gegen diese These eines Stellvertreterkriegs.
CB: Du drehst mir das Wort im Mund um, Wulf. Wir sind uns in der Ablehnung des Überfalls und in der Verurteilung von Putins Agieren, auch in der Anerkennung, wer Opfer und wer Täter ist, absolut einig. Ich finde aber, dass es offensichtlich ist, dass der Krieg mehr und mehr auch zu einem Stellvertreterkrieg geworden ist. Ich beziehe mich jetzt gar nicht mehr auf die Vorgeschichte des Krieges und die Frage des EU-Assoziierungsabkommens und all das, was im Vorfeld gelaufen ist. Aber jetzt, ein Vierteljahr nach Beginn des Krieges, muss man doch sagen, dass mit den Waffenlieferungen, der engen militärischen Kooperation, der logistischen Unterstützung der Ukraine die Interessen des Westens militärisch abgesichert werden. Damit wird der Ukraine-Krieg mehr und mehr auch ein interimperialistischer Krieg. Ich glaube nicht, dass es die Aggressivität Putins oder seine Großmachtideen oder der autoritäre Charakter des russischen Regimes sind, die hinter dem Konflikt stecken, sondern dass wir es mit einem innerimperialistischen Konflikt zu tun haben. Imperialismus bedeutet ja nicht, dass es »böse Staaten« gibt, sondern beschreibt ein globales System, wo geopolitische und auch wirtschaftliche Interessen sich überschneiden und in einen Konflikt geraten. Daher meine ich, dass wir es nicht mehr »nur« mit einem Angriffskrieg zu tun haben, sondern mit einem Stellvertreterkrieg. Daher fände ich es falsch, wenn wir als Linke jetzt Abstriche an der Kritik des Charakters und der Rolle der Nato machen würden.
Dass viele Menschen – und auch Staaten, wenn man auf die bislang bündnisfreien Länder Schweden und Finnland schaut – die Nato heute in einem anderen Licht sehen, liegt auch daran, dass kaum jemand ernsthaft mit dem Überfall gerechnet hat. Und daran, dass es praktisch keine Ideen gibt, wie dieser Krieg schnell und gerecht beendet werden kann. Welchen Sinn dabei Waffenlieferungen an die Ukraine machen, ist ja auch in der Linkspartei heftig umstritten. WG: Ich möchte noch mal deutlich sagen: Wir reden über den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Und ich halte die Debatte um eine linke Antwort auf die Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine für notwendig. Wir befinden uns in einer ganz konkreten Situation, und die heißt Krieg. Da nützen mir abstrakte Appelle und Formeln relativ wenig, sondern wir brauchen eine Antwort, die auch mich selber überzeugen würde. Und da ist es interessant, wie die beiden Linksparteien in Finnland und Schweden auf den Antrag auf Nato-Mitgliedschaft ihrer Länder reagiert haben. Sie sind darüber überhaupt nicht glücklich und betrachten das als schwere politische Hypothek für sich selbst. Die finnischen Linken haben im Parlament mehrheitlich dem Nato-Beitritt zugestimmt und werden auch in der Regierung bleiben, obwohl die Nato-Mitgliedschaft programmatisch ihren Grundsätzen widerspricht. Sie sagen, wir müssen die Situation wegen der russischen Aggression neu bewerten. In Schweden lehnt die Linke einen Nato-Beitritt ab, unterstützt aber eine starke Aufrüstung, eine starke Selbstverteidigung des schwedischen Staates. Das zeigt doch, dass uns mit Blick auf eine europäische oder globale Sicherheitsarchitektur nicht mehr mit Floskeln retten können. Was die schwedische Linkspartei vorschlägt, kann nicht wirklich unsere Option sein. Das ist die Einleitung eines Wettrüstens. Deswegen glaube ich, dass wir tatsächlich über eine Alternative zur Nato ernsthaft diskutieren müssen. Wie können wir zum Beispiel gegenseitige Sicherheitsgarantien praktisch realisieren? Über die Beistandsklausel im EU-Vertrag? Über die Schaffung einer europäischen Armee, die kleiner ist als die Summe der Armeen ihrer Mitgliedsländern und strukturell nicht angriffsfähig ist?
Das bedeutet aber praktisch die weitere Militarisierung der EU, die von der Linken abgelehnt wird.
CB: Ja. Aber ich glaube auch, Wulf und ich definieren die Aufgabenstellung für Die Linke unterschiedlich. Noch mal zurück: Wir sind momentan in einer brandgefährlichen Situation, die Putin mit seinem Angriffskrieg heraufbeschworen hat. Gleichzeitig sehe ich, wie unsere Bundesregierung das aufgreift. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Außenministerin Baerbock sagt, Russland soll nicht wieder auf die Beine kommen. Wir haben den heißen Krieg und den brutalen militärischen Angriff in der Ukraine, und wir haben den wirtschaftlichen Krieg, der gleichzeitig stattfindet. Die Bundesregierung nimmt den Ukraine-Krieg zum Anlass, um Dinge, die seit 30 Jahren vorbereitet werden, jetzt im Handstreich umzusetzen: die massive Aufrüstung, die Kampfdrohnen, das offene Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe. Es ist die Aufgabe der Linken, das einzuordnen und zu kritisieren. Wir haben grundlegende politische Forderungen nach einem kollektiven Sicherheitssystem, was immer in einer gewissen Abstraktion geblieben ist und vermutlich weiter bleiben wird. Ich glaube, unsere Aufgabe ist es, diese Militarisierung zu bekämpfen und die Situation des Krieges und der Realität des Imperialismus zu erklären. Es gibt eine Art Nachkriegskonsens, eine antimilitaristische Grundstimmung in der Bevölkerung. Und es ist in den letzten 30 Jahren ein erklärtes Ziel aller Bundesregierungen gewesen, diesen Antikriegskonsens zu brechen und eine Akzeptanz der Aufrüstung, der Auslandseinsätze herzustellen. Wir als Linke sollten dieses Spiel nicht mitspielen, sondern uns kritisch auch zur Rolle der Bundesregierung positionieren. Es ist die Aufgabe der Linken, über den Charakter des Krieges aufzuklären und die Wirkungen der Politik der Regierung, der Nato und der EU zu kritisieren. Und es ist unsere Aufgabe, einen Beitrag zum Aufbau einer Antikriegsbewegung zu leisten, die sich ganz zentral auch gegen die massive Aufrüstung stellt.
WG: Christine, da muss ich widersprechen. Also wir haben ja nun überhaupt keinen Dissens bei der Ablehnung des 100-Milliarden-Rüstungspakets. Und es gibt ja durchaus in der Bevölkerung einen nicht so kleinen Teil, der das genauso sieht. Interessant ist doch aber, dass wir trotz alledem in dieser Debatte überhaupt nicht wirkmächtig werden. Weil die zentrale These der Bundesregierung ist, wir brauchen diese 100 Milliarden Euro, ansonsten wird das mit dem Putin permanent so weitergehen. Nun halten wir diese These gemeinsam für falsch. Das Problem ist nur: Wir liefern keine vernünftige Alternative. Wir sagen, die Arbeiterklasse in Russland muss den Krieg und Putin mit ihren Protesten stoppen. Nur, das tut sie nicht. Wahrscheinlich ist es so, dass es in der Bevölkerung Russlands sogar eine überwiegende Zustimmung zu diesem Krieg gibt. Und nun fragen uns die Leute: Wie wollt ihr den Krieg dann beenden? Und wenn wir ihnen diese Frage nicht beantworten, kommen wir mit unserer Antiposition zu den 100 Milliarden nicht wirklich an.
Ist die Beantwortung dieser Frage Aufgabe der Linkspartei?
WG: Da haben Christine und ich ein unterschiedliches Parteienverständnis. Ich kann akzeptieren, dass man sagt: Wir als Linke haben die Aufgabe, gegen die Position der Bundesregierung zu sein, das reicht. Mein Parteienverständnis ist aber ein anderes: Ich möchte sagen können: Hier ist das linke Konzept für Sicherheit, auch für einen Fall, wie wir ihn jetzt haben. Und deswegen diskutiere ich über den 42/7, also den Beistandsparagrafen im EU-Vertrag.
Es gibt auch in der Linken die Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine. In der Linkspartei ist praktisch niemand für schwere Waffen, aber für Verteidigungswaffen haben sich schon einige Prominente ausgesprochen. Sollte Deutschland Waffen liefern, und wenn ja, welche?
WG: Da befinden wir uns in einem Dilemma. Es gibt doch drei Optionen in diesem Krieg. Erstens: Russland wird in der Ukraine besiegt. Und da frage ich: Wollen wir nicht, dass der Aggressor verliert? Ich will zumindest, dass er nicht gewinnt. Dagegen steht allerdings die nicht zu übersehende Eskalationsgefahr, sowohl was die territoriale Ausweitung des Krieges anbelangt, als auch die Intensität bis hin zu Atomwaffen. Denn eine solche Niederlage Russlands würde im Kreml Reaktionen auslösen, die niemand prognostizieren kann, und würde wahrscheinlich auch ein direktes Eingreifen der Nato voraussetzen. Option zwei wäre: Morgen ist der Krieg zu Ende, wenn die Ukraine kapituliert. Das mag wahr sein. Aber ich kann mich als Deutscher nicht hinstellen und sagen: Kapituliert mal, so schlimm wird das nicht. Dann zeigen die Ukrainer zu Recht nach Butscha, zitieren den russischen Ruf nach Auslöschung der ukrainischen Identität. Die Konsequenz eines Siegs Putins wäre übrigens, dass er in fünf, sechs Jahren diese »erfolgreiche« Lernkurve wiederholt, in Transnistrien, im Baltikum, in Polen, oder zumindest permanent damit droht. Die dritte Option: Es gibt permanent militärische Unterstützung für die Ukraine durch den Westen, die letztlich zu einem Stellungs- und Zermürbungskrieg führt. Und der findet auf dem Territorium der Ukraine statt. Der wird in der Konsequenz – und das kann man schon als westliche Strategie unterstellen, da unterscheiden wir uns in unserer Einschätzung nicht, Christine – dazu führen, dass Russland so geschwächt wird, dass es weder ökonomisch noch politisch noch militärisch in irgendeiner Art und Weise für jemand anderen in absehbarer Zeit ein Problem darstellt. Nur: Alle drei Optionen sind am Ende zynisch. Trotzdem muss sich eine politische Partei entscheiden. Und da sage ich: Zur Zeit sprechen mehr Argumente gegen Waffenlieferungen.
CB: Ich stimme Wulf zu, dass wir uns gegen Waffenlieferungen aussprechen sollen. Das fordert übrigens auch der Vorstand in seinem Leitantrag zum Parteitag. Die CDU macht Druck, dass noch mehr und schneller geliefert wird, die USA und die EU entscheiden praktisch im Wochentakt über neue Rüstungslieferungen und Sanktionspakete. Es stimmt, es gibt ja bereits einen Stellungs- und Zermürbungskrieg, der auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung und sowohl der ukrainischen Soldaten und Freiwilligen als auch der russischen Soldaten ausgetragen wird. Ich sehe auch die Gefahr einer Ausweitung des Krieges; es kommen ja fast täglich neue Ziele hinzu, beispielsweise die Transportwege für die Waffenlieferungen. Eine Unterscheidung zwischen offensiven und defensiven Waffen macht militärisch keinen Sinn. Denn beide Waffenarten können sowohl für den Angriff als auch für die Verteidigung eingesetzt werden. All das führt mich zu der Position, gegen die Waffenlieferungen zu sein und zu kritisieren, wie schnell SPD und Grüne den Anspruch einer friedlichen Außenpolitik sowie einer zurückhaltenden Rüstungsexportpolitik aufgegeben haben.
Welche Rolle können bei der Beendigung des Krieges Sanktionen spielen? Können sie einen Regime Change in Moskau herbeiführen?
CB: Einen Regime Change kann es nur von innen und unten geben und niemals von außen. Das Problem ist, dass die Opposition und die Antikriegsbewegung in Russland derart schwach sind beziehungsweise so geschwächt wurden, dass Widerstand von innen praktisch unmöglich erscheint. Aber die Widersprüche sind ja nicht verschwunden. Wir müssen die Sanktionen der Bundesregierung und der EU offensiver kritisieren. Die haben gravierende Folgen für die Bevölkerung – und nützen zugleich Putin. Zu Beginn des Krieges in der Ukraine betrug die Zustimmung in der russischen Bevölkerung etwa 40 Prozent, inzwischen sind es über 80. Wir kennen das aus dem Irak, aus Iran, aus dem Jemen und von anderswo, dass Sanktionen nicht dazu führen, dass die Regime geschwächt werden, sondern dazu, dass sie letztlich noch fester im Sattel sitzen. Hinzu kommen die fatalen Folgen aufgrund des Krieges, aber auch der Sanktionen, die wir im globalen Maßstab haben, was die Nahrungsmittel oder auch die Düngemittel angeht. Daher gibt es übrigens auch in Indien und auf dem afrikanischen Kontinent einen ganz anderen Blick auf diesen Krieg und die »Strafmaßnahmen« als im Westen. Die Sanktionspolitik ist Teil eines Wirtschaftskrieges gegen Russland, der schon lange vor dem Krieg begonnen hat. Wenn wir von Veränderungen in Russland selbst sprechen, stellt sich für mich daher die Frage: Wie können wir linke und Friedenskräfte in Russland stärken? Das ist sehr, sehr schwierig. Aber die Kontakte, die wir haben, müssen wir nutzen. Oder: Wie stärken wir Linke in der Ukraine? Da finde ich es zum Beispiel total verkürzt, immer nur auf die Waffenlieferungen und die Differenzen in dieser Frage zu schauen. Es gibt durchaus andere Punkte, an denen die Linke unsere Unterstützung braucht: in der Frage des Schuldenerlasses oder der Verteidigung des Arbeitsrechts, das unter dem Kriegsrecht gerade ausgehöhlt wird, bei der Bekämpfung des Nationalismus, der unter Kriegsbedingungen stärker wird. All das sehe ich als eine originäre Aufgaben der Linken, die wir hierzulande bekannt machen müssen. Auch was den Klassencharakter des ukrainischen Staates anbelangt. Diese Aspekte werden vom politischen Mainstream ausgeblendet. Dort erscheint die Ukraine als monolithischer Block und Präsident Wolodymyr Selenskyj als die Verkörperung der ideellen Gesamt-Ukraine. So werden die Widersprüche nicht sichtbar. Wulf stellt fest, dass die Linke nicht wirkmächtig wird. Die Frage ist: Warum? Ich glaube, das liegt daran, dass wir schon seit einiger Zeit total verdruckst reagieren und nicht offensiv unsere Position artikulieren. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, hier eine Minderheitsposition zu vertreten. Ich bin überzeugt, dass wir damit im Lauf der Zeit durchaus Bündnispartnerinnen und -partner gewinnen können. Gerade auch, weil die Effekte des Krieges und der Sanktionen, Stichwort Inflation, erst langsam in der Bevölkerung ankommen. Diese Fragen zu verbinden, wäre ein wichtiges Signal an die Bevölkerung. Und zugleich eine Stärkung der Position von Linken beispielsweise in der Ukraine oder auch der Friedenskräfte in Russland.
WG: Da habe ich wirklich eine andere Sicht. Ich denke schon, es muss Anspruch einer politischen Partei sein, wirkmächtig zu sein. Und natürlich auch mit eigenen Konzepten überzeugend in der Bevölkerung zu sein. Wenn ich das nicht bin, mache ich als Partei etwas falsch. Und ich sage noch mal ausdrücklich: Zu betonen, wir müssen bei unseren Prinzipien bleiben, auch wenn uns niemand mehr glaubt, ist keine Perspektive. Konkret zur Ukraine: Wir werden auf dem Parteitag wahrscheinlich beschließen, dass wir nicht wollen, dass die Bundesrepublik oder irgendjemand aus dem Westen Waffen an die Ukraine liefert. Und möglicherweise werden wir uns gegen Sanktionen aussprechen, weil sie der wirtschaftlichen Situation hier schaden und auch der russischen Bevölkerung. Aber das kann doch nur eine Ermutigung für Putin sein, so weiterzumachen. Und dann wundern wir uns, wenn uns politische Nähe zum Kreml vorgeworfen wird. Wenn Putin einen Preis für die Aggression zu zahlen hat, dann muss der von außen kommen – von innen kommt kein wirksamer Gegendruck. Und selbst wenn: Wir haben doch in Belarus gesehen, wie ein massiver, von einer Bevölkerungsmehrheit getragener Protest notfalls unterdrückt wird. Ich bin überzeugt, dass innenpolitischer Druck in Russland diesen Krieg nicht aufhalten wird. Sich hinzustellen und zu sagen, wir warten mal, bis die Widersprüche in Russland wirken, ist für mich keine Option. Und deswegen sage ich: Wir brauchen tatsächlich Sanktionen, und zwar wirksame Sanktionen. Da kann es auch um Energieimporte aus Russland gehen. Nicht wir müssen uns der durch Putin angedrohten Drosselung der Exporte Russlands beugen, wir müssen den Hebel selbst in die Hand nehmen und unsere Importe so schnell wie möglich reduzieren. Dass das nicht unproblematisch ist, weiß ich. Das Stichwort der Wirtschaftslage bei uns ist ja schon gefallen – und ja, es wird auch zu sozialen Problemen führen, wenn die Mehrkosten für die Bevölkerung nicht durch Umverteilung von oben nach unten ausgeglichen werden – was unsere zentrale Forderung sein muss.
CB: Wenn wir fordern, dass Sanktionen wirksam sein sollen, ignorieren wir, dass Sanktionen Teil des Wirtschaftskrieges sind, der bereits jetzt dramatische Kollateralschäden nicht nur in Russland, sondern in Zentralasien und vielen anderen ärmeren Ländern hat. Aber wir drehen uns jetzt ein bisschen im Kreis. Ich habe ja bereits gesagt, wie und wofür sich die Linke generell und unsere Partei im Besonderen positionieren muss. Und zwar offensiv. Es ist wichtig, dass auch der Parteitag ein klares Signal sendet. Gegen Russlands Krieg, gegen Aufrüstung, aber auch gegen den Wirtschaftskrieg des Westens.
Stichwort Parteitag. Mit diesem Gespräch wird auch die praktisch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine laufende nd-Serie zu linken Positionen rund um den Krieg beendet. Das Thema wird möglicherweise das zentrale auf dem Parteitag sein. Wird die Partei an der Debatte dazu wachsen oder zerbrechen?
WG: Das werden wir nach dem Wochenende sehen. Und wenn ich das bis hierher Gesagte zusammenfasse: Ich will den Menschen, die mit mir reden, überzeugende Konzepte präsentieren, wie wir einen Aggressor stoppen und künftig einen Krieg besser im Vorfeld verhindern können. Die Position, wir müssen unsere Prinzipien gegen den Mainstream aufrechterhalten, beantwortet diese Frage nicht. Dahinter steht natürlich das generelle Problem, wie wir uns als linke Friedenspartei im 21. Jahrhundert definieren. Wir brauchen dafür ein Konzept und einen Anspruch, die sich politisch umsetzen lassen. Dafür muss der Parteitag die Weichen stellen.
CB: Wir sollten darüber diskutieren, wie der nichtmilitärische Widerstand wirksam werden kann. Und wenn wir als Friedenspartei nach Afghanistan oder nach Mali sehen, dann gibt es viele Gründe dafür, an unserer Position festzuhalten. Nicht aus Dogmatismus, sondern weil wir damit die Realität beschreiben. Zudem stellen uns offensichtlich Leute unterschiedliche Fragen, Wulf. Was ich eher erlebe, ist, dass Leute sagen: Unsere Schulen sind Schrott, in der Pflege fehlt das Geld – wie kann man nur 100 Milliarden für Rüstung ausgeben und gleichzeitig uns erzählen, dass kein Geld da ist? Aber zu der konkreten Frage: Wenn wir tatsächlich die Punkte, in denen wir uns einig sind, ins Zentrum stellen, dann wachsen wir an der Debatte. Das ist auch eine Grunderfahrung der 15 Jahre, die es Die Linke gibt. Wenn wir das Gemeinsame in den Mittelpunkt stellen, dann können wir es auch aushalten, kontrovers über verschiedene Fragen zu diskutieren. Und dann können wir auch gesellschaftlich wieder mobilisierungsfähig werden.
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