„Alibi-Debatten brauchen wir nicht“
Ein Beitrag zur am Sonntag eröffneten Konferenz über die Zukunft Europas von Helmut Scholz und Gerry Woop
Am 9. Mai, dem Europatag, begann eine Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union. Nach einem langwierigen Prozess zur Aushandlung zu Mandat, Form und Arbeitsweise der Konferenz kann jetzt die eigentliche inhaltliche Arbeit beginnen. Bereits jetzt ist klar: Die Konferenz wird nur dann ein Erfolg, wenn die Diskussionsergebnisse ernst genommen werden. Alibi-Debatten brauchen wir nicht. Viele Menschen stellen kritische Fragen zur Europa-Politik und sind bereit, sich konstruktiv für die Stärkung der europäischen Demokratie einzusetzen. Die Ergebnisse des einjährigen Diskussionsprozesses müssen verbindlich sein und in praktische Konsequenzen münden. Das zögerliche Agieren einiger Mitgliedsstaaten, die Ergebnisse der Konferenz lediglich in einen Bericht einfließen zu lassen, schafft kein Vertrauen. Die Linke wird Impulse geben für eine Veränderung der Europäischen Union und für eine vertiefte Integration.
Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen seit der letzten großen, grundsätzlichen und EU-weiten Debatte zur Europäischen Union. Ein Konvent diskutierte einen Verfassungsvertrag. Die Begrifflichkeiten sollten einen deutlichen Schritt vertiefter Integration ermöglichen und zugleich die über den Binnenmarkt hinausgehenden Erfordernisse einer tatsächlichen Wirtschafts- und Währungsunion sichtbar machen. Strukturell wäre die Union ein politisches Gebilde besonderer Art geblieben – ein Zusammenschluss von Mitgliedstaaten mit hohem Verflechtungsgrad durch gemeinsame Institutionen, Regeln und Verfahren. Für reale Vergemeinschaftungen einer Wirtschaftspolitik, deren faktischer Rückwirkungen auf die innenpolitischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Mitgliedsländer, und damit eine mögliche Akzeptanz gab es keinen politischen Willen. Der Verfassungsbegriff und die Grundrechtecharta sollten den Bürger*innen der Union ein deutliches Gefühl von Zugehörigkeit zur Union geben und dies durch ihre neu definierten formalen Rechte im Rahmen einer Verfassung stützen. Gleichwohl war der Verfassungsvertrag insoweit nur ein Symbol als er an der Grundstruktur der Union als Vertragswerk von Staaten nichts änderte. Es war dennoch ein beachtlicher, von oben gesetzter Versuch eines Integrationsschritts, der die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Integrationsprozesse aufzeigen und damit so auch ermöglichen sollte – ohne jedoch die Substanz der neoliberalen Wirtschaftsordnung paneuropäisch zu hinterfragen. Folgerichtig lehnte die Linke in Europa einen solchen „Verfassungsansatz“ mit der Kritik an der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und der offenen Festschreibung nicht eingehegter „freier“ marktwirtschaftlicher Ausrichtung ab. Letztendlich brachten die knapp mehrheitlichen negativen Referenden in den Niederlanden und Frankreich den Verfassungsvertrag zum Scheitern. Die LINKE fand sich bestätigt und beendete sehr schnell die Debatte um eine grundlegende Neugestaltung der europäischen Integration im Sinne Antonio Spinellis Manifest von Ventotene. Es blieb beim allgemeinen, wenn auch durchaus zutreffenden Slogan „Ein anderes Europa ist möglich“.
Großer Erwartungsdruck
Vor diesem historischen Bogen stellt sich heute die Frage auch an die Linke in Deutschland und in der EU, wie sie sich an einer breiten europapolitischen Debatte beteiligen wird und welchen Beitrag sie zum Gelingen einer solchen Konferenz zur Zukunft Europas leisten kann. Der Erwartungsdruck der unterschiedlichen politischen und institutionellen Akteure ist immens groß: Das zeigt schon der lange Aushandlungszeitraum zu Mandat, Form und Arbeitsweise der Konferenz zwischen Rat, Parlament und Kommission. Denn es soll erstmalig ein gemeinschaftliches Unterfangen der drei zentralen institutionellen Pfeiler der EU sein – und darüber hinaus soll diese Konferenz die Verschränkung von repräsentativer und partizipativer Demokratie vornehmen. Viele Akteure gerade im zivilgesellschaftlichen Bereich, aber auch von Wirtschafts- und einzelnen Interessengruppen sind sich einig: Es kann so nicht weitergehen, es braucht dringend eine gründliche Neubestimmung des Integrationsraumes EU und seiner Politik. Darüber hinaus sollen alle Aspekte und Politikbereiche der EU auf den Prüfstand gestellt werden. Allerdings: Zu große Hoffnungen auf Änderungen am Institutionengefüge oder nennenswerte Integrationsschritte sind fehl am Platze, denn die Gemeinsame Erklärung von Rat, Kommission und Parlament zeigt bereits die markierten Begrenzungen. Bis kurz vor Start der Konferenz machten viele Mitgliedstaaten deutlich: Vertragsänderungen sind im Kern nicht gewünscht. Die immer wiederkehrenden Debatten um ein Kerneuropa, eine engere Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei Integrationsschritten durch Staatengruppen je nach Politikfeldern sind aktuell nicht explizit adressiert. Ebenso wenig Stichworte wie Verfassung oder Republik. Es wird also viel von den beteiligten Akteuren in der Plenarebene der Konferenz mit ihren Arbeitsgruppen, vor allem aber von den nach einem Zufallsprinzip ausgewählten Bürger*innen in den vier Bürger*innen-Panels abhängen, ob problematisierende und deshalb neue, durchaus visionäre und zugleich zukunftsfeste Vorschläge sowie konkrete Initiativen für eine Veränderung der heute real existierenden EU zu erwarten sind. Es bleibt auch die Frage, was den französischen Präsidenten – wenige Jahre nach seiner durch Kanzlerin Merkel nie wirklich oder damit nicht positiv beantworteten Grundsatzrede – nun bewogen hat, mit dem Stichwort einer Konferenz zu Zukunftsfragen eine solche Debatte zu initiieren und was er wirklich erreichen will. Innenpolitisch möchte er vermutlich – nach dem bei aller Erfahrung überraschenden – Sieg in den letzten Präsidentschaftswahlen durch einen proeuropäischen Gestus genau daran anknüpfen und den Erfolg wiederholen. Nach Jahren innenpolitischer Auseinandersetzungen und wenig europapolitischem Aufbruch ist dies keine sichere Strategie. Fakt ist, seine Initiative wurde aufgegriffen und wird nun eigene Dynamiken entwickeln. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen, mitzumachen und die Gelegenheit politisch zu nutzen.
Linke Ausgangspunkte
Hier sollen keine linken Grundsatzdebatten ausgeführt werden zur generellen Haltung zur Europäischen Union. Grundlage der Betrachtung ist der faktisch mit den Verträgen über die Europäische Union gegebene Rahmen und die in allen Bereichen vorangetriebene Politik der EU, zu denen konstruktiv Bezug genommen wird. Es geht um linke Politikimpulse, die zugleich auf eine Veränderung der Europäischen Union und auf eine vertiefte Integration hinzielen. Für DIE LINKE waren die zentralen Auseinandersetzungspunkte der letzten Dekaden die gemeinsame Währung in ihren politischen und strukturellen Konsequenzen, die sozialen Defizite infolge von Dumpingwettbewerb, die neoliberale Wirtschaftspolitik sowie die Struktur- und Regionalpolitik und die gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik – alles im Zusammenhang stehende Politikbereiche – und schließlich die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Letztere kann hier nicht vertieft werden, wenngleich sie Gegenstand aktueller Schwerpunkte der Ratspräsidentschaften und der Kommission unter der Überschrift Europas Platz in der Welt ist. Und zweifellos wird diese Politikebene enormen Stellenwert gerade hinsichtlich der außenwirtschaftlichen Aufstellung der EU und ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit erlangen; dies im Bewusstsein der aus Sicht der Kapitallogik zwingend notwendigen Verlängerung der Binnenmarktes in die globale Dimension, der Eigenpositionierung einer Industriepolitik 4.0 im digitalen Zeitalter und der notwendigen tiefgreifenden wirtschaftlichen Umstrukturierungen angesichts von Klimawandel und Zero- Emission-Programmen. Noch scheint es vor allem ein spezielles und vor allem Spezialistenthema zu bleiben, während in anderen Politikfeldern wie der sozialen Dimension oder der Gesundheitsunion intensive und vertiefte Diskussionen zu erwarten sind. Für die LINKE waren in den vergangenen Jahren auch die Aspekte der Migrationspolitik oder besser des Versagens der EU auf diesem Gebiet ein zentrales Thema, das einer Lösung harrt.
Unbedingt hervorgehoben werden muss das Engagement für ein soziales Europa, dass die linke Europapolitik seit jeher prägt. Wie sind angesichts des notwendigen wirtschaftlich-ökologischen Umbaus die sozialen Herausforderungen konkret im gemeinschaftlichen Diskurs und Strukturverständnis einer EU zu beantworten, welche Antworten sind die Mitgliedstaaten angesichts der engen volkswirtschaftlichen Verflechtungen im Binnenmarkt in Bezug auf gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme durch die EU für ein soziales Europa bereit zu geben? Mit der Sozialcharta und den Beschlüssen des Sozialgipfels von Göteborg und den darauf folgenden Prozessen zur Gestaltung und Untersetzung der sozialen Dimension ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, zu dem linke Europapolitiker*innen aus verschiedenen Positionen – parlamentarisch, außerparlamentarisch, wissenschaftlich, aus der Exekutive heraus, auf Ebene der Länder, des Bundes und europäisch – aktiv waren. Das reicht aber bei weitem nicht mehr – wie der konkrete Erlebnisstand vieler Menschen vor Ort heute zeigt. Vielleicht ist mit den Problemen und der zeitweise sehr deutlich gewordenen Unfähigkeit des Neoliberalismus auf all die Fragen von heute adäquate Antworten zur Bewältigung der vielfältigen und z.T. miteinander verschlungenen Krisenprozesse zu geben, eine Situation entstanden, in der diese Entwicklungen möglich und – breiter bis in konservative Kreise hinein – als nötig oder akzeptabel angesehen wurden. Es gab jedenfalls Raum für erfolgreichere linke Politik und substanzielle Veränderungen in der EU. Wenn mit der Konferenz zur Zukunft Europas Debatten in großer Breite zu zahlreichen inhaltlichen Schwerpunkten Debatten geführt werden, entsteht ein wichtiges Zeitfenster besonderer politischer und öffentlicher Aufmerksamkeit für europäische Politik. Ein Zeitfenster das es zu nutzen gilt: „The Future in your hands – Die Zukunft ist in Eurer Hand“ – so allgemein, so richtig sollte gerade die Linke die Konferenz nutzen. Denn hier können und sollten linke Politikinhalte eingebracht werden.
Reale Entwicklung und Lage der Union
Mit dem Brexit verließ erstmals ein Mitgliedstaat die Europäische Union. Dass die zweitgrößte Volkswirtschaft den Integrationsraum verlässt, ist eine ökonomische, aber viel mehr noch politische Zäsur. Die Schwierigkeiten einer Trennung aus dem tiefen Verflechtungsraum sind bis zur Gegenwart der nordirischen Gewaltausbrüche wegen der Ausgestaltung der Grenzregime deutlich zu Tage getreten. Praktisch verschwendeten alle Beteiligten über Jahre wichtige personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen, um die Schäden des Brexit zu minimieren. Die knappe Abstimmung der Menschen im Vereinigten Königreich über Drinbleiben oder Rausgehen widerspiegelte aber auch die riesigen Defizite, die über Jahrzehnte mit dem einseitigen Blick auf wirtschaftliche Vorteile ohne Berücksichtigung der entstehenden Defizite in anderen gesellschaftlichen Bereichen zugelassen wurden. Die Diskrepanz zwischen Wort und Tat, also auch zwischen Botschaft „von oben“ und bitterer Erfahrung „von unten“ stützte letztlich auch radikale Positionen. Zweifellos ein gewichtiger Anlass, die Zukunftskonferenz gerade Bürger*innen gestützt zu starten. Darüber hinaus sei noch einmal festzuhalten: In diese Zeit fielen zugleich auch die Alle bewegenden Herausforderungen der Klimakrise, die Migrationsbewegungen und die Verhandlungen um den neuen Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027.
Letzterer musste mit einem schwierigen und zur Recht kritisierten Kompromiss enden, da er die neuen Herausforderungen im finanziell engeren Rahmen mit den laufenden Aufgaben und vor allem der Kohäsionspolitik zu verbinden suchte. Gerade die Kohäsionspolitik ist traditionell ein Kern des europäischen Integrationsprozesses. Hier geht es – vertraglich vereinbart und verbal immer wieder betont um Angleichungsprozesse mit tiefgreifenden wirtschaftlichen, regionalen und sozialen Wirkungen. Auch wenn die Strukturfonds nicht völlig ausgleichen können, was an Fehlanreizen durch die neoliberale Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion und über viele Jahre der Semester an Problemen in einem Staatenverbund entsteht, so waren die Projekte das Bild der sinnvoll fördernden EU vor Ort bei den Bürger*innen und als erlebbarer sozialer Akteur bei Projekten des Europäischen Sozialfonds. Zumindest in der Fläche aller Regionen werden im Ergebnis der Auseinandersetzungen diese – nun relativ gekürzten – Instrumente weiter wirksam bleiben können.
Mit der weitweiten COVID-19-Pandemie wurde die EU 2020 vor eine völlig neue Situation gestellt. Auf einmal musste sie ihre koordinierende und unterstützende Rolle für die Mitgliedsstaaten in wirtschaftlichen, gesundheitspolitischen und Mobilitätsfragen sowie als globaler Akteur gegenüber den Mitgliedstaaten mit ihren auf nationaler Ebene verbliebenen Kompetenzen neu formulieren und durchsetzen. Nach anfänglichen Friktionen gelang es, mit Marktmacht Impfbestellungen für die Mitgliedstaaten zu gewährleisten und diese solidarisch aufzuteilen. Ambivalent zu bewerten, aber das „Glas ist vielleicht etwas gefüllt und nicht leer“, ist die Beteiligung an den internationalen Bemühungen zur Impfstoffbereitstellung über die WHO und deren COVAX-Initiative, die allerdings über die ungleiche Verteilung in der Welt und die Weigerung gerade der EU zu nötigen Freigaben von Lizenzen nicht hinwegtäuschen darf. Die außerordentliche und am Ende erfolgreiche Beschleunigung von Forschungsaktivitäten wurde unterstützt. Für den Binnenmarkt wurden Regeln angepasst und vor allem wurde ein Wiederaufbauprogram entworfen, dass einzigartig ist in der EU-Geschichte. In kürzester Zeit wurde ein Programm mit 750 Milliarden Euro aufgesetzt, um auf die Pandemie und ihre Folgen zu reagieren. Diese auch im Vergleich zum daneben laufenden Finanzrahmen immense Summe wird teilweise in Zuschüssen ausgezahlt und soll auf der Finanzierungsseite über erstmals durch die EU aufgenommene Kredite finanziert werden. Dieses neue Finanzierungsinstrument ist nicht nur ein erstaunlicher Schritt und war so vor der Pandemie undenkbar oder zumindest unrealisierbar angesichts der Ratifizierungsnotwendigkeiten in allen Mitgliedsstaaten. Mehr noch ist die gemeinsame Übernahme von entstehenden Lasten als Gemeinschaftsaufgabe ein sehr kleiner aber umso wichtiger, erster Schritt hin zu einem Paradigmenwechsel, der mit der parallelen Einigung auf die Einführung von Eigenmitteln für den EU-Haushalt neue Grundlagen für eigenständige Wirtschafts- und Haushaltspolitik der EU für Zukunft schaffen könnte. Deshalb heiß umstritten und politisch zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten umkämpft und sicherlich intensiver öffentlicher Diskussion wert. Daran lässt sich anknüpfen in den weiteren Prozessen, die auf die unmittelbare Pandemiezeit folgen werden und Debatten zu Investitionen, Haushaltsgestaltung und wirtschaftspolitische Orientierung bringen. Nicht zu vergessen ist außerdem, dass das Wiederaufbauprogramm von Anfang an so konzipiert war, dass der Green Deal nicht geopfert oder an klassische Krisenbewältigung angehängt wird, sondern mit dem neuen inhaltlichen Prozess verknüpft ist und obendrein auch die Digitalisierung und technologische Umbrüche noch mitdenkt.
Technologisch zeigten sich in den vergangenen Jahren die Digitalisierungsprozesse als wichtige Elemente der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung – sei es im Dienstleistungsbereich, in der Industrie oder in der Forschung bis hin zu den damit verbundenen Fragen der Datensicherheit und des Datenschutzes.
Als letztes Moment der Rahmenbedingungen zur gegenwärtigen Lage der EU ist die spannungsreiche Diskussion um Rechtsstaatlichkeit zu nennen. Die innenpolitischen Entwicklungen in Polen oder Ungarn, dort konzeptionell noch aufgeladen mit dem Begriff der illiberalen Demokratie, faktisch Einschränkungen von Meinungsfreiheit und die Infragestellung und teilweise Verletzung von Grundmechanismen rechtsstaatlicher Grundsätze, all das zehrt an der politischen und Werte-Substanz der Europäischen Union. Es geht schlicht und einfach im Alltag der konkreten politischen Struktur unserer Länder darum, den sehr oft gar nicht so einfach zu realisierenden, vielmehr überaus widersprüchlichen, Anspruch auf die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaften zu erhalten und die konstitutionell und rechtlich garantierte Möglichkeit für jede*n Einzelnen, an der politischen Entscheidungsfindung mitzuwirken, zu ermöglichen. Die Verfahren der Kommission gegen die umstrittenen Maßnahmen in den genannten Mitgliedsstaaten sind einerseits formal, aber auch zutiefst grundsätzlicher und politischer Natur. In welcher Union mit welchen Grundwerten und gemeinsamen Regeln und Maßstäben wollen wir leben und den Integrationsraum vertiefen. Es ist kein Zufall, dass die betreffenden Regierungen zu den Kritikern der vertieften Integration zählen; die EU als locker Staatenbund, primär als Markt mit Förderprogrammen reicht ihnen. Dies wird sicherlich eine der wichtigen Debattenlinien sein müssen – weil es um unsere Werte, um die kulturellen und historischen Erfahrungen, um Bildung und Kultur, um Informationsgewinnung und -zugänge, um Transparenz und gesellschaftliche Kontrolle geht – vor allem aber auch um das Formulieren neuer Sichten auf Politikausgestaltung quer durch alle sozialen Schichten und demografischen Strukturen und somit um Hoffnungen und gemeinsame Verantwortung für die Gestaltung unserer Gesellschaften geht. Und zweifellos: Ohne politische Union hat die EU langfristig keine Ausstrahlungskraft, innere Stärke und damit Veränderungsmacht.
Möglichkeiten aus der Konferenzdiskussion
Die Darstellung der Rahmenbedingungen sollte sichtbar machen, dass es nicht um ein bloßes Wiederaufnehmen alter Integrationsdebatten geht. Es sind spezifische Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen und konkrete Hürden dabei zu überwinden. Die Europäische Union muss gerade nach dem Verlust eines starken – wenngleich oft auch schwierigen – Mitglieds ihren Wert für die 27 Mitgliedsstaaten und all die in ihnen lebenden Menschen beweisen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass sich Mehrheiten allgemein eine Sozialunion wünschen; dass die Migration gemeinsam und solidarisch gestaltet werden muss, liegt auf der Hand und dass dies auch von der EU zu Recht erwartet wird. Die Erwartung, dass die EU resilienter wird für externe Schocks und Notfälle wie Pandemien, dass gemeinsam in einer Gesundheitsunion geforscht und gemeinsam wie solidarisch gehandelt wird, ist ebenso offenkundig. Auch wirtschaftlich ist verstärkte Kooperation notwendig und nicht zuletzt gilt es, den globalen Herausforderungen auch gemeinsame Lösungen gegenüberzustellen. Insofern bieten die auf dem Tisch liegenden Rahmenbedingungen, die Herausforderungen, die konkreten politischen Themen den Stoff für die Diskussion zur Zukunft der Europäischen Union. Mit der Konferenz wird ein breiter Partizipationsprozess angestoßen, den es aktiv und konkret zu untersetzen und vor Ort sehr praktisch auszugestalten gilt. Thematisch sind keine wirklichen Grenzen gesetzt. Zusätzlich zu den eigentlichen Konferenzstrukturen zeigt eine interaktiv gestaltete, digitale Plattform als der verlängerte Arm der Konferenz in die Gesellschaften aller 27 Mitgliedstaaten und bewusst paneuropäisch aufgebaut zehn Themenbereiche als Kacheln an, in die alle wichtigen Fragen eingebracht werden können. Das sind Andockpunkte für Positionen zu Mindestlöhnen, Mindestregelungen im Sozialschutz, bei Arbeitszeiten, Urlaub, Erziehungszeit, gleichen Löhnen für Mann und Frau, also für Regelungsrahmen, die keinen Dumpingwettbewerb erzeugen. Es sind Themen der Mindestbesteuerung, des Kampfes gegen Steuervermeidung, der Veränderung von neoliberalen Grundkonstrukten in der Wirtschafts- und Währungsunion, der Forschungskooperation und -ausrichtung sowie der Industriepolitik setzbar. Auswahl und Konzentration bei den Diskursakteuren machen dabei durchaus Sinn, am besten in Abstimmung und in Kenntnis der unterschiedlichen Ressourcen und Möglichkeiten.
Es geht also nicht darum, nur Licht und Schatten festzustellen, sondern die Schatten sollten als Erfordernis politischen Agierens gesehen und mit konkreten Vorschlägen bearbeitet werden. Die Aufmerksamkeit dafür ist da, das Interesse der Bürgeri*nnen und der Medien ebenso infolge des breit angelegten und mit einigem Aufwand organisierten Konferenzprozesses über alle Mitgliedstaaten und zahlreiche Institutionen hinweg.
Menschen in allen 27 Mitgliedstaaten und darüber hinaus – es gibt also kein EU-zentristisches geoblocking -, zivilgesellschaftliche Akteure, Verbände, regionale, nationale oder länderübergreifende Initiativen, Gewerkschaften oder auch Parteien und Bewegungen können sich direkt mit ihren Initiativen beteiligen, ebenso Ausschüsse in Landtagen, Landesregierungen, die Europaministerkonferenz, der Bundestag, der Ausschuss der Regionen oder das Europäische Parlament sind sowohl Akteure in der Konferenz als auch mögliche Nutzer*innen der Plattformen, die genutzt werden sollten, diese genannten oder anderen Themen zu transportieren.
Beteiligungsformen
Neben einem lenkenden Exekutivausschuss kommt der Plenarversammlung eine zentrale Rolle zu. Sie ist mit fast 300 Mitgliedern durch Vertreter des Europäischen und der nationalen Parlamente sowie der Zivilgesellschaft, Verbände und Bürgerforen besetzt, um Schlussfolgerungen zu erarbeiten und diese nach gegenwärtiger Vorstellung dem Exekutiv-Ausschuss weiterleiten, der dann wiederum ein Konferenzfazit mit konkreten Empfehlungen für den sich an die Konferenz anschließenden Folgeprozess erarbeiten muss. Möglich sind dazu ein Konvent oder eine andere Form wie die Regierungskonferenz – beides im Lissabon-Vertrag vorgesehen.
Die Bürger:innenpanels mit jeweils 200 Bürger:innen werden per Zufallsprinzip ausgewählt und sollen gender-quotiert und zu einem Drittel jung sein sowie die Vielfalt der Gesellschaften abbilden. Die Arbeit der Panels soll im frühen Herbst beginnen. Für 2021 sind, noch drei Arbeitstreffen geplant. Die Konferenz wie auch die digitale Plattform wird in den 24 EU-Sprachen ermöglicht. Den Bürger*innen-panels werden Berater*innen zur Verfügung stehen, um eine möglichst stringente, offene und sachkundige wie zielorientierte gemeinsame Beratung zu den Themenkomplexen zu ermöglichen.
Neben dem Feedback-Mechanismus, der die Verschränkung der Ebenen und einen gemeinsamen Überblick und gegenseitige Verständigungen zu den zu diskutierenden bzw. jeweils erarbeiteten Themen und Positionen gewährleisten soll, wird auch die Einbeziehung des Diskussionsstandes auf der digitalen Plattform in die Arbeitsprozesse der Konferenz eine wichtige Rolle spielen.
Deshalb sollte gerade dieser öffentliche Arm der Konferenz in die Öffentlichkeit der 27 EU-Mitgliedsländer genutzt werden – um jede Menge eigener Themenangebote, Konferenzen und Debattenrunden sowie konkrete individuelle oder auch kollektive Meinungen und Diskussionsbeteiligungen in und zu den zehn Themenachsen auf den Weg zu bringen und damit in die Konferenz zurückzuspielen.
Perspektiven
Die französischen Ambitionen zielen auf einen schnellen Konferenzablauf. Obwohl die Konferenzplanungen nach zu langen Debatten über das Mandat, den Rahmen und die Leitung leider ein Jahr verschwendet haben, soll im Frühjahr 2022 ein Ergebnis vorliegen. Zugleich sagt alle politische Erfahrung die Eigendynamik eines solchen Prozesses voraus. Wenn die Debatten bei großem Interesse mehr Zeit brauchen, wenn die Vorschläge über den Vertragsrahmen hinausgehen, dann wird es wichtig, im Prozess diese Möglichkeiten zu schaffen. Mit einem Zwischenergebnis 2022 ließe sich das Mandat fortsetzen und anpassen. Mit Empfehlungen der Bürger*innen, der Plenarversammlung und des Exekutivausschusses lässt sich einordnen, welche Ideen in welchem Format und auf welcher Zeitleiste vertieft werden. Bis hin zur Perspektive eines neuen Konvents, der langfristig auch wieder grundsätzliche Reformen entwickelt, wären Optionen zu erörtern. Für die linke europafreundliche Sicht ist das die Herausforderung, den Prozess zu einer sozialen, demokratischeren, friedlichen und solidarischen sowie viel integrierteren Europäischen Union mitzugestalten und in diesem Sinne im Rahmen der Debatten zur Konferenz zur Zukunft Europas zu prägen. Der Ausgang der Debatten ist ungewiss, aber Räume für kritisch-konstruktive Auseinandersetzungen, für überzeugende Argumentationen, für das Ringen um Konsens und Mehrheiten sind da. Und damit die Chancen für sinnvolle Veränderungen; Chancen, die es zu nutzen gilt.
Brüssel, Berlin/Brandenburg, Europawoche im Mai 2021
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