„70 Jahre nach Robert Schuman – wo steht die EU heute?“

„Europa im Salon“ mit Prof. Julia von Blumenthal, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina (Franfurt an der Oder), und dem Europaabgeordneten der LINKEN Helmut Scholz

Es war wieder einmal soweit: Am 2. Juni 2020 fand die jüngste Debatte in der Reihe „Europa im Salon“ statt, veranstaltet von Münzenbergs Erben e.V. und der Europaplattform die-zukunft.eu. Diesmal diskutierten Prof. Julia von Blumenthal, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina (Franfurt an der Oder), und der Europaabgeordnete der LINKEN Helmut Scholz über das Thema: „70 Jahre nach Robert Schuman – wo steht die EU heute?“

Auszüge aus dem Gespräch.  Der Text wurde zur besseren Lesbarkeit bearbeitet.

In der Erklärung von Schumann heißt es ganz ausdrücklich, ein gemeinsames Europa könne nur durch eine »Solidarität der Tat« geschaffen werden. Nun haben wir gerade die Coronakrise erlebt dass diese Solidarität der Tat nicht sonderlich offensichtlich war.

Julia von Blumenthal: Ich denke, wir haben alle gesehen, dass der erste Reflex vieler nationaler Regierungen tatsächlich ein nationaler war. Wir erinnern uns, wie die Bundesregierung als erstes gesagt hat, wir exportieren keine Schutzausrüstungen mehr. Ein Fehler, der dann korrigiert worden ist. Es gab aber auch die Gegenbewegung. Und es gab die Gegenbewegung einmal über individuelle Solidarität, die Aufnahme von französischen und italienischen Schwerkranken in deutschen Kliniken, und es gab auch eine Solidarität und eben gerade grenzüberschreitende Perspektive, die ich nun in Frankfurt/Oder-Slubice sehr hautnah erlebt habe, wo nämlich die Bürgerinnen und Bürger der Doppelstadt einerseits verstanden haben, dass eine solche Pandemie-Situation andere ungewohnte Maßnahmen oft erfordert haben, aber auf der anderen Seite doch deutlich gemacht haben, dass das Trennen ja eher nicht mehr der Fluss die nationalen Grenzen sind, das heißt, dass man neue Ansatzpunkte wählen muss. Also: Ich sehe so ein bisschen beides. Ich sehe den nationalen Reflex, aber ich sehe gleichzeitig eben auch die grenzüberschreitenden Kräfte, die sich zu Wort gemeldet haben.

Helmut Scholz: Ich finde, man muss sofort darüber nachdenken, wer übt eigentlich für wen Solidarität? Können Staaten miteinander Solidarität üben, weil Staaten immer eine bestimmte Struktur darstellen von vielen Menschen mit unterschiedlichen Interessen etc. Und ich glaube, wenn wir über diese Solidarität auch im europäischen oder im EU-Maßstab nachdenken, müssen wir auch sehen, es gab eben die, wie Frau Prof. von Blumenthal gerade gesagt hat, Solidarität der Menschen. Und das ist die Frage, die sich mit Schuman verbindet für mich. Sie ist ja eine Reaktion auch gewesen auf die Erfahrungen der Barbarei des Zweiten Weltkrieges und des Hitlerfaschismus. Altiero Spinelli und andere haben ja mit ihrem Manifest von Ventotene darauf hingewiesen, dass eigentlich die Notwendigkeit darin besteht zu sehen, verfeindete Völker, Menschen miteinander nach dieser Erfahrung wieder miteinander leben zu lassen. Das würde ich eigentlich als die Ursprungsidee für den europäischen Einigungsprozess gerne sehen. Die Frage allerdings ist, und das stimmt, in der aktuellen Krise haben die Staaten zuerst einmal, vielleicht auch quasi ihres Auftrages, an sich gedacht. Da wird deutlich, wir haben eine Riesenbaustelle vor uns.

Haben wir es mit einer Zunahme von Renationalisierungstendenzen in der EU zu tun? Das scheint nicht nur bei Corona der Fall, sondern auch bei der Migrationskrise, der Finanzkrise …

J.v.B.: Ja, es gibt einen Schwerpunkt der Renationalisierung. Das hat ja auch etwas damit zu tun, welche Regierungen gewählt worden sind von Mehrheiten in europäischen Ländern. Ich denke aber, man muss, wenn man auf die Europäische Union guckt, immer sehr sorgfältig zwei Modi der Integration unterscheiden, von denen die Europäische Union von Anfang an gelebt hat, und das eine ist eben genau die Zusammenarbeit der nationalen Regierungen im Sinne auch eines Interessenausgleichs. Und das andere ist das wirklich wahrhaft europäisch Supranationale, was ja erst gewachsen ist über Zeit. Und die zwischen diesen beiden Elementen eigentlich so einer sozusagen stärker europäischen Zusammenarbeit auf Regierungsebene und jetzt einer wirklich europäisch-europäischen Zusammenarbeit, wenn ich sagen darf, für die ja ganz besonders auch das Europäische Parlament steht. Die Balance zwischen diesen beiden Tendenzen hat sich in der ganzen Geschichte der europäischen Integration immer wieder neu austariert. Also insofern ist das vielleicht gar nicht so etwas Besonders, sondern eben eine Phase, in der genau diese intergouvernementale Komponente eben stärker zum Tragen kommt.

Das heißt, Sie sind optimistisch, was die Zukunft der EU anbelangt, auch mit Regierungen eines Viktor Orbán?

J.v.B.: Meinen Optimismus würde ich sicherlich nicht an der Regierung eines Viktor Orbán festmachen, meinen Optimismus würde ich eher festmachen an einer Bundeskanzlerin Merkel, die ja bei den vergangenen Krisen sehr stark auf den intergouvernementalen Modus gesetzt hat, jetzt aber mit Macron zusammen diesen bemerkenswerten Solidaritätsfonds aufgelegt hat, der ja ein Zuschusselement enthält. Also sie hat im Grunde da mit vielem gebrochen, wofür nun gerade auch die CDU in ihrer Europapolitik stand, und das macht mich optimistisch, ja.

H.Sch.: Ob die Bereitschaft bei allen Regierungen, Staatsführungen sozusagen der 27 Mitgliedstaaten wirklich vorhanden ist, gemeinsam aus dieser Krise heraurauszufinden, gemeinschaftlich Strukturen aufzubauen, ist aus meiner Sicht offen. Vielleicht noch mal einen Gedanken zurück: Die Renationalisierung hat sich verstärkt. Ich glaube, sie war nie weg. Also die Bereitschaft, wirklich weitere Politikbereiche oder Bereiche der Gestaltung des Alltags in den Ländern in der Entscheidungsstruktur auch an die EU abzutreten, ist nicht wirklich gewachsen in den letzten Jahren. Und spätestens mit Griechenland-Krise ist ja deutlich geworden: Letztendlich sind immer die nationalen Interessen das entscheidende Momentum gewesen für auch Kompromisse im Europäischen Rat. Vielleicht ist das Europäische Parlament als direkt gewählte Institution doch immer in einer privilegierteren Situation, weil man dort eben unmittelbar miteinander darüber nachdenkt, wie europäische Politik wirklich vorangetrieben werden kann. Und der Rat muss quasi seiner Struktur, seines Amtes eben diese mitgliedstaatliche Interessenwahrnehmung auch vornehmen, da stimme ich Ihnen durchaus zu. Es ist sozusagen der Ist-Zustand, der Status quo des Integrationsprozesses. Und deshalb finde ich es so wichtig, dass die Bewältigung der Covid-19- oder Corona-Herausforderung genutzt wird, um darüber nachzudenken, na, brauchen wir nicht doch nicht nur ein bisschen, sondern viel mehr Gemeinsamkeit.

Es gibt seit Jahren einen anhaltenden Trend, dass die Bürgerinnen und Bürger den europäischen Institutionen, der EU, trauen und sehr viel zutrauen, teilweise mehr als den nationalen Regierungen. Zugleich fühlen sich viele abgekoppelt von den Brüsseler Prozessen, von Transparenz, von Mitentscheidungsmöglichkeiten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Antrittsrede angekündigt, eine große Konferenz zu starten zur Zukunft der EU, in der auch die Bürgerinnen und Bürger gehört werden sollen. Wäre das denn eine Chance, dieses Dilemma aufzulösen?

J.v.B.: Das Grunddilemma, dass eine supranationale Regierungsebene von vielen Menschen als relativ weit weg empfunden wird, kann man nicht vollkommen beseitigen. Weil es ist ja tatsächlich so: In Brüssel wird für 27 Länder entschieden. Das ist vergleichsweise komplex. Man muss auf viele unterschiedliche Perspektiven Rücksicht nehmen. Wir tun uns ja manchmal schon im deutschen Föderalismus schwer, irgendwie damit klarzukommen, dass da eine Regierung ist, die für 16 Länder entscheidet. Auf der anderen Seite ist die Frage, kann dieser Prozess etwas Positives für die Europäische Union tun und für das Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Europäischen Union. Daas denke ich schon, wenn man zwei Prämissen einhält. Das eine ist, man sollte nicht mehr Mitwirkung, Mitentscheidung versprechen, als man hinterher tatsächlich halten kann. Also es sollte eine sehr realistische Perspektive geben, was denn das Ergebnis dieses Prozesses sein kann. Das Zweite: Es sollte dann ein sehr ernsthaftes Feedback zurück an die europäische Ebene geben.

H.Sch.: Bei den letzten Europawahlen haben wieder viel mehr Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgegeben für diese Europäische Union, auch in einer bestimmten Erwartungshaltung an die Politik, dass sich etwas verändert. Es ist ja nicht so, dass jetzt das Jahr 2020 wie ein Einschnitt daherkommt, sondern das ist eine folgerichtige Entwicklung. Und das hat Frau von der Leyen aufgegriffen. Ich glaube, ihr ist bewusst geworden, dass die Art und Weise, wie sie Kommissionspräsidentin geworden ist – und wir waren da als Linke sehr kritisch – auch von ihr ein deutliches Signal in Richtung demokratischere Ausgestaltung der der Art und Weise, wie man in der EU Politik macht, erfordert. Das Europäische Parlament hat von Anfang gesagt, wir sind die Institution, die unbedingt mitmachen will. Wir wollen das bürgerschaftliche Engagement, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger mit einspeisen in den Beratungsprozess. Und deshalb haben wir diese Bürger-Agora ja auch direkt vorgeschlagen. Das kommt ja aus dem Parlament. Ich bin nicht unbescheiden, das Wort kommt sogar von mir.

Was am Ende der Zukunftskonferenz steht, ist offen. Kommission und Rat sind jedoch überzeugt: Ein neuer EU-Vertrag, also die Ablösung des Lissabon-Vertrags, wird es nicht sein. Lassen sich Veränderungen in EU-Europa ohne neuen Vertrag durchsetzen?

H.Sch.: Wir sagen als Linke, ja, wir brauchen eine Veränderung der Verträge. Aber wie kommen wir da hin? Also sobald wir als Parlament sagen würden, selbst mehrheitlich, wir verändern die Verträge, werden wir nicht durchkommen, weil natürlich die Gegebenheiten es gar nicht zulassen, dass die Verträge einfach so in einem Diskussionsprozess verändert werden können. Dazu braucht man eine Regierungskonferenz. Deshalb sagen wir, wir fangen anders an. Wir fangen über die Inhalte an. Wir wollen die mit den Bürgerinnen und Bürgern ergründen und neu definieren. Der Brexit hat ja gezeigt, dass, wenn wir die Bürger nicht mitnehmen und immer nur die Institutionen reden und entscheiden lassen, dann wird die Kluft zwischen der Wahrnehmung und den eigentlichen Steuerungsmöglichkeiten immer größer.

J.v.B.: Darf ich Sie, Herr Scholz, fragen, wozu Sie genau die Verträge ändern wollen? Sie wollen als Europäisches Parlament das Initiativrecht. Ich halte das für überschätzt. Im Deutschen Bundestag hat jede Fraktion das Recht, Gesetzesinitiativen zu starten, und soweit die aus der Opposition kommen, sind das eher Handlungen der Öffentlichkeitsarbeit. Wertvoll, aber eben Handlungen der Öffentlichkeitsarbeit, denn natürlich wird nie ein Gesetzentwurf der Opposition umgesetzt werden. Und ähnlich wäre es ja auch im Europäischen Parlament. Wenn sie eine Initiative starten, die weder in der Kommission noch im Rat Unterstützung findet, ist das doch eigentlich auch eher, ich sage es mal ein bisschen zugespitzt, eine gehobene Form der Öffentlichkeitsarbeit. Mich würde interessieren, welche anderen Punkte Sie so wichtig halten, dass man dafür diesen ja doch aufwendigen Weg der Vertragsänderung gehen muss?

H.Sch.: Ich sehe zum Beispiel die ganze Frage der sozialen Säule oder die sozialen Pfeiler der Europäischen Union. Die Coronakrise zeigt uns doch, dass Gesundheitspolitik, öffentliche Güter etc. nicht dem Marktwettbewerb unterworfen werden dürfen. Und wir brauchen sozusagen eine Verpflichtung der Europäischen Union zur gesetzlichen Einhaltung und Absicherung der sozialen Qualitäten. Das geben die Verträge nicht her. Die neoliberale, radikale und rigide Wettbewerbspolitik ist festgeschrieben im Lissabon-Vertrag, und da müssen wir ran. Oder nehmen wir die Europäische Zentralbank. Der ganze Diskurs gegenwärtig über Eurobonds zeugt doch davon, dass man nicht will, dass die EZB bestimmte wirtschaftspolitische Steuerungsmechanismen bedienen darf, im Unterschied beispielsweise zur FED in den Vereinigten Staaten. Oder die Flüchtlings- und Migrationspolitik, da stellt sich für mich die Frage, die wir dda nicht mehr Kompetenzen auf die EU-Kompetenz übertragen müssen. Gleiches gilt für die Energiepolitik. Die Energieunion haben wir zwar als schönes Rahmenvorhaben, aber der Energiemix der 27 ist nationalstaatlich organisiert. Und es wird nicht klappen, dass wir in Deutschland den Atomausstieg haben, in Polen aber nicht.

J.v.B.: Aber Sie merken es, Herr Scholz: Was Sie eigentlich wollen, ist ein Kurswechsel der Europäischen Union in eine sehr linke, soziale Richtung. Ich sehe nicht, dass dies in den Mitgliedstaaten und auch in der Bevölkerung mehrheitsfähig ist. Deswegen bin ich so zurückhaltend auch gegenüber Vertragsänderungen. Diese grundsätzliche Richtungsänderung der Europäischen Union, da habe ich auch schlicht und einfach eine andere inhaltliche Vorstellung. Denn die grundsätzlich liberale Orientierung der Europäischen Union halte ich nicht für vollkommen falsch. Man kann sicherlich vielleicht mehr Bereiche der Daseinsvorsorge noch herausnehmen. Auch da gibt es ja durchaus europäische Regulierungen. Es gibt den EuGH, der ja eine ganze Menge Europarecht geschaffen hat, gerade was die Marktmechanismen einreguliert hat. Also ich glaube, die Zukunftskonferenz kann eine interessante Diskussion sein über ganz unterschiedliche Visionen, wie sich die Europäische Union weiterentwickeln kann. Aber auch über diese Grenzen muss dann Klarheit bestehen.

Foto: imago images

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

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