Katastrophenrezept Rassismus

Marco Perolini, Experte für Diskriminierung und Rassismus bei Amnesty International, über strukturellen Rassismus in Zeiten der COVID-19-Pandemie

Foto: © Imago

Die Corona-Krise und die in ihrem Zuge verhängten Lockdown-Maßnahmen offenbaren die Notwendigkeit eines intensiven Blicks nach innen: Die Anordnungen der Regierungen in Europa führten zu mehr Fällen von rechtswidriger Gewaltanwendung durch die Polizei, zur vermehrten Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach ethnischen Kriterien und zu diskriminierender Quarantäne.

Adama Traoré ist seit vier Jahren tot, doch seine Familie kommt nicht zur Ruhe. Am vergangenen Wochenende organisierte sie anlässlich seines Todestages eine Demonstration. Die Familie des jungen Schwarzen fordert Gerechtigkeit – sie will wissen, was mit Adama passierte, warum und unter welchen Umständen er am 19. Juli 2016 in Polizeigewahrsam in Beaumont-sur-Oise im Großraum Paris starb. Denn die bisherigen Ermittlungen haben kein Licht in die dunklen Umstände seines Todes gebracht, insbesondere nicht hinsichtlich der Verantwortung der drei Ordnungskräfte, die ihn damals festnahmen. Klar ist nur: die drei Gendarmen fixierten Adama am Boden, legten ihm Handschellen an und drückten sein Gesicht mehrere Minuten lang nach unten, ehe sie ihn zur Wache brachten, wo er starb. Warum die Gendarmen eine gefährliche Technik zur Festnahme einsetzten – obwohl der Mann unbewaffnet war – ist bis heute ihr Geheimnis.

Die Familie von Rooble Warsame, der am 26. Februar 2019 in Schweinfurt in Polizeigewahrsam starb, hat ebenfalls gerade eine Kampagne gestartet, um Gerechtigkeit zu fordern. Rooble, ein junger Asylsuchender aus Somalia, lebte in einer Asylbewerber_innenunterkunft und hatte dort einen gewaltlosen Konflikt mit einem Bekannten. Der Sicherheitsdienst rief die Polizei, die Rooble festnahm. Nach Angaben der Polizei erhängte sich Rooble zwei Stunden nach seiner Festnahme in der Zelle. Doch der Polizeibericht über den Tod von Rooble überzeugt seine Familie und seine Freund_innen nicht. Sie halten dagegen, dass es unmöglich gewesen sei, dass sich Rooble selbst in seiner Zelle tötete. Außerdem habe Roobles Körper Verletzungen aufgewiesen, die auf einen Kampf schließen ließen.

Die Kämpfe der Familien von Adama und Rooble erinnern daran, dass auch in Europa institutioneller Rassismus häufig die zügige, wirksame und gründliche Untersuchung von Todesfällen in Gewahrsam, Misshandlungen oder anderen Vorkommnisse, in denen Schwarze und People of Color (BPoC) von Diskriminierung, Schikane und Gewalt betroffen sind, behindert.

Die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach ethnischen Kriterien (das sogenannte Racial Profiling), rechtswidrige Gewaltanwendung, Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen sowie Tod in Gewahrsam sind einige der strukturellen Probleme bei den Strafverfolgungsbehörden in Europa. So sind zum Beispiel 2019 in Frankreich 23 Menschen in Gewahrsam oder infolge des Kontakts mit der Polizei umgekommen. In Deutschland sind seit 1990 mindestens 159 BPoC in Polizeigewahrsam gestorben.

Institutioneller Rassismus

Rassistische Voreingenommenheit bei den Strafverfolgungsbehörden und die Sorge über institutionellen Rassismus sind nicht neu. Amnesty International beleuchtete schon 2016 in einem Bericht, dass institutioneller Rassismus verhindert haben könnte, dass die deutschen Behörden das diskriminierende Tatmotiv bei einer Mordserie untersuchten, die die extrem rechte Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in den Jahren 2000 bis 2007 beging.

Die COVID-19-Pandemie und die erzwungene Durchsetzung des Lockdowns haben gezeigt, wie allgegenwärtig rassistische Vorbehalte und wie berechtigt die Befürchtungen über institutionellen Rassismus sind. Die Einschränkungen in Europa haben die bestehenden menschenrechtlichen Bedenken verschärft. Ethnische Minderheiten und andere marginalisierte Gruppen, darunter auch Menschen ohne Wohnung, zahlen den Preis. Sie werden nicht nur von der Polizei misshandelt, sondern erleben auch Zwangsräumungen und diskriminierende Quarantänen.

Junge Menschen aus ethnischen Minderheiten in den Armenvierteln europäischer Großstädte werden häufig diskriminierend von der Polizei kontrolliert. Nach Angaben der London Metropolitan Police haben sich die Kontrollen nach ethnischen Kriterien während des Lockdowns in London noch verschärft. Die Zahl der Schwarzen Menschen, die durchsucht wurden, ist zwischen März und April 2020 um fast ein Drittel gestiegen.

Ärmere Gegenden im Visier

Wir wissen, dass in Frankreich mehr BPoC angehalten wurden, weil die Polizei ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf ärmere Gegenden richtete, in denen der Anteil an Menschen aus Minderheitengruppen höher ist. Im Département Seine-Saint-Denis, der ärmsten Gegend des französischen Festlands, in der hauptsächlich Schwarze Menschen bzw. Menschen aus Nordafrika leben, wurden dreimal so viele Geldstrafen wegen Lockdown-Verstößen verhängt wie im Rest des Landes, obwohl dort laut Angaben der Kommunalbehörden nicht stärker gegen die Regeln verstoßen wurde als anderswo.

Solch ein Racial Profiling untergräbt das Vertrauen in die Polizei und könnte erklären, warum Adil, ein junger, aus Nordafrika stammender Mann, am 14. April in Anderlecht in Brüssel vor der Polizei flüchtete, um einer Ausweiskontrolle zu entgehen. Die Polizei verhängte Geldstrafen in Höhe von 250 Euro gegen junge Leute, die gegen die Lockdown-Maßnahmen verstießen. In Belgien wurden bereits vor der Verhängung Menschen mit nordafrikanischer Abstammung in der Regel doppelt so oft angehalten und durchsucht wie Weiße.

Adil starb auf tragische Weise, nachdem ihn drei Polizeiwagen verfolgt hatten und sein Motorroller mit einem Polizeifahrzeug zusammenstieß. Während nun eine Untersuchung über die Umstände von Adils Tod begonnen hat, kam die Frage auf, ob es eine angemessene Reaktion war, einen jungen unbewaffneten Mann, der keine Straftat begangen hatte, wegen des Verstoßes gegen die Lockdown-Vorschriften in dieser Form zu verfolgen.

Marginalisierung verstärkt

Auch die erzwungene Quarantäne in Roma-Siedlungen und Migrant_innenlagern zeigen europaweit klare rassistische Stereotype und eine fest verwurzelte Diskriminierung. Statt diese marginalisierten Gruppen vor COVID-19 zu schützen und sie dabei zu unterstützen, freiwillig den erforderlichen gesundheitlichen Maßnahmen nachzukommen, haben die Behörden sie weiter isoliert und bestraft. Die Polizei und in einigen Fällen sogar die Armee haben Lager und Siedlungen umstellt, um verhängte Quarantänemaßnahmen durchzusetzen. Dieses Vorgehen macht die Verachtung deutlich, die diesen marginalisierten Gruppen entgegengebracht wird, die ohnehin schon Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren und behandelt werden, als würden ihre Leben den Menschen an der Macht nichts bedeuten.

Am 16. April 2020 wurde eine Reinigungskraft, die in einer Gemeinschaftsunterkunft in Hennigsdorf in Brandenburg arbeitete, positiv auf das Coronavirus getestet. Weitere Tests fielen bei 68 der über 400 Geflüchteten in dieser Unterkunft positiv aus. Die Behörden stellten daraufhin zügig die ganze Einrichtung unter Quarantäne. Zwar konnten einige Geflüchtete die Einrichtung nach zwei Wochen wieder verlassen, doch mussten sie dafür ein grünes Armband tragen, das viele als stigmatisierend empfanden. Die Behörden stellten einige der Gebäude für mehr als fünf Wochen unter Quarantäne. Währenddessen kritisierten die Geflüchteten den Mangel an Gesichtsschutzmasken und Desinfektionsmittel und die Tatsache, dass die positiv Getesteten nicht von den anderen getrennt wurden. Die Behörden waren deutlich besser bei der Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen zur Kontrolle von Geflüchteten: Überwachungskameras in den Fluren, private Sicherheitsleute und Polizei vor dem Eingang der Gemeinschaftsunterkunft.

Die Gesundheit der Öffentlichkeit sicherzustellen, mag bestimmte Einschränkungen der Menschenrechte rechtfertigen, wenn diese notwendig und verhältnismäßig sind. Doch die Art und Weise, in der viele europäische Regierungen sich auf die Sicherheitskräfte verlassen haben, um die Einschränkungen durchzusetzen, ist ein Katastrophenrezept. Dieses Vorgehen hat häufig dazu geführt, das marginalisierte Gruppen unverhältnismäßig oft betroffen waren oder sogar bewusst auf diskriminierende Art ins Visier genommen wurden.

Die Zwangsvorgaben, die die europäischen Länder zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie eingesetzt haben, führten zu mehr Fällen von rechtswidriger Gewaltanwendung durch die Polizei, zur vermehrten Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach ethnischen Kriterien und diskriminierenden Quarantänen. Diese Herangehensweise hat ein weiteres Mal einen Tribut unter den marginalisierten Gruppen gefordert.

Gesundheitsschutz nicht auf Kosten der Menschenrechte

Die BlackLivesMatter-Proteste in der ganzen Welt zwingen uns alle, über Alternativen zu rassistischen und erzwungenen Formen der polizeilichen Kontrolle nachzudenken. Wir können nicht immer wieder dasselbe tun und andere Ergebnisse erwarten. Was also zeigt uns COVID-19? Dass die öffentliche Gesundheit nicht auf Kosten der Menschenrechte herbeigeführt werden darf. Die Zwangsvorgaben während der Pandemie und die BlackLivesMatter-Proteste machen auch die Notwendigkeit deutlich, den institutionellen Rassismus in den Strafverfolgungsbehörden anzugehen. Ohne einen genauen Blick auf die Mechanismen, die zu der unfairen Behandlung von BPoC führen, wird die Forderung nach Gerechtigkeit der Familien von Adama Traoré und Rooble Warsame sowie der vielen weiteren Schwarzen Menschen und People of Color, die in Gewahrsam gestorben sind, unerfüllt bleiben.

Ein Artikel von Marco Perolini

Marco Perolini

Marco Perolini ist Westeuropa-Experte bei Amnesty International. Er forscht vor allem zu Diskriminierung und zur Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger_innen in Europa. Zudem promoviert er aktuell am Goldsmiths College, University of London.

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