„Die Kollektivrechte müssen gestärkt werden“

Wie kann mehr soziale Gerechtigkeit in der EU erreicht werden? – das vierte Event im Rahmen der Online-Reihe „Zukunft Europa“

Kaum gewerkschaftliche Vertretung gibt es u.a. bei Lieferdiensten. © imago images

Kernthesen und Forderungen im Überblick:

Tomáš Pavelka:

  • Die Wirtschaft der tschechischen Republik nach der Revolution basierte auf dem Prinzip niedriger Löhne/niedriger Kosten.
  • Profitiert haben davon die Unternehmen, viel Dividende floss/fließt ins Ausland.
  • In den vergangenen Jahren haben sich die Gewerkschaften in Kampagnen, zum Teil erfolgreich, dagegen gewehrt.
  • Der derzeitige Wechselkurs Euro/tschechische Kronen ist ungünstig für das heimische Wirtschaftswachstum.
  • Der Anteil – billiger – ausländischer Kräfte am tschechischen Arbeitsmarkt ist hoch und problematisch für den Kampf gegen niedrige Löhne.
  • Die physische Produktivität dagegen ist vergleichbar mit anderen Industrie- und EU-Staaten, nicht aber die finanzielle Produktivität, die deutlicher niedriger ist.

Özlem Demirel:

  • Sozialpolitik ist in der Grundkonstruktion der EU praktisch kaum angelegt. Es wurden dazu keine Standards festgesetzt.
  • Stattdessen wird die EU von neoliberalem Denken und Handeln bestimmt.
  • In einigen EU-Ländern geht die soziale Spirale nach unten.
  • Die Dominanz der deutschen Wirtschaft ist ein zusätzliches Problem.
    Der Kommissionsvorschlag für faire Mindestlöhne in den europäischen Ländern sollte EU-weite, klare Untergrenzen enthalten, die niemand unterschreiten dürfe. Diese müssen mindestens bei 60 Prozent des Median-Einkommens und bei 50% des Durchschnittseinkommens liegen, wie auch vom europäischen Gewerkschaftsbund gefordert.
  • Kollektivrechte müssen EU-weit gestärkt werden, eine stärkere Tarifbindung ist nötig.

Allgemeine Diskussion:

  • Es muss in der Debatte nicht nur um den Mindestlohn gehen, sondern um die europaweite Einführung genereller sozialer Mindeststandards.
  • Eine starke europäische Arbeitsbehörde ist nötig.
  • Die EU muss klare Standards setzen.

 

Eine EU der offenen Grenzen, Mobilität und Freizügigkeit – das ist die eine, die wünschenswerte Seite. Doch im europäischen Alltag steht dem oft ein erhebliches soziales und wirtschaftliches Ungleichgewicht der einzelnen Länder entgegen. Dass es mehr soziale Gerechtigkeit in der EU geben muss, steht daher außer Frage. Aber wie soll diese aussehen? Und wie kann sie erreicht werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt der vierten Veranstaltung der Reihe „Zukunft Europa“ mit Özlem Demirel, Abgeordnete im Europäischen Parlament für DIE LINKE und Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, und Tomáš Pavelka vom Böhmisch-mährischen Gewerkschaftsbund (ČMKOS) als Hauptreferent*innen.

Zum Auftakt beschrieb Europaparlamentarier Helmut Scholz noch einmal das Grundmotiv für die Veranstaltungsreihe: „Wir können als Linke nicht darauf warten, wann und ob die angekündigte europäische Zukunftskonferenz unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger startet“, so Scholz. „Wir müssen schon mal damit anfangen.“ Dabei gehe es vor allem darum, beispielhaft zu diskutieren, was in einzelnen Politikbereichen funktioniert und was nicht. Bezogen auf das Thema des Abends bedeute das nicht, alle Einzelaspekte zu diskutieren („das wäre wohl nicht zu schaffen“), sondern zu schauen, wo anders gesteuert werden müsse und gegebenenfalls auch EU-Verträge modifiziert werden müssten.

Linke Forderungen über Jahre blockiert

Moderatorin Gabi Zimmer, ehemalige Fraktionsvorsitzende der GUE/NGL, die in dieser Eigenschaft selbst schwerpunktmäßig zu sozialpolitischen Themen gearbeitet hatte, konnte eine gewissen Verwunderung über die gegenwärtige Situation nicht verhehlen. „Ich reibe mir wirklich manchmal die Augen“, so Zimmer. „Viele unserer Forderungen wurden über Jahre hinweg blockiert. Jetzt aber gibt es mit Blick auf Corona deutliche Verschiebungen.“ Als Beispiel nannte sie den Vorschlag der EU-Kommission von Ende Oktober, eine Richtlinie zu beschließen, mit der sichergestellt werden soll, dass Arbeitnehmer*innen in der Union durch angemessene Mindestlöhne geschützt werden, die ihnen am Ort ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen. Zimmer: „Das wäre noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen.“ Insofern gebe es vielleicht für linke Akteur*innen mit Blick auf die EU-Sozialpolitik nun neue Spielräume. Das jedoch sahen im Laufe der folgenden Diskussion nicht alle Redner*innen so.

Tomáš Pavelka vom Böhmisch-mährischen Gewerkschaftsbund beschrieb in einer detaillierten und mit reichlich Zahlenmaterial bestückten Präsentation die Lohn- und Einkommenssituation in seiner Heimat, der Tschechischen Republik. Der durchschnittliche Stundenlohn sei nach der Revolution sehr niedrig gewesen und blieb auch letztes Jahr mit umgerechnet 13,50 Euro auf einem sehr niedrigen Niveau. Zwar habe sich die Situation in den vergangenen Jahren verbessert, „auch dank der Kampagnen von Seiten der Gewerkschaften“. Allerdings befördere der ungünstige Wechselkurs zwischen der tschechischen Krone und dem Euro die Niedriglohnwirtschaft und trage nicht zu langfristigem Wirtschaftswachstum bei. Auch hier müsse es zu deutlichen Verbesserungen kommen. Profitiert hingegen hätten von der „low-wage/low-cost policy“ der Vergangenheit die Unternehmen. So machten die Dividenden, die ins Ausland flossen, einen großen Teil des Bruttoinlandsproduktes aus – rund 300 Milliarden tschechische Kronen.

Ein anderes Problemfeld ist nach Aussage von Pavelka der hohe Anteil ausländischer und schlecht bezahlter Arbeitskräfte am Gesamtarbeitsmarkt in Tschechien – viele von ihnen aus der Ukraine, Slowakei, Vietnam, der Ukraine oder Polen. Sie stellen rund 12 Prozent der Arbeitskräfte. „Ich bin nicht gegen diese Menschen“, so Pavelka. Es brauche gleiche Löhne und gerechte Arbeitsbedingungen anstatt einer Niedriglohnkonkurrenz, die den Kampf der Gewerkschaften um höhere Löhne im Land erschwert. Erstaunlich vor diesem Hintergrund allerdings ist nach Worten Pavelkas, dass die physische Produktivität der Tschechischen Republik durchaus vergleichbar mit anderen EU-Staaten sei, sogar mit Deutschland, aber nicht die finanzielle Produktivität. „Wenn wir etwa Škoda und VW vergleichen, sehen wir, dass sie ähnlich viele Einheiten in der gleichen Zeit produzieren.“

Dennoch führe der Mix aus billigen Arbeitskräften und einem schwachen Wechselkurs in einen Teufelskreis. Denn dadurch komme es zu technologischer Rückständigkeit, einem geringeren Produktions- und Mehrwert, was wiederum erneut zu niedrigen Löhnen führe. Ein bisschen offen ließ Pavelka, welche Forderungen er aus dieser detaillierten Analyse der Situation in seiner Heimat für die künftige Sozialpolitik der EU ableitet.

Die zweite Referentin des Abends, Özlem Demirel, Abgeordnete im Europäischen Parlament für DIE LINKE und Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, ging die Diskussion etwas grundsätzlicher an. „Die Frage ist doch, wie viel Sozialpolitik gibt es in der EU“, so Demirel. „Die Antwort lautet: In der Geschichte und Konstruktion der Europäischen Union ist sie praktisch kaum vorhanden. Soziale Standards für Europa wurden nicht festgelegt.“ Stattdessen sei die Priorität auf den Aufbau des Binnenmarktes gelegt worden und auf die Wirtschaftspolitik – allerdings nicht zum Wohle aller. Demirel: „Es ging im neoliberalen Sinne um Öffnung der Märkte, den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften.“ Jetzt dagegen „müssen wir es schaffen, dass soziale Rechte übergeordnet sind“. Zur Frage, ob die Pandemie und dadurch erfolgte politische Verschiebungen, wie von Gabi Zimmer beschrieben, wirklich neue sozialpolitische Chancen eröffnen, warb Demirel für eine differenzierte Auseinandersetzung. Man dürfe nicht vergessen, dass die Pandemie gerne als Vorwand genutzt werde, nicht aber Ursache eines Sinneswandels ist. Die Versuche Frankreichs und Deutschlands, Widersprüche im Binnenmarkt zu überwinden, zielten auch darauf ab, außenpolitisch gestärkt auftreten zu können. Zudem beobachtet sie „wenn auch nicht in allen, aber doch in einigen EU-Ländern“ eine soziale Spirale nach unten. Auch die Dominanz der deutschen Wirtschaft stelle ein Problem dar und verschärfe bestehende Ungleichheiten.

Mindestlöhne mit Untergrenzen

Demirel wies darauf hin, dass in der EU immer noch 95 Millionen Menschen arm sind; 20 Millionen seien von Armut bedroht und könnten von ihrer Arbeit nicht leben. Demirel: „Das ist immerhin jede*r zehnte abhängig Beschäftigte!“ Positiver sei das Bild immer da, wo es starke Gewerkschaften gibt, etwa in den skandinavischen Ländern. Aber gerade der Einfluss der Gewerkschaften sei auch bedroht. Zwar stelle offiziell niemand deren Existenzrecht in Frage, doch real würden sie geschwächt. Demirel: „Die Kollektivrechte in der EU müssen deutlich gestärkt werden.“

Mit Blick auf den Kommissionsvorschlag für faire Mindestlöhne in den europäischen Ländern forderte sie, EU-weite, klare Untergrenzen festzulegen, die niemand unterschreiten dürfe. Diese müssten mindestens bei 60 Prozent des Median-Einkommens und bei 50% des Durchschnittseinkommens liegen, wie es auch der europäische Gewerkschaftsbund fordert. Sie betonte, dass es auf der einen Seite klare Mindeststandards und Sicherungssysteme wie etwa ein Mindesteinkommen und eine Mindestrente geben muss und gleichzeitig starke Gewerkschaften und eine stärkere Tarifbindung. Mitdiskutant Pavelka zeigte sich bei der Frage, ob und was die Gewerkschaften tun können, um den Mindestlohn voran zu bringen, zögerlich. Die Verhandlungspositionen seien vielerorts schwach. In der Tschechischen Republik beispielsweise unterlaufe die neue Lage durch Covid-19 gewerkschaftliche Bemühungen. Pavelka: „Die Regierung sagt, die Unternehmen haben jetzt so viele Probleme, da können sie nicht auch noch die Löhne erhöhen.“

In der anschließenden, kurzen Debatte mit dem Publikum wurde erneut deutlich, dass in der Frage nach EU-weiten Mindestlöhnen durchaus unterschiedliche Ansichten herrschen. So sei fraglich, in welcher Höhe überhaupt Untergrenzen festgelegt werden könnten, solange die wirtschaftlichen Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten so unterschiedlich sind. Dazu kommt, dass die skandinavischen Gewerkschaften EU-weiten Regelungen mit Blick auf ihre heimischen, noch vergleichbar hohen, Sozialstandards skeptisch gegenüberstehen. Zu groß ist die Sorge, dass EU-weite Vorgaben die Tür zum Unterlaufen der nordischen Sozialmodelle öffnen. Eine Teilnehmerin wies allerdings darauf hin, dass es bei der Debatte um eine gerechtere EU-Sozialpolitik ja nicht ausschließlich um den Mindestlohn gehe, sondern um zahlreiche weitere soziale Mindeststandards. Sie forderte eine starke europäische Arbeitsbehörde. Einig war man sich am Schluss wohl darüber, dass die EU in Sachen Sozialstandards eine starke Position vertreten und eigene Marker setzen muss. Oder, wie Gabi Zimmer es abschließend ausdrückte: „Vieles an der EU ist nicht gut, aber ohne sie geht es auch nicht.“

Ein Artikel von Monika Hoegen

Monika Hoegen

Monika Hoegen ist Journalistin, PR-Coach und  Moderatorin in Brüssel. Sie berichtet über die Webinar-Reihe der Delegation DIE LINKE im Europaparlament und des Büros Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur EU-Zukunftskonferenz. www.monika-hoegen.de

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