Der Rechtsruck kommt in Brüssel an

Die Migrationspolitik der EU als Spiegel der politischen Entwicklungen in ihren Mitgliedsstaaten

© Pixabay

Am Mittwoch stehen im Bundestag harte Debatten und Abstimmungen über eine verschärfte Migrationspolitik an. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat angekündigt, eine Unterstützung der AfD für seinen Antrag in Kauf zu nehmen.

Die Migrationsdebatte wird auch auf europäischer Ebene immer stärker von Rechtsaußen-Parteien geprägt. Dabei gab es zumindest im Europaparlament durchaus Ansätze zur Humanisierung der Migrationspolitik, wie Jürgen Klute, früherer Europaabgeordneter der Linken, beschreibt.

Das Europäische Parlament (EP) stellt klare Forderungen an den Rat der EU in Bezug auf eine Reform der EU-Flüchtlingspolitik. Die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge solle zu einer Kernaufgabe der Grenzüberwachung gemacht werden. In die Neuverordnung für gemeinsame Frontex-Einsätze auf See sollen verbindliche Regeln zur Seenotrettung aufgenommen werden. Alle europäischen und nationalen Gesetze, die die Rettung von Flüchtlingen in Seenot unter Strafe stellen, sollen reformiert werden. Weiterhin wurden Verfahren für eine gerechte und proportionale Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Mitgliedsstaaten eingefordert, um die südeuropäischen Staaten zu entlasten. Auch sollen Flüchtlinge nicht mehr in Aufnahmeländer zurück geschickt werden dürfen, wenn deren Asylsystem überlastet ist. Darüber hinaus forderte das Europaparlament einen fairen Zugang zum europäischen Asylsystem und die Entwicklung legaler Zugangsmöglichkeiten im Rahmen der Migration von Arbeitskräften.

Wer die migrationspolitischen Debatten auf EU-Ebene in 2024 verfolgt hat, wird sich angesichts dieser Forderungen die Augen reiben und sich fragen, ob er etwas verschlafen hat. Die einleitenden Sätze beschreiben tatsächlich Forderungen des EP – aber nicht aus dem Jahr 2024, sondern aus einer Resolution, die am 23.10.2013 mit großer Mehrheit vom EP angenommen wurde (https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-7-2013-0448_DE.html) – drei Wochen nach dem Untergang eines Flüchtlingsbootes vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, bei dem 360 Menschen ertranken.

Ein Jahr später, am 2.10.2014, einen Tag vor dem 1. Jahrestag der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa, veröffentlichte die damalige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström eine Stellungnahme, in der sie erklärte: „Die Bilder von Lampdusa sind noch immer in meinem Kopf. Sie sind eine schreckliche Erinnerung daran, dass wir danach streben müssen, dass Europa offen bleibt für jene, die Schutz suchen“. […] „Ich will sehr klar sein – wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht, ist die Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten noch weitgehend inexistent. Das ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für die Zukunft.“

Anfang 2025 muss man sagen: Die EU ist der von Malmström skizzierten Herausforderung nicht gerecht geworden – weder im Blick auf die Solidarität unter den EU-Mitgliedsstaaten noch im Blick auf Flüchtlinge.

Elf Jahre nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa ertrinken noch immer Tausende von Migranten im Mittelmeer. Die EU akzeptiert illegale Pushbacks. Sie finanziert nordafrikanische Staaten dafür, dass sie Migranten an der Überfahrt nach Europa hindern – unter Inkaufnahme massiver Menschenrechtsverletzungen. Auffanglager für Asylsuchende sollen auch außerhalb der EU errichtet werden – man will möglichst verhindern, dass Asylsuchende EU-Territorium betreten.

Ganz vorne dabei die deutsche Bundesregierung unter SPD-Führung: Sie stützt eine Verschärfung der EU-Migrationspolitik und führt rechtswidrig Grenzkontrollen zur Abwehr von Migranten ein und setzt damit AfD-Forderungen um – gegen massiven Protest aus Luxemburg. Statt gemäß ihres Amtseides Rechtsstaat und Menschenrechte zu verteidigen, spalten Regierungen mit solchem Vorgehen Gesellschaften, indem sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausspielen, statt Konflikte zu deesakalieren und aufzulösen, wie es der niederländische Schriftsteller Ilja L. Pfeijffer kürzlich in seinem Essay „So läuft es, wenn die Rechtsextremen die Regierung eines Landes übernehmen“ präzise analysierte (https://europa.blog/de/so-laeuft-es-wenn-die-rechtsextremen-die-regierung-eines-landes-bestimmen/ ). Nur Spanien mach derzeit eine Ausnahme und kehrt bezüglich der Arbeitsmigration in begrenztem Umfang zum Modell der zirkulären Migration zurück – im Blick auf Arbeitsmigration eine sinnvolle Lösung ist.

Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

Die Europäische Union ist ein Spiegel ihrer Mitgliedsländer. Mit einiger Zeitverzögerung kommt der Rechtsruck in den Mitgliedsländern auch in Brüssel und Straßburg an. Die Anzahl rechtsextremer Regierungen im Rat der EU hat zugenommen – sie nominieren die EU-Kommissionskandidatinnen, die dann vom EP gewählt werden. Seit der Europawahl im Juni 2024 sind deutlich mehr rechtsextreme Abgeordnete im EP vertreten als je zuvor. Die deutschen MdEP werden von ihren Parteien und Regierungsmitgliedern gedrängt, für eine stärker Abschottung der EU zu stimmen – in der Hoffnung, der AfD damit Stimmen abzujagen, obgleich es wissenschaftliche ausreichend belegt ist, dass diese Strategie rechte Parteien stärkt.

Erst wenn es der gesellschaftlichen Linken in den Mitgliedsstaaten wieder gelingt, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat als selbstverständliche und unhinterfragbare Grundlagen eines friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens und eines menschenwürdigen Lebens für jeden und jede konsensfähig zu machen, wird sich die EU-Migrationspolitik erneut in die Richtung entwickeln, die das Europaparlament vor 11 Jahren forderte.

Ein Artikel von Jürgen Klute

Jürgen Klute

Jürgen Klute ist Theologe und Europapolitiker. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des EU-Parlaments (Delegation DIE LINKE). Jürgen Klute betreibt die Internetseite europa.blog. Er publiziert insbesondere zu Themen wie linke Kräfte in Europa und zur Rechtsentwicklung in der EU. (Foto: © Uli Winkler)

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