„Boris Johnson spielt mit der Angst vor dem No-Deal“

Die Europaabgeordnete der Grünen Anna Cavazzini zu den Post-Brexit-Verhandlungen, zu Steueroasen und einer Blaupause für EU-Handelsverträge

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Ein Interview mit Anna Cavazzini — das Gespräch führte Uwe Sattler

Anna Cavazzini

Anna Cavazzini ist seit 2019 Europaabgeordnete der Grünen. Sie ist Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz und u.a. stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel.

Die Post-Brexit-Verhandlungen sind auf der Ebene von Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen angelangt. Beide haben kürzlich direkt miteinander gesprochen. Ist das für Sie ein gutes oder schlechtes Zeichen?

Es war eher ein schlechtes Zeichen, dass es ein High Level Meeting gebraucht hat, um Schwung in die Verhandlungen zu bringen und um Blockaden aufzulösen. Aber leider hat auch dieses Gespräch nicht den erwünschten Durchbruch gebracht. Es wurde konstatiert, dass beide Seiten unterschiedliche Positionen haben und die Verhandlungen intensiviert werden sollten. Mehr nicht.

Das Europaparlament hat vor wenigen Tagen eine Resolution zu den Verhandlungen verabschiedet. Nach vier Verhandlungsrunden habe es »keine wirklichen Fortschritte gegeben«, heißt es darin«. Wo klemmt es?

Die Gespräche zwischen EU und Vereinigtem Königreich laufen tatsächlich viel schlechter, als alle erwartet hatten. Das liegt vor allem daran, dass Boris Johnson sogar hinter bereits vereinbarte Entscheidungen zurückfällt, wie die politische Erklärung zum Austrittsabkommen. London will einfach Rosinenpickerei betreiben und sich nur das Beste aus allen möglichen Bereichen heraussuchen. Wir als Europaparlamentarier sind aber der Meinung, dass es beispielsweise einen weitgehenden Zugang für Großbritannien zum EU-Binnenmarkt nur mit einem sogenannten level playing field geben kann, also mit gleichen Wettbewerbsbedingungen. Das betrifft unter anderem Staatsbeihilfen, mit denen britische Unternehmen nicht in eine bessere Konkurrenzsituation gebracht werden dürfen. Aber vor allem geht es um Umwelt- und Sozialstandards sowie Klimaschutz, die in Großbritannien nicht unter das bisherige EU-Niveau fallen dürfen. Denn das wäre nicht nur eine Wettbewerbsverzerrung, sondern hätte insgesamt gravierende ökologische, sozialpolitische und arbeitsschutzrechtliche Auswirkungen – im negativen Sinne.

Die EU-Austrittsgespräche sind mehrfach verlängert worden; die Post-Brexit-Verhandlungen sollen bis Jahresende abgeschlossen sein. Danach sieht es derzeit nicht aus.

Ja, man hat wirklich so ein Déjà-vu, weil wir schon einmal in der Situation waren, dass sich ein No-Deal-Szenario abzeichnete. Es ist völlig offen, ob es zu einem Abkommen kommt. Am Dienstag läuft zudem die Frist ab, in der London eine Verlängerung der Gespräche beantragen könnte. Und das Vereinigte Königreich hat schon erklärt, dass sie keine Verlängerung beantragen. Ich habe aber auch das Gefühl, dass Johnson die Angst vor einem No-Deal hier auf dem Kontinent als Erpressungsstrategie nutzt, um doch mehr von den britischen Positionen durchsetzen zu können.

Das EU-Parlament dagegen malt die Entstehung einer Steueroase auf der Insel an die Wand. Das klingt auch etwas nach Taktik.

Naja, es gab aus Großbritannien schon Stimmen, die faktisch damit gedroht haben, mit geringeren Steuern Unternehmen und Kapital anzulocken. Das ist aber genau das, was wir nicht wollen, was das gesamte Parlament auch mit einer überwältigenden Mehrheit gesagt hat. Die Gefahr ist schon real.

Ist das nicht etwas doppelzüngig? Schließlich wird in Luxemburg auch eine, sagen wir sehr kreative Steuerpolitik betrieben.

Ich glaube, in dem Maße, wie in Luxemburg Steuerpolitik betrieben wird, wird das im Vereinigten Königreich auch weiterhin möglich sein. Selbst wenn man wirklich ein umfassendes Partnerschaftsabkommen hat. Steuerdumping werden wir nicht ganz verhindern können, weder in Großbritannien noch in Luxemburg, da brauchen wir in der EU ganz andere Standards. Das fordern wir Grüne schon seit langem.

Sie sind Handelsexpertin und sagen, dass das entsprechende Kapitel im EU-UK-Abkommen das progressivste ist, das Sie in einem Handelsmandat der EU gesehen haben.

Das ist in der Tat so. Beispielsweise ist der Klimaschutz als grundlegendes Element verankert, das gab es bislang noch nie. Oder dass starke Umsetzungsmechanismen für das level playing field, also auch der Umwelt und sozialen Standards, vorgesehen sind, auch das ist neu. Die offizielle Verlautbarung der Europäischen Kommission ist, dass solche Vorgaben in alle Abkommen aufgenommen werden sollen, die neu verhandelt werden. Ich glaube aber auch, dass man das Mandat für die laufenden Verhandlungen, wie mit Mercosur oder Australien und Neuseeland, auch entsprechend ändern müsste. Auf jeden Fall könnte das Handelskapitel als Blaupause für künftige Abkommen dienen, dahinter kann die EU-Kommission nicht mehr zurückfallen.

Die Handelsfragen stellen einen Schwerpunkt in der Parlamentsresolution dar. Insgesamt wirkt das Papier sehr wirtschaftslastig. Sind die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger etwas ins Hintertreffen geraten?

Nein. In einem Abkommen muss es auf jeden Fall auch um die Rechte von Menschen und um die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen gehen. Zum Beispiel die Beteiligung Großbritanniens an Forschung und am Hochschulaustausch, um das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgerinnen und Bürgern in Großbritannien und umgekehrt, um die Sicherung von Pensions- und Rentenansprüchen, um die Personenfreizügigkeit und, und, und … Das wollen wir auf keinen Fall von den wirtschaftlichen Aspekten abkoppeln. Deshalb sind wir auch dafür, dass es ein Abkommen geben muss, das alle Aspekte erfasst, und nicht verschiedenste sektorale Verträge, wie das London favorisiert.

Das Europaparlament hatte in den vergangenen Jahren stets kritisiert, dass die Brexit-Verhandlungen intransparent laufen. Ist das heute, bei den Post-Brexit-Gesprächen, besser geworden?

Die »Architektur«, um das Parlament einzubinden, ist besser als bei anderen Abkommen. Es gibt noch immer die Brexit Steering Group, in der alle Fraktionen vertreten sind und regelmäßig über den Fortgang der Verhandlungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich informiert werden. Das Verhandlungsmandat wurde von Beginn an veröffentlicht. Trotzdem fordere ich für zukünftige Handelsabkommen: Das Parlament muss auch bei der Erstellung des Mandats mitreden können. Denn nur so können wir die Verhandlungen von Beginn an wirklich beeinflussen und nicht nur am Ende ‚ja« oder »nein« sagen.

Ein Artikel von Uwe Sattler

Uwe Sattler

Uwe Sattler ist Herausgeber von „die-zukunft.eu“ und inhaltlich für die Plattform verantwortlich. Der Journalist gehört zudem der Redaktionsleitung der Tageszeitung „nd.DerTag"/"nd.DieWoche" an.

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